1 Das Positive erkennen
»Erkennen heißt:
Alle Dinge zu unserem Besten
zu verstehen.«
Friedrich Nietzsche
Szene 1 Die Morgensonne strömt durch Ihr Schlafzimmerfenster und weckt Sie aus Ihrem unruhigen Schlaf. Nach vielen grauen und regnerischen Tagen freuen Sie sich über den blauen Himmel – doch da fällt Ihnen plötzlich auf, dass Ihr Wecker überhaupt nicht geklingelt hat. Sie sind frustriert, denn eigentlich wollten Sie heute früh ein bisschen Zeit für sich selbst haben, bevor die Kinder aufwachen und der hektische Tag beginnt. Doch jetzt ist die Zeit knapp, deshalb verzichten Sie auf die geplante Morgengymnastik und bleiben noch etwas im Bett, um Tagebuch zu führen. Sie schreiben:
»Unglaublich! Ich bekomme es einfach nicht auf die Reihe, mehr auf mich selbst zu achten! Diesmal habe ich vergessen, mir den Wecker zu stellen. Wie soll ich es jemals schaffen, Verantwortung für meinen Alltag (und mein ganzes Leben!) zu übernehmen, wenn ich noch nicht einmal zu dieser einfachen Veränderung in der Lage bin? Ohne Sport komme ich mir wieder den ganzen Tag wie ein träges Faultier vor. Pfui! Ich sollte mich lieber darauf konzentrieren, warum ich dieses Tagebuch eigentlich führe: um mir meiner übergeordneten Ziele bewusst zu werden und sie in meinen Alltag zu integrieren. Allerdings frage ich mich, ob das überhaupt etwas bringt. Vielleicht sollte ich in dieser Zeit lieber länger schlafen. Oder meine dringenden Mails checken oder meine lächerlich lange To-do-Liste abarbeiten. Da fällt mir ein: Ich glaube, die Wasserrechnung ist überfällig! Wo ist die überhaupt?«
Sie legen das Tagebuch beiseite, stehen auf und schalten den Computer ein, um Ihre E-Mails abzufragen. Tatsächlich stellen Sie fest, dass Ihre Kollegin Sharon bis heute Nachmittag noch einige Informationen benötigt, damit sie ein Angebot fertig stellen kann. Sie werden also zumindest einen Teil des Vormittags damit verbringen, Formulare für sie auszufüllen. Sie sind wütend über diese Zumutung und öffnen die nächste E-Mail. Hier erfahren Sie, dass das Projekt, für das Sie sich eingesetzt haben, vorläufig genehmigt wurde und dass Sie 48 Stunden Zeit haben, um noch ein paar letzte Korrekturen anzubringen. »48 Stunden!«, sagen Sie laut. »Soll ich dafür etwa alles andere liegen lassen? Wie soll ich denn das nur schaffen?« Die Nanosekunde der Freude über die gute Nachricht wird durch die Sorge, wie Sie diese letzte Hürde bewältigen sollen, zunichte gemacht.
In diesem Augenblick wacht Ihre kleine, bald vierjährige Tochter auf und ruft nach Ihnen. Wie oft haben Sie der Kleinen nun schon gesagt, dass sie ruhig in ihrem Zimmer warten soll, bis Sie um sieben Uhr hineinkommen, um sie aus dem Bett zu holen. Schon wieder hat sie nicht zugehört! Sie werden immer frustrierter. Viel zu viele Anforderungen, sowohl am Arbeitsplatz als auch zu Hause. Seit der Beförderung bekommen Sie Ihr Leben kaum noch gemeistert, doch dafür scheint niemand Verständnis zu haben. Sie gehen also ins Zimmer ihrer Tochter und schimpfen sie aus, weil sie so früh nach Ihnen gerufen hat. Dann stapfen Sie hinaus, um das Frühstück zu machen.
Der ganze Morgen ist ein verbissener Kampf gegen die Uhr, bei dem es nur Verlierer gibt. Sie wären durchaus rechtzeitig aus dem Haus gewesen, wenn Ihr siebenjähriger Sohn nicht seine Lieblingsschuhe verlegt hätte. Und schon lassen Sie mal wieder eine Ihrer mütterlichen Tiraden los: »Warum kannst du nicht einfach andere Schuhe anziehen? Wenn diese Schuhe dir so wichtig sind, warum gibst du dann nicht besser darauf acht?« Daraufhin rennen alle vier Familienmitglieder – die Kinder, Sie selbst und Ihr Mann – wie die Wilden durchs ganze Haus, um diese dämlichen Schuhe zu finden!
Nachdem Sie die Kinder an der Schule abgesetzt haben – wieder einmal zu spät –, kommen auch Sie endlich im Büro an. Natürlich ebenfalls zu spät. Als Erstes treffen Sie auf Joe, Ihren Mitarbeiter bei dem Projekt, das gerade genehmigt worden ist. Er grinst breit. Manchmal finden Sie Joes gute Laune wunderbar, aber heute macht sein Lächeln Sie misstrauisch. Sie denken: »Der versucht mich doch nur einzuwickeln, damit ich die Korrekturen alle allein vornehme!«
»Hast du die Neuigkeiten schon gehört?«, strahlt er. »Wir kriegen das Geld bewilligt! Jetzt haben wir für den Rest des Jahres ausgesorgt!«
»Ja schon!«, antworten Sie. »Aber hast du die To-do-Liste gesehen? Wir haben für die Überarbeitung nur 48 Stunden Zeit. Und außerdem muss ich mich heute Morgen auch noch mit Sharons Angebot herumschlagen.« Joes Lächeln verblasst, und er braucht einen Augenblick, um sich darüber klar zu werden, wie er auf Ihre negative Art reagieren soll.
Kommt Ihnen das bekannt vor? Dann sind Sie kein Einzelfall. Wir kennen doch alle Gedanken wie diese: »Nichts mache ich richtig. Ich schaffe es einfach nicht, mir die Zeit zu nehmen, die ich brauche. Ich führe ja noch nicht einmal regelmäßig Tagebuch. Ich finde es höchst ärgerlich, dass Sharon mich kurzerhand für ihre Ziele einspannt, ohne überhaupt nachzufragen, ob das in meinen Zeitplan passt. Ich habe keine Ahnung, wie ich meinen Projektvorschlag in 48 Stunden überarbeiten soll. Ich komme mit Joe einfach nicht klar. Ich schaffe es noch nicht einmal, meinen Kindern beizubringen, bis sieben Uhr morgens im Bett zu bleiben. Es vergeht kein Morgen ohne Hektik, Geschrei und Aufregung. Die Kinder sind fast nie rechtzeitig in der Schule, von mir selbst ganz zu schweigen. Und wenn ich nicht pünktlich am Arbeitsplatz bin – wie um alles in der Welt soll ich dann all meinen Aufgaben gerecht werden?«
Negative Gedanken dieser Art machen wir uns alle ab und zu. Sie sind leicht zu identifizieren und können Ihren Alltag ganz schön beeinflussen. Sie durchdringen Ihre Selbstgespräche und Ihr Urteilsvermögen. Sie beeinflussen die Kommunikation mit Ihren Kindern, ebenso wie die mit Ihren Kollegen und machen jeden guten Willen zunichte. Zu allem Übel führt eine ungebremste negative Haltung zu gesundheitsschädlichen Gefühlen – zu Wut, Verachtung, bis hin zu Depressionen –, die letztlich Ihren ganzen Körper beeinträchtigen. Sie spüren geradezu, wie die Bitterkeit in Ihnen brodelt und Ihnen Magenschmerzen verursacht, wie sie Ihren Blutdruck erhöht und Ihre Schulter- und Nackenmuskulatur verhärtet. Selbst die Gesichtsmuskulatur ist chronisch angespannt, weshalb Ihre Mitmenschen Sie möglicherweise meiden. Überdies gehen Sie mit Scheuklappen durchs Leben. Überall finden Sie Fehler und Schuld, aber Lösungen entwickeln Sie keine. Alles ist auf schmerzliche Weise vorhersagbar. Negative Gedanken wirken ebenso schnell wie heftig – wie ein Vorschlaghammer. Und keiner von uns ist dagegen immun.
Don’t worry, be happy?
Doch wie steht es mit positiven Gefühlen? Im Vergleich zur negativen Stimmung ist die positive nur blass und schwach. Sie ist nicht mehr als ein kümmerliches Abbild, sodass wir sie oft kaum wahrnehmen.
Was aber, wenn eine positive Grundhaltung überaus wichtig wäre? Und was bedeutet es überhaupt, eine positive Grundeinstellung zu haben? Klären wir doch erst einmal, was es nicht bedeutet. Es heißt nicht, dass wir – egal was passiert – auf Teufel komm raus lächeln müssen oder uns an dem Lied »Don’t worry, be happy« orientieren sollten. Eine positive Grundeinstellung geht viel tiefer. Sie umfasst eine Vielzahl positiver Gefühle – Wertschätzung, Liebe, Vergnügen, tief empfundene Freude, Hoffnung, Dankbarkeit und vieles mehr. Eine positive Haltung ist zum einen geprägt von einer optimistischen Einstellung, die gute Gefühle und einen offenen Geist fördert, die für ein weiches Herz, einen entspannten Körper und einen sanften Gesichtsausdruck sorgt. Aber sie zeigt auch Langzeitwirkung, denn positive Gefühle wirken sich auf unseren Charakter, auf unsere Beziehungen, auf die Gemeinschaft, in der wir leben, und auf unsere Umgebung aus. Angesichts meiner Wortwahl denken Sie wahrscheinlich unwillkürlich an die Sprüche auf irgendwelchen Grußkarten, die wir alle kennen. Aber eine tief empfundene positive Haltung ist mehr als das: Sie ist für eine Fülle lebenswichtiger Augenblicke im menschlichen Dasein verantwortlich. Seit einiger Zeit befasst sich auch die Wissenschaft mit diesem Phänomen, und die Erkenntnisse über die Bedeutung einer positiven Lebenseinstellung sind verblüffend.
Leise, flüchtige Augenblicke haben viel mehr Einfluss auf Ihr Denken und Empfinden als Sie glauben. Sie verändern Ihren Geist und Ihren Körper und können Ihnen buchstäblich zum bestmöglichen Leben verhelfen.
Schauen wir uns also jetzt eine Wiederholung jener morgendlichen Szene an, diesmal aber unter dem Vorzeichen einer positiven Grundeinstellung. Auch Sie besitzen die Fähigkeit zum positiven Denken, egal wie sehr Sie in Ihrer negativen Sichtweise verankert sind. Während der Lektüre sollten Sie sich also stets vor Augen führen, dass die menschliche Grundhaltung – ob positiv oder negativ – viel mehr ist als nur ein innerer Monolog. Auf sehr subtile Weise durchdringt sie Ihre Vorstellungswelt und Ihre Zukunftserwartungen, ebenso wie den Rhythmus Ihres Herzens und Ihre Körperfunktionen, Ihre Muskelspannung und Ihren Gesichtsausdruck, Ihre Ressourcen und Ihre Beziehungen.
Szene 2 Das Sonnenlicht, das durch die Fenster in Ihr Schlafzimmer scheint, weckt Sie, und Sie fühlen sich erfrischt und ausgeruht. Sie bemerken, dass Ihr Wecker nicht geklingelt hat. Sie sind enttäuscht, weil Sie eigentlich etwas früher hatten aufstehen wollen, um noch etwas Zeit für...