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E-Book

Die Moral des Krieges

Für einen aufgeklärten Pazifismus

AutorWilfried Hinsch
VerlagPiper Verlag
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl272 Seiten
ISBN9783492976008
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis10,99 EUR
Darf man zu den Waffen greifen, um Frieden zu schaffen? Ist der Schutz der Menschenrechte gerechtfertigt - selbst um den Preis, dass dabei Menschen getötet werden? Kaum irgendwo werden diese Fragen so leidenschaftlich diskutiert wie hierzulande. Der moralische Bankrott des Jahres 1945 sitzt den Deutschen tief in den Knochen. Doch die großen Krisenherde der Welt (Syrien, der Terror des »IS« und die Bürgerkriege in Afrika) fordern nicht nur von Politikern neue Antworten. Der Streit um Deutschlands Rolle in der Welt geht quer durch alle Lager. Zwischen den Extremen steht Wilfried Hinschs so kluges wie eindringliches Plädoyer für einen aufgeklärten Pazifismus. Einer der führenden Denker auf dem Gebiet der Moralphilosophie weist damit auf die dringliche, weil universelle Frage: An welchen Werten wollen wir uns als Gesellschaft künftig orientieren?

Prof. Dr. Wilfried Hinsch, geb. 1956 in Hamburg, lehrt Philosophie an der Universität zu Köln. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in der Politischen Philosophie, Moralphilosophie und Sozialtheorie. Er ist Herausgeber des »Handbuchs für politische Philosophie und Sozialphilosophie«. Von 2006 bis 2012 war er Mitglied des Wissenschaftsrates. Er hat das »Ethik Forum Köln« und das »Kölner Wissenschaftsforum« gegründet.

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Leseprobe

Vorwort


»Sie sind ja ein Bellizist«


Dieses Buch hat eine lange Vorgeschichte, die bis in die 1990er-Jahre zurückreicht. Die militärische Intervention unter Führung der Vereinigten Staaten gegen die gewaltsame Besetzung Kuwaits durch den Irak (1990 – 1991), der Bosnienkonflikt (1992 – 1995), der Völkermord an den Tutsi in Ruanda (1994) und die auf Vertreibung und Völkermord zielende serbische Politik unter dem damaligen Präsidenten Slobodan Milosevic im Kosovo führten zu erregten Diskussionen: Dürfen sich deutsche Soldaten an militärischen Maßnahmen zum Schutz von Menschenrechten und zur Sicherung des Friedens beteiligen? Für viele hieß die Antwort damals wie heute klar und deutlich: »Nein.« Niemals könne es zulässig sein, dass Deutschland sich wo immer in der Welt an militärischen Interventionen beteilige.

Während des sogenannten Ersten Irakkrieges, der immerhin durch die Resolution 678 des UN-Sicherheitsrats völkerrechtlich legitimiert war, hingen überall in Deutschland weiße Bettlaken aus den Fenstern, um gegen den US-amerikanischen »Bellizismus« zu protestieren. Ich erinnere mich an eine Freundin, die damals für eine französische Presseagentur arbeitete und alles andere als unreflektiert war. Sie warf mir, weil ich den Krieg gegen den Irak Saddam Husseins zur Befreiung Kuwaits verteidigte, schließlich vor, ein ruchloser Karrierist zu sein, der vor nichts zurückschrecke, um sich auf die Seite der Mächtigen zu schlagen. Ein Vorwurf, der mir alles andere als zutreffend zu sein schien.

Im Umfeld der Kosovo-Intervention von 1999 wiederholten sich ähnliche Diskussionen. Freunde, die in den 1970er-Jahren noch Geld gesammelt hatten, um in Nicaragua die Sandinisten in ihrem Befreiungskampf gegen das Unrechtsregime von Somoza zu unterstützen, betrachteten nun offenbar die staatliche Souveränität Serbiens als einen höchsten unverletzlichen Wert. Und der UN-Sicherheitsrat, der diese Intervention nur aufgrund des Widerstands Russlands und Chinas nicht durch eine Resolution autorisierte, galt ihnen als moralisch letzte Instanz, wenn es um den Einsatz militärischer Gewalt zum Schutz grundlegender Menschenrechte geht. Mir erscheint dies bis heute moralisch und intellektuell unbegreiflich.

Wenn Menschenrechte wie das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person tatsächlich höchste ethische Werte sind, so meine Überzeugung, dann muss es zumindest prinzipiell auch zulässig sein, sie nötigenfalls mit Waffengewalt zu schützen – selbst dann, wenn dies mit Opfern und hohen Kosten verbunden ist. Warum das so ist, versucht dieses Buch zu erklären. Dabei werden die offenkundigen Tatsachen keineswegs bestritten. So fordern militärische Interventionen und Kriege in den allermeisten Fällen viel zu viele Opfer und verschlingen Ressourcen, die anderweitig zur Armutsbekämpfung oder zur weltweiten Gesundheitsfürsorge besser eingesetzt werden könnten. In vielen Fällen erscheint es zudem unwahrscheinlich, dass selbst begrenzte und an sich untadelige Interventionsziele mit Waffengewalt erreicht werden. Die Lage in Afghanistan und religiöse Bürgerkriege im Nahen Osten zeigen die kaum überschaubare Komplexität der sogenannten neuen Kriege und lassen Zweifel aufkommen, ob es überhaupt möglich ist, sie durch gewaltsame internationale Interventionen zu beenden und einem gerechten Frieden auch nur näher zu kommen.

Dies ändert jedoch nichts daran, dass eine kategorische Absage an den Einsatz militärischer Gewalt zum internationalen Menschenrechtsschutz und zur Friedenssicherung aus der moralischen Perspektive einer universalistischen politischen Ethik in hohem Maße fragwürdig und darüber hinaus praktisch-politisch gesehen weltfremd ist. Die Annahme, dass es ohne die internationale Bereitschaft, notfalls auch militärisch einzugreifen, so etwas wie ein weltweites friedliches Miteinander ohne bösartige Kriege, extreme Armut und massenhafte Menschenrechtsverletzungen geben könne, ist abwegig.

Schon 2006, drei Jahre nach dem zu Recht weithin kritisierten zweiten Irakkrieg unter amerikanischer Führung, habe ich diese Position gemeinsam mit Dieter Janssen in dem Buch Menschenrechte militärisch schützen vertreten – und mir damit scharfe Vorwürfe eingehandelt. In einer Podiumsdiskussion etwa hielt mir ein Vertreter der deutschen Friedensbewegung in Berlin entgegen: »Sie sind ja ein Bellizist, und Sie unterstützen die Politik der Bush-Regierung.« Das war nicht nur unbegründet, es ging auch entschieden am eigentlichen moralisch und politisch drängenden Problem vorbei.

Denn eine Sache ist es, die Vereinigten Staaten und ihre Regierung mit Recht für deren schwankende und heuchlerische Rechtfertigung des Zweiten Irakkriegs und für ihre gravierenden Menschenrechtsvergehen im Irak und anderswo zu kritisieren. Eine ganz andere Sache ist es, darüber nachzudenken, unter welchen Bedingungen der Einsatz militärischer Gewalt zum Menschenrechtsschutz und zur Friedenssicherung aus der Perspektive einer politischen Ethik zulässig und unter Umständen sogar geboten sein kann.

Wer sich ernsthaft dafür interessiert, wie politische Entscheidungen über Krieg und Frieden unter moralischen Gesichtspunkten zu bewerten sind (und gerade darum geht es ja vielen Menschen, die sich in der Friedensbewegung und andernorts engagieren), dessen erste Sorge sollte nicht sein, wessen Politik wir unterstützen, so, als ob schon vorab klar wäre, wer die Guten und wer die Schlechten sind. Worauf es um der intellektuellen und moralischen Klarheit willen ankommt, ist eine unvoreingenommene und für alle Fakten und Gesichtspunkte offene und insofern zunächst unparteiische Betrachtungsweise. Die erste Frage ist nicht, welchen Politikern oder Regierungen wir folgen sollen, sondern auf Grundlage welcher Prinzipien und Werte wir verantwortbare Entscheidungen in einer Welt allgegenwärtiger barbarischer Gewalt treffen wollen – und ob wir mit diesen Prinzipien und Werten zu einer moralischen Haltung finden, die erstens in sich plausibel und widerspruchsfrei ist und die zweitens eine konsistente und verlässliche Friedens- und Sicherheitspolitik erlaubt.

Um die Grundlinien einer solchen Haltung und die ihr zugrunde liegende politische Ethik geht es in diesem Buch. Es geht hingegen nicht darum, die Frage zu beantworten, in welchen konkreten Konfliktfällen eine militärische Intervention zur Friedenssicherung und zum Menschenrechtsschutz – unter Berücksichtigung aller relevanten Kriterien – gerechtfertigt war oder gerechtfertigt wäre. Eine Antwort auf diese Frage würde differenzierte und fallbezogene ethische, politische und strategische Erwägungen erfordern und müsste eine Fülle empirischer Informationen berücksichtigen. Im Rahmen einer philosophischen Abhandlung über die Moral des Krieges ist dies nicht zu leisten.

Es kann auch nicht die Aufgabe der Moralphilosophie oder der politischen Ethik sein, auf alle drängenden Fragen des politischen Lebens eindeutige Antworten zu geben. Zum einen kann eine Moral oder Ethik (ich verwende die Ausdrücke weitgehend austauschbar), die sich nicht auf göttliche Offenbarung und religiöse Heilsgewissheiten, sondern lediglich auf die menschliche Vernunft stützt, keine alternativlosen letzten Wahrheiten liefern. Was sie uns zu bieten vermag, sind allenfalls gut begründete, aber gleichwohl im Prinzip bestreitbare allgemeine Grundsätze und Wertvorstellungen. Zum anderen lässt sich im Rückgriff auf eben jene Grundsätze im konkreten Fall typischerweise mehr als eine Antwort rechtfertigen. Moralische Prinzipien und Werte sind stets interpretationsbedürftig, und oft gibt es mehr als eine vertretbare Auslegung. Auch setzt ihre Anwendung in konkreten Fällen von Krieg und Frieden zahlreiche Kenntnisse über den jeweiligen Konflikt und die beteiligten Parteien, die Handlungsmöglichkeiten Dritter sowie über die kurz- und längerfristigen Folgen möglicher Interventionen voraus. All diese Kenntnisse beruhen auf Erfahrung und sind, wie alles Erfahrungswissen, fehlbar und nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit verlässlich. Selbst bei einem Einverständnis im Prinzipiellen mögen deshalb verschiedene gleichermaßen »wohlinformierte« Personen, die denselben Prinzipien folgen, zu entgegengesetzten Schlussfolgerungen gelangen – zum Beispiel, weil sie empirische Befunde unterschiedlich gewichten oder aufgrund unterschiedlicher Einschätzungen von Wahrscheinlichkeiten.

Aus der Perspektive derer, die nach moralischen Leitlinien für ihr Handeln suchen, scheint die Schwäche der Moralphilosophie und politischen Ethik insofern weniger darin zu liegen, dass sie keine Antwort auf drängende praktische Fragen gibt, als vielmehr darin, dass sie zu viele vertretbare Antworten zulässt.

Auch im Folgenden werden deshalb keine moralisch begründeten Handlungsanweisungen für aktuelle militärische Konflikte gegeben. Ziel des Buches ist es vielmehr, in den Fragen von Krieg und Frieden eine grundsätzliche moralphilosophische Orientierung zu bieten – und zwar nicht für philosophisch vorinformierte Leserinnen und Leser, sondern auch für die breite Öffentlichkeit, in der die hier behandelten Themen ja täglich anhand aktueller Problemstellungen diskutiert werden.

Um dieses Ziel möglichst hoher Allgemeinverständlichkeit zu erreichen, verzichtet der Text nicht nur weitgehend auf Literaturverweise, Fußnoten und die Diskussion verschiedener philosophischer »Schulen«. Er wurde darüber hinaus in enger Zusammenarbeit mit dem Kölner Historiker, Buchautor und Redenschreiber Peter Sprong auch redaktionell so gestaltet, dass trotz der zum Teil komplexen Erörterung philosophischer Argumente die allgemeine Lesbarkeit gewahrt bleibt. Zugleich spiegelt...

Blick ins Buch

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