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E-Book

Die Nacht ist Leben

Autobiographie

AutorSven Marquardt
VerlagUllstein
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783843708609
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Ob als Punk im Prenzlauer Berg der achtziger Jahre, als Arrangeur verstörender Fotos vor und nach der Wende - oder als Einlasser im Berliner Club Berghain: Sven Marquardt ist immer tief abgetaucht ins Leben. Manchmal ist er auch untergetaucht, um wieder aufzutauchen. Dabei hat er Geschichten gesammelt: über Menschen, ihre Lichtblicke und Abgründe. Und über eine Liebe, die Glück und Schmerz bedeutet und für ein ganzes Leben reicht: die zu Berlin.

Sven Marquardt, 1962 in Ostberlin geboren, aufgewachsen im Prenzlauer Berg, Ausbildung zum Fotografen. Die Fotokünstlerin Helga Paris wird seine Mentorin. Erste Ausstellungen Ende der achtziger Jahre, Auftragsarbeiten für die Modezeitschrift SIBYLLE. Seit 1994 Einlasser an unzähligen Clubtüren Berlins. Seit 2000 künstlerische Fotoprojekte u. a. für Levi's, Adidas und das Berghain. 2010 und 2011 erschienen die Fotobildbände 'zukünftig vergangen' und 'Heiland'. Sven Marquardt lebt und arbeitet in Berlin.

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Leseprobe

Für immer Pankow

Mein Start ins Leben ist ein guter, zumindest die ersten sieben Jahre lang. Zufriedene Eltern, viel Liebe, viel Verhätschelung. Eine Kindheit in Berlin-Pankow. Mit einer rührigen Großmutter im Prenzlauer Berg. Oft holt sie mich vom Kindergarten ab. Jung ist sie, erst in ihren Vierzigern. Würden wir heute rund um den Senefelder Platz leben wie sie damals, sie würde als meine Mutter durchgehen. Ihr Vater hat in dieser Ecke eine Bäckerei betrieben, die Urgroßeltern haben im Hinterhof noch selber Brot gebacken. Leider erlebe ich das nicht mehr, 1957, fünf Jahre vor meiner Geburt, machen sie ihren Laden dicht.

Lottumstraße, 1982. Nur eine Straße von meinen Großeltern entfernt.

Die Gegend um den Senefelder Platz herum ist bis heute mein Lieblingsflecken im Prenzlauer Berg. Auch wenn es dort schon immer anders war als in Pankow, größer, rauer. Bis vor kurzem gab es da ein Haus, auf dessen Putz noch die alten Händlerschriften zu lesen waren und das so aussah, als könnte ich jederzeit als Steppke herauspurzeln.

Laufe ich heute in dieser Gegend herum, blitzen in meinem Kopf nur schöne Erinnerungen auf: Da ist dieser Zooladen in der Schwedter Straße, an dem ich mir die Nase platt gedrückt habe und in dessen Fenster gefühlt zweihundert Wellensittiche umherflatterten. Ihre Voliere füllte ein ganzes Zimmer aus. Stundenlang beobachtete ich die Vögel. Was für einen bunten Farbtupfer sie in das Grau der Häuserfronten setzten!

Aber habe ich Ostberlin damals als grau empfunden? Nein, nur viel leerer. Etliche Häuser waren weggebombt, es gab viele Brachen in der Stadt. Aber die machten die Stadt auch weiter, durchlässiger. Ließen mehr Platz zum Atmen.

Die alten Wege sind mir heute nicht entfremdet, nur weil fünfundzwanzig Jahre nach der Wende die meisten Bau­lücken gefüllt sind und alles schon dreimal ausgetauscht worden ist – die Läden, die Mieter, das Lebensgefühl. Früher war es einfach anders, nicht so herausgeputzt und vollgestopft. Es standen nur drei, vier Autos in einer Straße, es gab keine Leuchtreklame, keine Werbeaufsteller. Es gab eine Leere, die auch etwas Poetisches, Beruhigendes hatte und die Robert mit seinen Schwarzweißbildern immer gut dokumentiert hat.

Anfang zwanzig sind meine Eltern, als sie heiraten. Was weiß man da schon vom Leben und all seinen Wirrungen? Ich hätte in diesem Alter noch keine Verantwortung übernehmen wollen. Meine Mutter ist medizinisch-technische Assistentin, mein Vater Autobahnbauer. Jung zu heiraten ist typisch für die DDR, nur als Ehepaar hat man die Chance, eine Wohnung zu bekommen. Und natürlich wollen meine Eltern alles richtig machen mit der Liebe, und eine Zeitlang schaffen sie das auch.

Doch dann bricht mein Vater aus – ihm gefallen auch andere Frauen. Er kommt nur noch spät oder selten nach Hause. Es ist die Zeit, in der mein Männerbild völlig verrutscht. Und in der die Enttäuschung stetig in mir wächst: nichts mit Glaubwürdigkeit und Vertrauen, nichts mit »väterlicher Identifikationsfigur«. Meine ist schlichtweg nicht da.

Kommt mein Vater dann doch mal nach Hause, steigt die Anspannung sofort, immer öfter sagt meine Mutter zu mir: »Geh bitte auf dein Zimmer, spielen!« Ihr Ton verheißt: Widerrede ist zwecklos. Ich bin sechs, ich gehorche. Aber wie soll ich spielen, wenn ich meine Eltern durch die Wände streiten höre? Ich will zu ihnen, ich will, dass alles wieder gut ist.

Frühmorgens kommt meine Mutter zu mir ans Bett und tut, als wäre nichts gewesen. Sie küsst mich und nimmt mich in den Arm. Später sitzen wir beide in der Küche, sie schmiert mir die Schulbrote, und über dem Lächeln, das sie versucht, sehe ich ihre verweinten Augen. Die sehe ich immer wieder in dieser Zeit.

Jugendweihe, 1976. Mit den Eltern.

Die Scheidung kommt, als ich in der ersten Klasse bin. Ein dramatischer Einschnitt für meine Mutter und mich. Der Verlust des Mannes und des Vaters schmerzt. Ein Gefühl, das noch lange anhalten wird. Und die Verzweiflung so schürt, dass meine Mutter mit mir zu Weihachten zum Haus seiner neuen Familie fährt und dort Geschenke an die Tür hängt. Das ist ihre Art zu kämpfen. Ich stehe neben ihr, sehe ihr zu, mir ist hundeelend.

Trotzdem leben wir weiter. Meine Mutter beginnt ein Fernstudium, ich habe meine Aufgaben im Haushalt: einkaufen, abwaschen, Kohlen holen. Letzteres erledige ich am liebsten, denn ich liebe unseren Keller. Er geht über zwei Aufgänge, ist düster und verwinkelt, und mit anderen Kindern spiele ich dort Verstecken. Mehr oder weniger bin ich für alle Aufgaben im Haushalt zuständig, die sonst der Mann in der Familie hat.

Das erzähle ich auch den Leuten von der Zeitung Junge Welt, die 1972 eine Umfrage in meiner Klasse machen, wie viel jeder von uns seinen Eltern zu Hause unter die Arme greift. »So wie Sven, Annette, Christina und alle anderen der Klasse 5b ihren Eltern helfen, machen das täglich Tausende Pioniere in unserer Republik«, heißt es da.

Nach der Scheidung kümmert sich mein Vater zwar wieder mehr um mich, aber nur so, wie es ihm gerade passt, nicht, wie ich es brauche. Mutter leistet die Erziehungsarbeit, er ist für den Spaß reserviert. Deshalb hat er manchmal bessere Karten bei mir – Kinder sind ungerecht, ich bin da keine Ausnahme.

Oft holt er mich direkt von der Schule ab und fährt uns mit seinem Russenjeep mal eben nach Warnemünde, zum Baden und Eisessen und Spazierengehen auf der Mole. Seine draufgängerische Art schindet Eindruck bei allen und ­jedem, auch bei meinen Schulkumpels. Eines Tages steht er mit einem großen Hund vor der Tür – und ist mal wieder mein Held.

Doch als er nach zehn Jahren von seiner zweiten, nun auch gescheiterten Ehe in die dritte aufbrechen will, bin ich nicht mehr bereit, ihm zu folgen. Diesmal lässt er sogar zwei leibliche Söhne zurück, und ich bin mit dem Verlustschmerz konfrontiert, den ich selbst erlebt habe. Das will ich nicht mehr mit anschauen. Ich mache einen Cut. Das ist bis heute so geblieben. Vermisst habe ich ihn nie, obwohl ich ihm ähnlich sehe, obwohl wir uns charakterlich gleichen, obwohl wir am gleichen Tag Geburtstag haben.

Alles, was ich gebraucht habe an Vaterfigur, habe ich in meinem Stiefvater gefunden. Auch wenn es Jahre dauerte, bis ich ihn schätzen lernte. Am Anfang war er einfach nur ein Konkurrent, dem ich das Leben schwergemacht habe. Dabei hat er sich mir nie als Vater aufgedrängt.

Aber als meine Mutter ihn heiratet, ändert sich zu Hause schlagartig die Rangordnung. Ich weiß zwar, dass ihm der Platz an ihrer Seite zusteht, aber ich kann ihn nicht kampflos aufgeben – bis zu seinem Auftauchen war ich immerhin fünf Jahre allein mit ihr, eine lange Zeit. Dann wird auch noch mein Bruder geboren, als ich zwölf bin. Ich schiebe ihn zwar mit dem Kinderwagen durch die Gegend, spalte mich aber gleichzeitig immer mehr von der Familie ab.

Einmal, als meine Mutter nicht mehr weiter weiß mit mir, wünscht sie sich, dass mein Stiefvater durchgreift. Ich bin ein Herumtreiber und komme nach Hause, wann ich will. Er stellt mich nachts an der Tür und versucht streng zu sein. Dafür würdige ich ihn ein halbes Jahr keines Blickes. Und er? Hat es mir nie übel genommen.

Ich glaube nicht, dass er mein Leben versteht, aber wir kommen heute gut miteinander klar. Er füttert meinen Kater, wenn ich verreisen muss, und da ich selbst keinen Führerschein habe, steht er stets mit seinem Auto vor der Tür, wenn ich zum Baumarkt, zum Tierarzt oder sonst wohin muss.

Neulich kam im Berghain eine E-Mail von meinem ehemaligen Schulkameraden Edgar an, der schrieb: »Toll, Sven, was aus dir geworden ist! Aus dem schüchternen Jungen, der heimlich mit mir die von Oma geklauten Westzigaretten auf dem Klo rauchte. Und der in dunklen Kellerecken mit der Klassenschönsten knutschte.«

Die Zeit, von der er spricht, ist die sechste Klasse, wir sind »Piepel«, wie wir sagen, und fangen an, Revolution zu machen – mit den ersten Anzeichen von Stimmbruch. Edgar ist einmal sitzengeblieben, und es kursiert die Geschichte über ihn, dass er auf der Elsa-Brändström-Straße eine alte Frau überfallen hat. »Los, Alte, Kröten raus!«, soll er ge­schrien haben. Die alte Dame aber dreht den Spieß um, fuchtelt mit ihrem Krückstock und droht ihrerseits: »Ich werd’ dir was, Kröten raus, verschwinde!«

Natürlich regen sich alle auf – Eltern, Lehrer, Schüler: So darf man nicht mit einer alten Frau umgehen. Aber ich, der ich als niedlicher, adretter Junge gelte, finde das gut. ­Warum auch immer. Ich fühle mich zu Edgar hingezogen. Vielleicht weil mich das Unangepasste interessiert und fasziniert. Ich stelle mir vor, dass er eine viel tollere und spannendere ­Gegenwart hat als ich, Jungs wie ihn umgibt immer so eine Aura des Verruchten, Verbotenen. Meistens sind sie auch älter und eben nicht so nett und beschützt wie ich. Manche haben auch richtig was auf dem Kerbholz oder kommen aus einem schlimmen Zuhause. Dass ihr Verhalten auch ein Schrei nach Liebe und Anerkennung ist, begreife ich erst später.

Edgar ist fortan mein Kumpel, aber meine Mutter sorgt recht schnell dafür, dass wir auseinandergesetzt werden, sie will, dass ich mit jemandem die Bank teile, der einen posi­tiven Einfluss auf mich hat. Ich selbst will überhaupt nicht nett und adrett sein. Ich bin stolz, wenn ich mir etwas breche, vom Klettergerüst falle oder beim Balancieren auf ­ei­nem Fußball hinknalle. Auch beim Rollschuhlaufen lege ich es auf blutige Knie an. Ich will unbedingt dazugehören, Mutproben bestehen. Zur Einschulung habe ich ein Gipsbein, so dass mein...

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