Sie sind hier
E-Book

Die Narben der Gewalt

Traumatische Erfahrungen verstehen und überwinden

AutorJudith Herman
VerlagJunfermann
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl352 Seiten
ISBN9783955717636
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis34,99 EUR
Dieses Buch ist das Ergebnis jahrzehntelanger Forschung und praktischer Arbeit mit Opfern sexueller und häuslicher Gewalt. Es spiegelt zudem die vielfältigen Erfahrungen der Autorin mit zahlreichen anderen traumatisierten Patienten wider, vor allem mit Kriegsveteranen und Terroropfern. 2015 fasste Judith Herman die neuesten Forschungen und Entwicklungen zusammen und ergänzte somit ihren Klassiker, der nie an Aktualität verloren hat. 'Das Buch von Judith Herman ist eines der wichtigsten und gleichzeitig lesbarsten Bücher der modernen Traumaforschung. Es sollte in allen universitären Seminaren zum Thema psychische Traumatisierungen zur Pflichtlektüre gehören.' - Dr. Arne Hofmann

Judith Herman ist Professorin an der Harvard Medical School und leitet ein Programm über Opfer von Gewalttaten am Cambridge Hospital. Seit mehr als 30 Jahren beschäftigt sie sich mit Opfern von Kindesmissbrauch, Vergewaltigung und häuslicher Gewalt.

Kaufen Sie hier:

Horizontale Tabs

Leseprobe

Einleitung


Gewalttaten verbannt man aus dem Bewusstsein – das ist eine normale Reaktion. Bestimmte Verletzungen des Gesellschaftsvertrages sind zu schrecklich, als dass man sie laut aussprechen könnte: Das ist mit dem Wort „unsagbar“ gemeint.

Doch Gewalttaten lassen sich nicht einfach begraben. Dem Wunsch, etwas Schreckliches zu verleugnen, steht die Gewissheit entgegen, dass Verleugnung unmöglich ist. Viele Sagen und Märchen berichten von Geistern, die nicht in ihren Gräbern ruhen wollen, bis ihre Geschichten erzählt sind. Mord muss ans Tageslicht. Die Erinnerung an furchtbare Ereignisse und das Aussprechen der grässlichen Wahrheit sind Vorbedingungen für die Wiederherstellung der gesellschaftlichen Ordnung, für die Genesung der Opfer.

Der Konflikt zwischen dem Wunsch, schreckliche Ereignisse zu verleugnen, und dem Wunsch, sie laut auszusprechen, ist die zentrale Dialektik des psychischen Traumas. Menschen, die ein Trauma überlebt haben, erzählen davon oft so gefühlsbetont, widersprüchlich und bruchstückhaft, dass sie unglaubwürdig wirken. Damit ist ein Ausweg aus dem Dilemma gefunden, einerseits die Wahrheit sagen und andererseits Stillschweigen wahren zu müssen. Erst wenn die Wahrheit anerkannt ist, kann die Genesung des Opfers beginnen. Doch sehr viel häufiger wird das Schweigen aufrechterhalten, und die Geschichte des traumatischen Ereignisses taugt nicht als Erzählung auf, sondern als Symptom.

Die Symptome psychischen Leidens bei traumatisierten Menschen weisen auf die Existenz eines unaussprechlichen Geheimnisses hin und lenken gleichzeitig davon ab. Besonders deutlich zeigt sich dies, wenn Opfer abwechselnd in Erstarrung verfallen und das Ereignis immer wieder neu erleben. Durch die Dialektik des Traumas entstehen komplexe, manchmal unheimliche Bewusstseinsveränderungen. George Orwell, einer der engagierten Wahrsager des 20. Jahrhunderts, sprach von „Doppeldenk“; Psychiater und Psychologen prägten den sachlich präzisen Begriff „Dissoziation“. Daraus ergeben sich die schillernden, dramatischen und oft bizarren Symptome der Hysterie, in denen Freud vor hundert Jahren versteckte Mitteilungen über sexuellen Missbrauch in der Kindheit erkannte.

Zeugen unterliegen der Dialektik des Traumas ebenso wie die Opfer. Es gelingt dem Beobachter kaum, ruhig zu bleiben, einen klaren Kopf zu bewahren, mehr als einige wenige Bruchstücke des Geschehens gleichzeitig zu erkennen, alle Einzelheiten aufzubewahren und richtig zusammenzusetzen. Noch schwieriger ist es, die richtigen Worte zu finden, um das Beobachtete überzeugend und umfassend zu schildern. Wer versucht, die Gräuel in Worte zu fassen, die er gesehen hat, setzt seine Glaubwürdigkeit aufs Spiel. Wer über Gräueltaten öffentlich spricht, zieht unweigerlich das Stigma auf sich, das dem Opfer immer anhaftet.

Das Wissen, dass schreckliche Dinge passieren, dringt zwar periodisch ins allgemeine Bewusstsein, hält sich dort jedoch selten lange. Verleugnung, Verdrängung und Dissoziation wirken auf gesellschaftlicher wie auf individueller Ebene. Auch die Erforschung psychischer Traumata hat eine „untergründige“ Geschichte. Wie unsere traumatisierten Patienten sind auch wir Therapeuten vom Wissen um unsere Vergangenheit abgeschnitten. Wie unsere Patienten müssen auch wir erst die Vergangenheit verstehen, wenn wir Gegenwart und Zukunft zurückerobern wollen. Deshalb geht die Wiederentdeckung der Geschichte der Erklärung des psychischen Traumas voraus.

Therapeuten kennen den sehr besonderen Augenblick der Erkenntnis, wenn unterdrückte Gedanken, Gefühle und Erinnerungen an die Oberfläche kommen. Solche Augenblicke gibt es in der gesellschaftlichen Geschichte ebenso wie in der individuellen. In den Siebzigerjahren hoben die Manifeste der Frauenbewegung die weitverbreitete Gewalt gegen Frauen ins öffentliche Bewusstsein. Opfer, die man zum Verstummen gebracht hatte, sprachen zum ersten Mal über ihre Geheimnisse. Als Ärztin in der Psychiatrie hörte ich von Patientinnen viele Geschichten über sexuelle und häusliche Gewalt. Aufgrund meines Engagements in der Frauenbewegung konnte ich mich gegen die Verleugnung realer Lebenserfahrungen von Frauen wehren und zu dem stehen, was ich erfahren hatte. Meinen ersten Aufsatz über das Thema Inzest verfasste ich 1976 gemeinsam mit Lisa Hirschman. Bevor er veröffentlicht wurde, zirkulierte er ein Jahr lang als Manuskript im „Untergrund“. Aus allen Teilen des Landes erhielten wir Briefe von Frauen, die nie zuvor über ihre Erlebnisse gesprochen hatten. So erkannten wir, welche Macht darin liegt, das Unsagbare zu benennen, und wir begriffen, welche kreativen Energien freigesetzt werden, wenn die Mauer aus Verleugnung und Verdrängung fällt.

Die Narben der Gewalt ist die Frucht von zwanzig Jahren Forschung und praktischer Arbeit mit Opfern von sexueller und häuslicher Gewalt. Das Buch spiegelt auch die vielfältigen Erfahrungen mit zahlreichen anderen traumatisierten Patienten wider, vor allem mit Kriegsveteranen und Opfern von politischem Terror. Es ist ein Buch über die Wiederherstellung von Verbindungen: Verbindungen zwischen öffentlichen und privaten Welten, zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen Mann und Frau. Es ist ein Buch über Gemeinsamkeiten: zwischen Vergewaltigungsopfern und Kriegsveteranen, zwischen misshandelten Frauen und politischen Gefangenen, zwischen den Überlebenden der riesigen Konzentrationslager, errichtet von Tyrannen, die über Völker herrschten, und den Überlebenden der kleinen, versteckten Konzentrationslager, errichtet von Tyrannen, die über ihre Familie herrschen.

Wer Furchtbares durchlebt hat, leidet unter bestimmten vorhersehbaren psychischen Schäden. Das Spektrum traumatischer Störungen reicht von den Folgen eines einzigen, überwältigenden Ereignisses bis zu den vielschichtigen Folgen lang anhaltenden und wiederholten Missbrauchs. Gängige diagnostische Kategorien, insbesondere die häufig bei Frauen diagnostizierten schweren Persönlichkeitsstörungen, berücksichtigen im Allgemeinen zu wenig, was es bedeutet, wenn ein Mensch zum Opfer geworden ist. Im ersten Teil des Buches wird das Spektrum menschlicher Reaktionen auf traumatische Ereignisse beschrieben, die psychische Störung, unter der die Opfer lang anhaltenden und wiederholten Missbrauchs leiden, bekommt einen neuen diagnostischen Namen.

Da zwischen traumatischen Syndromen grundlegende Gemeinsamkeiten bestehen, verläuft auch der Heilungsprozess auf ähnliche Weise. Wichtige Phasen der Genesung sind die Herstellung von Sicherheit, die Rekonstruktion der Geschichte des Traumas und die Wiederherstellung der Verbindung zwischen Opfer und Gemeinschaft. Im zweiten Teil des Buches wird der Verlauf des Heilungsprozesses geschildert und ein neues Konzept für die Psychotherapie von traumatisierten Patienten entwickelt. Aussagen von Opfern und Fallbeispiele aus der umfangreichen Literatur illustrieren die Besonderheiten traumatischer Störungen und die Prinzipien der Behandlung.

Zu den wissenschaftlichen Grundlagen dieses Buches zählen meine früheren Untersuchungen über Inzestopfer und meine neuere Untersuchung zur Bedeutung von Traumatisierungen in der Kindheit für die Herausbildung von sogenannten Borderline-Persönlichkeitsstörungen. Die klinischen Erfahrungen, auf die sich dieses Buch gründet, konnte ich in zwanzigjähriger Tätigkeit in einer feministisch orientierten psychiatrischen Klinik und in zehnjähriger Tätigkeit als Dozentin und Supervisorin in einem Lehrkrankenhaus der Universität sammeln.

Im Mittelpunkt des Buches stehen die Berichte von traumatisierten Menschen. Um die Vertraulichkeit zu wahren, habe ich die Namen aller meiner Gesprächspartner verändert – mit zwei Ausnahmen: Erstens erscheinen alle Therapeuten und Ärzte, die ich zu ihrer Arbeit interviewt habe, unter ihrem richtigen Namen sowie zweitens alle Opfer, die bereits in die Öffentlichkeit gegangen sind. Die Fallschilderungen sind fiktiv, in jede Schilderung sind die Erfahrungen vieler Patienten eingeflossen, nicht nur die eines einzelnen.

Die Opfer fordern uns auf, Bruchstücke zusammenzusetzen, Geschichten zu rekonstruieren, ihren gegenwärtigen Symptomen im Lichte vergangener Erlebnisse Bedeutung zu verleihen. Ich habe versucht, die medizinischen und gesellschaftlichen Aspekte traumatischer Ereignisse zu verknüpfen, ohne die Komplexität individueller Erfahrungen oder die Vielfalt des politischen Umfelds preiszugeben. Ich habe versucht, Kenntnisse aus scheinbar unterschiedlichen Bereichen zusammenzufügen und Konzepte zu entwickeln, die auf die Erfahrungen von Familien- und Sexualleben, der traditionell weiblichen Sphäre, ebenso anwendbar sind wie auf die Erfahrungen von Krieg und Politik, der traditionell männlichen Sphäre.

Dieses Buch erscheint zu einem Zeitpunkt[1], an dem die Frauenbewegung eine öffentliche Diskussion der weitverbreiteten Gewalt im sexuellen und familiären Leben und die Menschenrechtsbewegung eine öffentliche Diskussion der weitverbreiteten Gewalt im politischen Leben ermöglichte. Das Buch wird sicher Diskussionen auslösen; einmal weil es aus feministischer Perspektive geschrieben ist, zum Zweiten weil es gängige diagnostische Kategorien infrage stellt, zum Dritten – und das ist der vielleicht wichtigste Punkt – weil es grauenhafte Dinge beim Namen nennt, Dinge, über die eigentlich niemand etwas hören will. Ich habe versucht, meine Gedanken in eine Sprache zu kleiden, die Verbindungen aufrechterhält, eine Sprache, die sowohl der leidenschaftslosen, vernunftbetonten Haltung meines Berufsstandes Rechnung trägt als auch den leidenschaftlichen Forderungen der verletzten und empörten Menschen. Ich habe versucht, eine Sprache zu finden, die den Versuchungen des...

Blick ins Buch

Weitere E-Books zum Thema: Angewandte Psychologie - Therapie

Lob des sozialen Faulenzens

E-Book Lob des sozialen Faulenzens
Motivation und Leistung beim Lösen komplexer Probleme in sozialen Situationen Format: PDF

Soziales Faulenzen bezeichnet einen Motivationsverlust, der bisher meist als eine negative Folge kollektiven Arbeitens betrachtet wurde. Die vorliegende experimentelle Studie zeigt dagegen, dass im…

Lob des sozialen Faulenzens

E-Book Lob des sozialen Faulenzens
Motivation und Leistung beim Lösen komplexer Probleme in sozialen Situationen Format: PDF

Soziales Faulenzen bezeichnet einen Motivationsverlust, der bisher meist als eine negative Folge kollektiven Arbeitens betrachtet wurde. Die vorliegende experimentelle Studie zeigt dagegen, dass im…

Psychologie 2000

E-Book Psychologie 2000
Format: PDF

Der 42. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Psychologie bedurfte dank der bedeutungsträchtigen Jahreszahl keines besonderen Mottos – es war der Kongreß "Psychologie…

Psychologie 2000

E-Book Psychologie 2000
Format: PDF

Der 42. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Psychologie bedurfte dank der bedeutungsträchtigen Jahreszahl keines besonderen Mottos – es war der Kongreß "Psychologie…

Ernährungspsychologie

E-Book Ernährungspsychologie
Eine Einführung Format: PDF

Essen und Trinken beherrschen unser Leben und unser Denken. Die Ernährungswissenschaft erforscht die nutritiven Lebensgrundlagen des Menschen und weiß inzwischen sehr genau, wie sich der…

Ernährungspsychologie

E-Book Ernährungspsychologie
Eine Einführung Format: PDF

Essen und Trinken beherrschen unser Leben und unser Denken. Die Ernährungswissenschaft erforscht die nutritiven Lebensgrundlagen des Menschen und weiß inzwischen sehr genau, wie sich der…

Weitere Zeitschriften

ARCH+.

ARCH+.

ARCH+ ist eine unabhängige, konzeptuelle Zeitschrift für Architektur und Urbanismus. Der Name ist zugleich Programm: mehr als Architektur. Jedes vierteljährlich erscheinende Heft beleuchtet ...

Atalanta

Atalanta

Atalanta ist die Zeitschrift der Deutschen Forschungszentrale für Schmetterlingswanderung. Im Atalanta-Magazin werden Themen behandelt wie Wanderfalterforschung, Systematik, Taxonomie und Ökologie. ...

AUTOCAD & Inventor Magazin

AUTOCAD & Inventor Magazin

FÜHREND - Das AUTOCAD & Inventor Magazin berichtet seinen Lesern seit 30 Jahren ausführlich über die Lösungsvielfalt der SoftwareLösungen des Herstellers Autodesk. Die Produkte gehören zu ...

Bibel für heute

Bibel für heute

BIBEL FÜR HEUTE ist die Bibellese für alle, die die tägliche Routine durchbrechen wollen: Um sich intensiver mit einem Bibeltext zu beschäftigen. Um beim Bibel lesen Einblicke in Gottes ...

BIELEFELD GEHT AUS

BIELEFELD GEHT AUS

Freizeit- und Gastronomieführer mit umfangreichem Serviceteil, mehr als 700 Tipps und Adressen für Tag- und Nachtschwärmer Bielefeld genießen Westfälisch und weltoffen – das zeichnet nicht ...

Card Forum International

Card Forum International

Card Forum International, Magazine for Card Technologies and Applications, is a leading source for information in the field of card-based payment systems, related technologies, and required reading ...

cards Karten cartes

cards Karten cartes

Die führende Zeitschrift für Zahlungsverkehr und Payments – international und branchenübergreifend, erscheint seit 1990 monatlich (viermal als Fachmagazin, achtmal als ...

Courier

Courier

The Bayer CropScience Magazine for Modern AgriculturePflanzenschutzmagazin für den Landwirt, landwirtschaftlichen Berater, Händler und generell am Thema Interessierten, mit umfassender ...

crescendo

crescendo

Die Zeitschrift für Blas- und Spielleutemusik in NRW - Informationen aus dem Volksmusikerbund NRW - Berichte aus 23 Kreisverbänden mit über 1000 Blasorchestern, Spielmanns- und Fanfarenzügen - ...

DSD Der Sicherheitsdienst

DSD Der Sicherheitsdienst

Der "DSD – Der Sicherheitsdienst" ist das Magazin der Sicherheitswirtschaft. Es erscheint viermal jährlich und mit einer Auflage von 11.000 Exemplaren. Der DSD informiert über aktuelle Themen ...