Bei der ersten Regierung nach der Machtübernahme am 30. Januar 1933 handelte es sich um eine Koalitionsregierung, welche sich aus Adolf Hitler, Alfred Hugenberg und Franz von Papen zusammensetzte. Auch den Ministerien standen zum Teil führende Vertreter der deutschen Großindustrie vor. Dennoch dauerte es über ein Jahr bis alle diejenigen, die der uneingeschränkten Herrschaft der Nationalsozialisten im Wege standen, ausgeschaltet waren. Wesentliche Ziele, deren Realisierung Hitler nach seiner Machtübernahme einleitete, wurden im Konzept und partiell auch in den Details bereits von seinen Vorgängern geplant, zum Beispiel die offene Wiederaufrüstung und Enttarnung der seit Jahren geheim gehaltenen Kriegsvorbereitungen, die Remilitarisierung, der Arbeitsdienst, die Auflösung des Parlaments und der Parteien, die Beseitigung der politischen Opposition, die Okkupation östlicher Länder etc. So gesehen trat Hitler zunächst nur als Erfüllungshilfe einer längerfristig vorbereiteten Machtpolitik auf, jedoch machten die ersten Maßnahmen der Regierung sowie das Tempo und die konsequente Vehemenz, mit der der neue „völkische“ Wille umgesetzt wurde, deutlich, dass dem nicht so war.[38] Die neue ideologische Ausrichtung beeinflusste auch die Institution Schule und mit ihr die Bildungsinhalte. So bestanden im Deutschunterricht des Gymnasiums, trotz der relativen Kontinuität der politischen Entwicklung, wesentliche Unterschiede zwischen dem Jahrgang 1933/34 und den vorherigen, welche sich im Lektürekanon und in den Aufsatzthemen abzeichneten. Zwar gab es zu diesem Zeitpunkt noch keine konkreten Maßnahmen im Sinne direkter schulischer Verordnungen, die den Lektürekanon beeinflusst hätten, aber auch auf die Lehrerschaft wurde ein allgemein politischer Druck beziehungsweise Gesinnungsdruck ausgeübt.[39] Die Schüler wurden dahingehend manipuliert, dass sie das ihnen Vermittelte kritiklos annehmen und somit in der Schule die Rolle des unkritischen Jasagers beziehungsweise des überzeugten Nationalsozialisten übernehmen sollten. Demgemäß wurde unter dem Stichwort „Liberalismus“ gegen alle missliebigen Formen und Methoden des Unterrichts vorgegangen.[40] Im Jahr 1936 schrieb Karl Kindt in der Zeitschrift für Deutschkunde:
Die heute bis zum Grade wüster Schlamperei eingerissene und allerorten wahrzunehmende Willkür in der Gestaltung der Schullektüre führt zu unermeßlichen Schädigungen der Erziehung. Auch gerade der nationalsozialistischen! Was nützt schließlich die Beseitigung liberalistischen Lektürestoffes, wenn im Methodischen die Anarchie und die Maßstablosigkeit und die individuelle Willkür zu Prinzipien erhoben werden! […] Ich kann Kultur nicht vermitteln nach liberalistischer Methode. Entweder ich ändere auch die methodische Einstellung, die Form des Unterrichts, oder aber: der Liberalismus der methodischen Haltung verdirbt seinerseits die völkische Substanz.[41]
Der totalitäre Grundzug der neuen Regierung machte sich ebenso in der kulturpolitischen Situation bemerkbar. Diesbezüglich sahen die ersten Maßnahmen wie folgt aus: Es kam zu einer Umbildung der preußischen Akademie und zum Ausschluss vieler namenhafter Künstler, unter anderem Thomas Mann, Heinrich Mann, Ricarda Huch etc., wobei Thomas Mann und Ricarda Huch ihren Rücktritt selbst erklärten.[42] Des Weiteren wurden Kontrollorgane eingerichtet, die dafür sorgten, dass nur erwünschte Literatur gedruckt werden konnte und literarische Opposition unterbunden wurde. Infolgedessen ergab sich ein Veröffentlichungsverbot für Nicht-Arier, Mitglieder der kommunistischen Partei, Marxisten, Schriftsteller, die die ihre Abneigung gegen den Nationalsozialismus schon früher offen bekundet hatten, Schriftsteller, die nicht der Reichsschrifttumskammer beitreten wollten etc. Der „Schutzverband Deutscher Schriftsteller“ wurde aufgelöst und durch den nationalsozialistischen „Reichsverband Deutscher Schriftsteller“ ersetzt. Als Konsequenz dieser radikalen Umgestaltung des Literaturwesens kam es zu Verhaftungswellen, die die verschiedensten oppositionellen Kreise erfassten, wie die der Kirche und der Politik sowie Künstler, Wissenschaftler und Journalisten. Schließlich fanden am 10. Mai 1933 an fast allen deutschen Universitäten öffentliche Bücherverbrennungen statt, bei denen die Werke namenhafter Schriftsteller vernichtet wurden. Diese Lage der Nation hatte, soweit es noch möglich war, Massenfluchten unter Juden, Kommunisten und Sozialdemokraten ausgelöst und keinen Zweifel daran gelassen, dass die neue Regierung gründlich „durchzugreifen“ bestrebt war.[43]
Die nationalsozialistische Regierung war ebenfalls gewillt, grundlegend im Gefüge des Erziehungswesens zu intervenieren. Die Leitlinien der künftigen Bildungslehre wurden bereits ausführlich in Hitlers Mein Kampf dargelegt, welches als „Bibel“ der nationalsozialistischen Bewegung programmatischen Charakter hatte. Das Ziel der Erziehung war die „totale Ausrichtung“ des Einzelnen auf den politischen Dienst am Volk sowie die Auslöschung der Individualität zugunsten absoluter Unterordnung unter die Disziplin des Staates und seiner hypostasierten Bedürfnisse.[44] Dabei ging es um die
totale Erfassung des Staatsbürgers und seine körperlich-wehrhafte Ertüchtigung, seine – rassentheoretisch-züchterisch begriffene – charakterlich-seelische Formung zum germanischen Tatmenschen und, nicht zuletzt, um seine geistige und sinnliche Ertüchtigung, wiederum zum kampfbreiten, freudig sein Leben fürs Ganze einsetzenden arischen Herrenmenschen.[45]
Es sollte ein neuer Herrentypus und politischer Neu-Adel ausgebildet werden, der in einem künftigen germanischen Großreich, folglich in den okkupierten Gebieten, die Führungsschicht stellen würde.[46] Diesbezüglich stellte Reichsinnenminister Frick folgendes fest:
Für das Gelingen wird alles darauf ankommen, die nationalen Kräfte ungebrochen in das Erziehungswesen hineinzuleiten und in ihm zu einheitlicher organischer Auswirkung kommen zu lassen. Nur durch eine in allem Notwendigen einheitliche deutsche Nationalerziehung der heranwachsenden Generation kann das Werk der nationalen Erneuerung vollendet und für alle Zukunft gesichert sein.[47]
Um dieses Ziel zu erreichen, wurden die alten Richtlinien des Deutschunterrichts zwar vorerst nicht außer Kraft gesetzt, allerdings wurde die konsequente Umsetzung ihres völkisch-nationalsozialistischen Gehaltes in der Unterrichtspraxis den Schulen in Weisungen und Erlassen schon unmittelbar nach dem 30. Januar nahegelegt.[48] Man sagte mit einem Begriff aus der Sportsprache, „die neue Bahn wird abgesteckt“ und jemand, der immer noch Zweifel hatte, wie genau die „neue Marschroute“ zu befolgen war, wurde durch die einsetzende Entlassungswelle darüber in Kenntnis gesetzt, dass Widerspruch unerwünscht war. Auf diese Weise wurde das kritische Potenzial der Lehrerschaft entfernt und der dadurch entstandene Angstdruck, der auf die verbleibenden Lehrer ausgeübt wurde, schob zukünftigem Widerstand gegen die neuen Bildungsziele einen Riegel vor.[49]
Im Verlauf der nationalsozialistischen Herrschaft haben sich die Intentionen zur Neuordnung des Erziehungswesens schärfer ausgeprägt. Mit der Stabilisierung der Diktatur sowie der organisatorischen Differenzierung und institutionellen Festigung des Systems wurden die Konturen faschistischer Politik immer deutlicher, sodass die bereits 1933 manifeste totalitäre Ideologie noch stärker im Deutschunterricht zum Tragen kam. Infolgedessen ließen die Aufsatzthemen und der Lektürekanon folgende Tendenzen klarer hervortreten:[50]
Die Tendenzen des Militarismus, der völkischen Expansion […], des extremen Rassismus, der totalitären Erfassung aller Lebensbereiche, des Führerprinzips und des Prinzips der Unterordnung des Einzelnen unter die Volksgemeinschaft, der Unterdrückung unerwünschten oppositionellen Denkens, der Verfremdung von Minderheiten usw.[51]
Bezüglich des Lektürekanons bedeutete dies, dass es zum einen zur Auswechslung unliebsamer Werke und zu ihrer Substituierung durch ideologisch dienlichere kam. Zum anderen vollzog sich der Prozess der Vereinnahmung der Literatur, insbesondere des traditionellen Erbes, auch über ein interpretatorisches Umbiegen der Texte, der sogenannten ideologisch-deformierten Rezeption.[52] Diesbezüglich wurde im Lehrplan expliziert, dass auf Grund der neuen, unverhohlen politischen Zielsetzung des Unterrichts „die Weltanschauung dem Unterricht nicht so sehr neue Bildungsstoffe, als vielmehr eine neue Sicht, ein neues Erziehungsverfahren und ein neues Ausleseprinzip für das Bildungsgut“ gebe.[53] Den Gegenstand des Literaturunterrichts stellte nicht das Bemühen um das Verständnis von Literatur dar, sondern Erziehung durch Literatur.[54] Demgemäß wurde Literatur zu einem Mittel degradiert, das allein zur Erfüllung eines politischen Ziels beizutragen hatte, was nicht nur Auswirkungen auf die Wahl, sondern ganz besonders...