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Die Natur in der Soziologie

Gesellschaftliche Voraussetzungen und Folgen biotechnologischen Wissens

AutorThomas Lemke
VerlagCampus Verlag
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl205 Seiten
ISBN9783593419985
FormatPDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis26,99 EUR
In den vergangenen Jahren haben sozialwissenschaftliche Analysen der Voraussetzungen und Folgen biowissenschaftlichen Wissen und biotechnologischer Innovationen große Resonanz erfahren. Die »Social Studies of Biomedicine and Biotechnologies« sind mittlerweile ein äußerst produktiver und schnell wachsender Forschungszweig - allerdings nicht in Deutschland. Hierzulande werden diese Fragen bislang nur ansatzweise empirisch untersucht und theoretisch reflektiert.

An dieser Forschungslücke setzt der Band von Thomas Lemke an. Er macht die internationale Diskussion für die deutschsprachigen Sozialwissenschaften zugänglich und nimmt eine eigenständige Positionierung innerhalb des Forschungsfelds vor. Lemke zeigt, dass eine Neuorientierung in der Soziologie erforderlich ist, die einen anderen Naturbegriff und ein Überdenken der disziplinären Arbeitsteilung zwischen Sozial- und Naturwissenschaften beinhaltet.

Thomas Lemke, Dr. phil., ist Professor für Soziologie an der Universität Frankfurt.

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Leseprobe
Einleitung: Die Natur in der Soziologie


Die Analyse des Verhältnisses zwischen Natur und Gesellschaft fand in der soziologischen Tradition lange Zeit wenig Aufmerksamkeit. Die Gründe für die 'soziologische Abstinenz', wie Niklas Luhmann die analytische Konzentration auf eine rein innergesellschaftliche Perspektive einmal bezeichnet hat (1986: 11), waren zunächst wissenschaftshistorischer Art. Die Etablierung der Soziologie als neuer Wissenschaftsdisziplin Ende des 19. Jahrhunderts erforderte die Bestimmung eines eigenständigen Gegenstandsbereichs. Dabei spielte die Abgrenzung gegen klimatische, geografische und biologische Erklärungen sozialer Phänomene eine entscheidende Rolle für die Ausbildung des disziplinären Profils. Zeigten sich bei Karl Marx und Herbert Spencer als Vorläufer der soziologischen Tradition 'Natur' und 'Gesellschaft' noch weitgehend ungeschieden, finden sich bei Émile Durkheim, Max Weber und Georg Simmel kaum noch Bezüge auf die außer-soziale Realität. Bestimmend für die disziplinäre Selbstbegründung der Soziologie wurde schließlich die Durkheimsche Forderung, 'die Erklärung des sozialen Lebens in der Natur der Gesellschaft selbst [zu] suchen'. (Durkheim 1984: 186). In der Folge etabliert sich eine wissenschaftliche Arbeitsteilung, deren Charakteristikum darin besteht, Natur- und Sozialwissenschaften strikt voneinander getrennt zu halten (Brand 1998; Jahn/Wehling 1998; Görg 1999; Franklin 2002; Walker 2005).


In diesem konstitutiven Dualismus, der die Wissenschaftsentwicklung seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts prägte, bildet 'Natur' besten-falls den Hintergrund für die soziologische Imagination. Diese enge Aus-richtung mochte für die Gründungsphase der Soziologie noch nützlich, vielleicht sogar notwendig gewesen sein, spätestens seit den 1970er Jahren wurde jedoch immer deutlicher, dass die 'Austreibung der Natur aus der Soziologie' (Grundmann 1997: 535) nicht länger haltbar war. Anstöße für eine disziplinäre Neuorientierung seit den 1970er Jahren lieferten die öko-logische Krise, die mit der Thematisierung der 'Grenzen des Wachstums' (Meadows 1972) und den großen Umweltkatastrophen von Seveso, Har-risburg und Bhopal ins öffentliche Bewusstsein trat; dazu kam der Kampf der Frauenbewegung und der Schwulen- und Lesbenbewegung um rechtli-che Gleichheit und soziale Anerkennung sowie die Innovationen der Gen- und Reproduktionstechnologien (Catton/Dunlap 1978; Diekmann/Jaeger 1996; Dickens 2004).


I.
In der Folgezeit lassen sich zwei konträre forschungspraktische und theo-retische Antworten der Soziologie auf die 'Naturfrage' ausmachen (vgl. dazu Scharping/Görg 1994; Rammert 1997; Wehling 1998; Rutherford 2000). Naturalistische Konzepte versprechen, die 'vergessenen' oder 'verdrängten' natürlichen Grundlagen gesellschaftlichen Lebens wieder in die Theorie zu integrieren. Sie favorisieren umweltdeterministische oder evolutionstheoretische Zugänge und begreifen gesellschaftliche Prozesse als mehr oder weniger direkten Ausdruck spezifischer Umweltbedingungen und/oder biologischer Charakteristika. Im Mittelpunkt steht dabei häufig das Ziel, natürliche Gesetze und Einwicklungsprozesse auszuweisen, um Kriterien für eine bessere Anpassung der Gesellschaft an eine ihr äußerliche Umwelt bzw. an die Materialität biologischer Prozesse zu gewinnen. Das theoretische Spektrum reicht von der Ökosystemforschung über humanökologisch inspirierte Ansätze bis hin zur Übernahme evolutionsbiologischer Konzepte in die Soziologie (s. beispielsweise Catton/Dunlap 1978; Jaeger 1996; Lopreato/Crippen 1999; Runciman 2000).


Demgegenüber suchen sozio-zentrische Ansätze den konstruktivisti-schen Charakter gesellschaftlicher Prozesse und Strukturen herauszustel-len. Dabei soll das etablierte soziologische Forschungs- und Analyseinstru-mentarium weiterentwickelt und auf neue Untersuchungsfelder übertragen werden - wobei allerdings die Relevanz natürlich-materialer Prozesse für die Erklärung sozialer Phänomene regelmäßig ausgeklammert bleibt. Diese theoretische Perspektive ist in der Soziologie vorherrschend und bildet ein heterogenes Ensemble unterschiedlicher Analyseformen, das die Luhmannsche Systemtheorie ebenso umfasst wie die kulturalistische Risikotheorie von Mary Douglas und Aaron Wildavsky, die Theorie sozialmoralischer Lernprozesse von Klaus Eder und Ulrich Becks Theorie reflexiver Modernisierung. So unterschiedlich die Ansätze im Einzelnen sein mögen, gemeinsam ist ihnen, dass sie Natur vornehmlich - bisweilen auch ausschließlich - als Gegenstand gesellschaftlicher Kommunikation und praktischer Vergesellschaftung begreifen. Im Zentrum des Interesses steht nicht die Anpassung 'der Gesellschaft' an eine ihr äußerliche 'natürliche Umwelt', sondern deren Konstruktion durch gesellschaftliche Wahrnehmungsformen und kulturelle Schemata (Douglas/Wildavsky 1983; Beck 1986; 1988; Luhmann 1986; Eder 1988).


Immer deutlicher zeigt sich indes, dass weder die eine noch die andere Theorievariante eine zufriedenstellende Antwort auf die Naturthematik liefert. Naturalistische Positionen können die Interaktionen von Gesellschaft und Natur nur in eingeschränkter Weise erfassen. Im Mittelpunkt ihres Interesses steht der energetische und materielle Stoffwechsel, den symbolischen Aneignungsprozessen und Deutungsmustern wird hingegen wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Zwar sind Gesellschaften immer in natürliche Austauschprozesse eingebunden, die gesellschaftliche Auseinan-dersetzung den natürlichen Lebensbedingungen ist aber kulturell vermittelt. Diese wichtige Einsicht der sozio-zentrischen Ansätze wird jedoch oft durch deren Tendenz unterminiert, die These der Eigenständigkeit des Sozialen in Richtung einer 'Selbstgenügsamkeit des Sozialen' (Görg 1999: 182; vgl. auch Weber 2003) zu überdehnen. In dieser Perspektive soll sich das Soziale nicht nur durch eigene Gesetzmäßigkeiten und einen spezifischen Gegenstandsbereich auszeichnen, sondern darüber hinaus durch die Unabhängigkeit und Autonomie von natürlichen Faktoren. Die innere Natur des Körpers und die äußere Natur werden hier vor allem als soziale Konstruktionen und kulturelle Schemata thematisiert, aber nicht als etwas begriffen, das sich in Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Elementen befindet und auf diese aktiv einwirkt.

Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Inhalt6
Einleitung: Die Natur in der Soziologie8
1. Von der Soziobiologie zur Biosozialität? Anmerkungen zu einer Debatte in der Wissenschafts- und Technikforschung23
2. Bürgerrechte durch Biologie? Zur Konjunktur des Begriffs »biologische Bürgerschaft«41
3. »Waffen sind an der Garderobe abzugeben«: Bruno Latours Entwurf einer politischen Ökologie65
4. Gesellschaftskörper und Organismuskonzepte: Überlegungen zur Bedeutung von Metaphern in der soziologischen Theorie85
5. Genetische Diskriminierung: Empirische Befunde und konzeptionelle Probleme108
6. Verdächtige Familien: Gesellschaftliche Implikationen von DNA-Abstammungsgutachten in Einwanderungsverfahren130
7. Mit Foucault über Foucault hinaus: Von der Biopolitik zur Regierung des Lebens155
Literatur176
Nachweise206

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