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E-Book

Die neue Arktis

Der Kampf um den hohen Norden

AutorMarzio G. Mian
VerlagFolio Verlag
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl180 Seiten
ISBN9783990371008
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis16,99 EUR
Wem gehört der Nordpol? Der Run auf die neue Arktis. Die Arktis, einst das ferne Land ewigen Eises, steht im Zentrum aller Debatten über den Klimawandel. Doch was Ökologen beunruhigt, ist für andere der Startschuss zu einer ungehemmten Ausbeutung der letzten unberührten Naturräume. Denn das Schmelzen von Gletschern und Packeis verkürzt die Schifffahrtsrouten und macht Bodenschätze im Wert der gesamten US-Wirtschaft zugänglich. Russland gewinnt bereits 85 % seines Erdgases aus der Arktis; ein chinesisches Unternehmen plant in Grönland die weltgrößte Mine für Uran und seltene Erden. Und längst ist auch die Militarisierung der Arktis in vollem Gange. Schon jetzt ist die Gefahr nuklearer Zwischenfälle höher als zur Zeit des Kalten Krieges. Industrieller Fischfang, aber auch ein ungebremster Naturtourismus bedrohen die Lebensgrundlagen der Inuit.

Marzio G. Mian zählt zu den wenigen internationalen Journalisten, die die Arktis systematisch bereist haben. Er ist Mitbegründer der Non-Proft-Organisation The Arctic Times Project (USA) und arbeitet regelmäßig u. a. für die RAI, Il Giornale, La Repubblica und L'Espresso. Neben Theaterstücken hat er ein Buch über den Balkankrieg geschrieben.

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Leseprobe

General Sommer


Wenn Niels Sakariassen einmal in dem Grab bestattet wird, das er in seinem Gemüsegarten ausgehoben hat, dann hat der Baumgeist gewonnen. Und die Minengiganten haben verloren.

Im Jahr 2009 hatte Niels sein Häuschen gerade fertig gebaut, als die australische Greenland Minerals and Energy (GME) bei Kernbohrungen auf der Kvanefjeld-Hochebene die weltweit größte Lagerstätte für Uran und Seltene Erden entdeckte – die achtzehn chemischen Elemente, die die globalisierte Welt für Supraleiter, Magnete, Handys, Glasfaser- und militärische Hochtechnologie so dringend braucht. Niels’ Haus fällt unter den roten, blauen, gelben und grünen Holzfertighäuschen, die wie zufällig zwischen den Felsen hingestreut sind, auf. Es ist das einzige in Narsaq aus Betonblocksteinen. Es steht am Ortsrand, auf einer Anhöhe, die sanft zum Meer hin abfällt und einen spektakulären Ausblick auf eine der erhabensten, unberührtesten Landschaften unserer Erde bietet. Auf eine Landschaft von unfassbarer, schwindelerregender Schönheit, die mich geradezu verwirrt. Kann das Stendhal-Syndrom etwa auch durch Naturerlebnisse ausgelöst werden? Vielleicht rührt mein Unwohlsein aber auch nur daher, dass sich kein passendes Gefühl für diese Landschaft einstellen will. Der Hang endet an einer Bucht nordöstlich von Narsaq, mit Hunderten von Eisbergen, die sich vom Inlandeis gelöst haben und mit unerbittlicher, sturer Trägheit in den indigoblauen Golf treiben, wo sie sich zu einer Art tiefgefrorenen Megastadt übereinanderschieben: Wolkenkratzer, Fabriken, Minarette und Kathedralen aus Eis. Immer wieder wird die Stille von Dröhnen und Donnern zerrissen: Dann brechen ganze Eiswände ab, die in der Ferne so riesig aussehen wie die Kreidefelsen von Dover oder die Pfeiler von Notre-Dame. Die einstürzenden Klippen lösen kleine Tsunamis aus und bei Tausenden Vögeln einen Sturm der Entrüstung. Dann suchen die gekalbten Eisberge nach einem neuen Gleichgewicht; sie überschlagen sich manchmal oder schwanken stundenlang hin und her. Dabei verändern sie ihre Form; wo das Eis schmilzt, entstehen türkisfarbene und an der Schwimmlinie aquamarinblaue Risse, die vor der grauweißen Wand, die sich über ihnen erhebt, umso stärker leuchten. Schließlich zieht das Gewölk weiter westwärts, Richtung Horizont. In der Dämmerung liegen die Eisberge zartrosa da; der Lichtkranz, der sie umgibt, erzählt vom Leben. Von Vergänglichkeit. Und auch Gewalt. „Grönland!“, rief der Maler Rockwell Kent, als er in einem ähnlichen Eisfjord Schiffbruch erlitt, „mein Gott, wie ist die Welt so schön!“

Niels hat in sein Haus ein besonders großes Fenster eingebaut. Wenn er zu Hause an Walross-Stoßzähnen schnitzt, möchte er den Ausblick genießen. Nördlich der großen Bucht endet die grönländische Eiskappe, als weißer Keil am bergigen Horizont, ein massiges, strahlendes Etwas, ein weißer Lavastrom, der aus einem bröckelnden Krater quillt. Dahinter erstrecken sich Tausende Quadratkilometer Eis: bis zum Nordpol, dem Nabel der Arktis im Reich des Kleinen Bären. „Auch meine Kinder und Kindeskinder sollen hier noch leben können“, sagt Niels. „Es ist ein glückliches Leben voll unbezahlbarer Momente. Kein anderes Leben könnte erfüllter und niemand zufriedener sein als ich.“ Der Blick aus den schmalen Augen verrät, wie sehr er sich nach einer Bestätigung sehnt.

Seit der Klimawandel in Grönland deutlich zu spüren ist, hat Niels schon sechs verschiedene Kartoffelsorten angebaut. Jährlich erntet er bis zu 600 Kilo, genug für Familie und Verwandte. Außerdem pflanzt er Rhabarber, Broccoli und Kohl. Und vor allem kleine Bäume, eine Miniaturbaumschule mit niedrigen Koniferen und Sträuchern aus der Familie der Weidengewächse, wie sie heute hauptsächlich in der amerikanischen Tundra wachsen. Hier in der Gegend wurde der Bestand ab der Zeit um 900 von einer Wikinger-Siedlung geplündert, um fünfhundert Jahre später mit der letzten Glazialzeit ebenso endgültig zu verschwinden wie sie. In Grönland gibt es heute keine Bäume mehr – bislang. Aber er denke vorausschauend, sagt Niels, er könne den Atem des Ortes spüren, mit dem Wind sprechen, das Licht entziffern. „Statt Bauholz aus Dänemark zu importieren, könnten wir selber Bäume anpflanzen, besonders hier im Süden. In zwanzig Jahren könnten wir autonom sein.“ Während er das sagt, läuft er aufgebracht über den abschüssigen, unebenen Boden zwischen seinen Bäumen und streicht über das spärliche Blattwerk, als verabschiede er sich von einer Herde auf dem Weg zur Schlachtbank. Ganz offensichtlich besteht zwischen den Blättern und seinen erdverschmierten Händen eine tiefe, bedrohte Verbundenheit. Nervös, mit hängenden Schultern geht der Inuit vor mir her, dreht sich ab und zu um und blickt mich aufgewühlt an. Seine gutturale Sprache klingt beinah wie ein Röcheln. „Alle denken nur an die Minen und sagen, dass wir nur durch sie schnell von Dänemark unabhängig werden können. Doch wozu, wenn unser Leben dann von den Minenkonzernen diktiert wird, wir Gifte einatmen und unsere Seele verlieren?“

Als Niels von den Minenplänen erfuhr, pflanzte er sofort ein Wäldchen und beschwor die Baumgeister. Das Grün sollte den Blick auf den Kvanefjeld-Berg verstellen, ein schamanischer Ritus, um die drohende Realität, den Beginn der Förderung, zu vertreiben. Und die Bäume haben gehorcht: Steht man hinter den Zweigen, kann man den Berg nicht mehr sehen. Ähnlich verhielten sich die Menschen bei der Belagerung von Sarajewo, als sie es vermieden, zum Jahorina-Gebirge hinaufzuschauen, um nicht von den serbischen Scharfschützen bemerkt zu werden. Wenn man das Böse nicht anblickt, hofften sie, würde es einen übersehen.

Doch die Investitionen und logistischen Vorarbeiten von GME sind gewaltig. So erstreckt sich zwischen Bucht und Talanfang mittlerweile ein vier Fußballfelder großer Hangar, und zudem ist die Regierung in der Liliput-Hauptstadt Nuuk (sechzehntausend Einwohner) entschlossen, den „historischen Schritt zu wagen“. Darum hat Niels die Baumgeister noch bei einer anderen Angelegenheit um Hilfe gebeten. Gemeinsam mit seinen Söhnen machte er ein weiteres handtuchgroßes Gartenstück urbar und hob es drei Meter tief aus. „Wenn ich eines Tages hier begraben werde, habe ich gewonnen und liege in meiner geliebten Erde. Wenn sie aber wirklich mit den Förderarbeiten beginnen, verlassen wir Narsaq – und Grönland. Dann werde ich in der Fremde sterben. Ich kann nicht zusehen, wie unser Planet ausgerechnet von meinem Land weiter vergiftet wird.“ Wie viele andere könnte Niels Narsaq schon bald verlassen, denn die Unterschrift unter den Vertrag scheint so gut wie ausgemacht. Auch, weil die grönländische Regierung GME erlaubte, die Umweltverträglichkeitskriterien mehrfach nachzubessern, um die Genehmigung und Konzessionsvergabe gegenüber einer allerdings ohnehin schwachen Opposition durchzusetzen. Laut Unterlagen der GME, die im September 2018 von der Tageszeitung The West Australian veröffentlicht wurden, hält Grönland die Mine mittlerweile für umweltverträglich: Sie soll 2020 in Betrieb gehen. Die Aussicht auf die Freigabe des Kvanefjeld-Komplexes hat die chinesische Shenghe Resources Holding, selbst bereits ein Gigant beim Abbau Seltener Erden, dazu bewogen, im Sommer 2018 die Mehrheit an der ursprünglich australischen GME zu erwerben, die nun als Greenland Minerals firmiert. Nach den Plänen der Gesellschaft soll an der dann eisfreien Bucht zudem ein Hafen entstehen, von dem aus riesige Schüttgutfrachter mit radioaktiver Ladung in Richtung China auslaufen.

In Narsaq geht es um nicht mehr und nicht weniger als den weltgrößten Uran-Tagebau, ausgerechnet in Grönland, der „letzten Welt“. Doch was in dem malerischen Örtchen passiert, steht für weit mehr. Grönland würde endgültig seine Einzigartigkeit und seine Unschuld verlieren, die es fernab der Menschheitsgeschichte über Jahrmillionen bewahren konnte. Lange war Grönland fast so weit weg wie der Mond. Doch jetzt könnte es zu einem neuen Afrika werden, zum Kongo des Nordens.

Der Nordpol zieht mit seiner magnetischen Anziehungskraft anscheinend auch die eklatantesten Widersprüche der Moderne an. Einerseits muss dieser Landstrich am teuersten für den Klimawandel bezahlen, andererseits eröffnen sich genau dadurch gigantische Möglichkeiten: neue Eroberungsgebiete, Machtchancen und Seehandelsrouten, ausgefallene Tourismusziele, ambitionierte Erschließungsprojekte, die Wohlstand versprechen, unendliche, noch unergründete Forschungsfelder auf dem Weg zum Fortschritt. Die Folgen der menschlichen Hybris sind hier besonders deutlich zu spüren: Der dramatische Kampf mit dem unvermeidlichen Gegenspieler wird genau hier ausgetragen. Und es geht um viel. Laut United States Geological Survey liegen in der Arktis Öl- und Gasvorräte im Wert von 18 Billionen Dollar, das entspricht der Gesamtwirtschaftsleistung der USA; 40 Prozent aller fossilen Brennstoffe und 30...

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