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Die neuen zehn Gebote

Wie Erziehungsexperten, Gesundheitsfetischisten und militante Nichtraucher zu den Priestern unserer Zeit wurden

AutorAndreas Lehmann
VerlagRiemann
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl192 Seiten
ISBN9783641164348
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
Gott ist tot? Es leben die Ersatzgötter!
Das Lamento ist stets das gleiche: Die Kirchen verlieren an Einfluss, die Gotteshäuser bleiben leer. Verschwindet etwa die Religion? Weit gefehlt! Religiosität treibt jetzt nur anderswo ihre Blüten. Andreas Lehmann spürt diese neuen »Religionen« auf, die uns heute Moral lehren. Bio ist der neue Katechismus der entkirchlichten Mittelschicht, Veganismus der Weg zur Weltrettung und der Raucher der Sünder schlechthin. Das Kind mutierte zum Sinnprojekt Nummer eins, und Experten streiten sich wie die alten Kirchenväter um die richtige Erziehung. Und ist Apple wirklich nur eine Marke und nicht vielmehr ein Kult? Intelligent und amüsant führt der Autor uns vor Augen, wie wir unsere Sehnsucht nach Religion unter den seltsamsten Umständen erfüllen.

Andreas Lehmann war viele Jahre Autor für diverse Zeitungen, Zeitschriften und das öffentlich-rechtliche Fernsehen. Seit einiger Zeit ist er Chefredakteur der Kulturzeitschrift DAS MAGAZIN. Was seinen Glauben betrifft, hält er es vorzugsweise mit Woody Allen: »Ganz ohne Frage gibt es eine Welt des Unsichtbaren - das Problem ist nur, wie weit ist sie vom Stadtzentrum entfernt, und wie lange hat sie offen?«

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Leseprobe

DAS ERSTE GEBOT

Ich bin Ich, mein Gott. Ich brauche niemanden neben mir.

EIGENTLICH

Ich bin der Herr, dein Gott. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.

Manchmal weiß man nicht mehr, wann genau der Zeitpunkt gekommen war, an dem sich zeigte, dass unser Bild von Gott nichts mehr mit dem von einem strengen, aber letztlich gütigen, uralten Mann mit weißem Rauschebart gemein hatte. An dem sich abzeichnete, dass dieses Bild und das Verhältnis überhaupt längst diffus geworden waren, undeutlich, verwirrend. Als wir nicht mehr wussten, wo Gott wohnt und wer das eigentlich sein soll. 

Wer also ist Gott – das war uns nicht mehr klar bis zu einer Nacht im März 2014, als auch den Letzten von uns ein Licht aufgegangen sein musste. In dieser Nacht nämlich wurde das wohl berühmteste Selfie aller Zeiten gemacht (zumindest das erste, das weltweit Bedeutung erlangte), und nach diesem Bild konnte man schwer umhin festzustellen, dass im Zentrum des Universums in unseren Tagen nur noch eins steht: nämlich das ICH. Vor allem das Bild vom ICH. Du sollst dir ein Bild machen, ist das neue, ultimative Motto, ein Bild von dir selbst, und du sollst es aller Welt zeigen.

Dieses Selfie aus dem März 2014 entstand während der Oscar-Verleihung in Los Angeles, verantwortlich dafür war die Moderatorin Ellen DeGeneres. Es war genau genommen gar kein »klassisches« Selfie. Ellen DeGeneres versammelte die Superstars des globalen Kino- und Glamour-Zirkus um sich (jene Götter, auf die wir gleich im zweiten neuen Gebot zurückkommen werden), unter anderem Jennifer Lawrence, Brad Pitt, Bradley Cooper, Meryl Streep und Julia Roberts, um mit ihrem Samsung-Smartphone ein Selbstporträt, eben ein Selfie von sich und den anderen zu knipsen und auf Twitter zu veröffentlichen; in der Wahrnehmung waren in dem Fall die anderen wichtiger als das Selbst, aber dennoch wurde mit diesem Foto der Begriff Selfie etabliert. Mit drei Millionen Retweets stellte das Bild sogleich auch einen absoluten Twitter-Rekord auf, und für kurze Zeit brachen unter der Last des Ansturms sogar die Server des Kurznachrichtendienstes zusammen. In den darauffolgenden Tagen wurde das Bild millionenfach im Netz, im Fernsehen, in Zeitungen und Zeitschriften gezeigt, gedruckt, retweetet, reproduziert. 

Abgesehen davon, dass Samsung in der Oscar-Nacht für rund 1,8 Millionen US-Dollar Werbespots in der Fernsehübertragung für sein Galaxy S5 Smartphone und die neue Smartwatch Gear 2 platziert hatte und das Ganze zusammen mit dem Selfie natürlich auch ein Marketingcoup gewesen ist, war das Ergebnis: Jeder Erdenbewohner wusste fortan, was ein Selfie ist und wie man es – nämlich kinderleicht – produziert. Und nahezu jeder Erdenbewohner, jedenfalls jeder, der ein kamerafähiges Mobiltelefon sein Eigen nennt, kannte ab sofort nur noch eine Blickrichtung: die auf sich selbst. Die auf das eigene Antlitz, auf das ICH, das nunmehr in den Vordergrund rückt und alles andere, Menschen oder Material, zur Staffage macht. 

Vorbei sind die Zeiten, als man noch jemanden fragen musste, ob er einen vor dem Kölner Dom oder mit Freunden am Tisch fotografieren würde, als Zeugnis, dass man da war, dabei war, fortan heißt es: Selbst ist der Mann beziehungsweise die Frau. Inzwischen hat man das Gefühl, dass es nicht mehr nur eine Menge Selfies gibt, sondern gar keine andere Fotografie mehr. Das Selfie ist der Beweis für die fundamentale Verschiebung in der Betrachtung der Welt, es ist der massenhaft produzierte und reproduzierte Ausdruck für eine westliche, digitale, zu den alten Religionen immer mehr auf Abstand gehende Spezies. Für diejenigen, für die Gott nicht mehr als ein im Himmel thronendes Wesen erscheint, denen das komplett abwegig und absurd vorkommt. Für die – wenn überhaupt – das Göttliche jetzt überall vorkommt. In der Natur, in allem, was lebt und existiert, vielleicht auch irgendwo in der – wie Esoteriker es nennen – »feinstofflichen« Welt. Ganz wahrscheinlich aber und naheliegend in uns selbst, im ICH eben. Wir sind nicht mehr nur einfach Gottes Kinder, sondern selbst Gott, ein bisschen Gott, Gottes Söhne oder Töchter, wie man es will. Wir sind unser eigenes Universum. Auf jeden Fall das, was im Zentrum all unserer Aufmerksamkeit, unserer Sehnsüchte, unseres Denkens steht. ICH, ICH, ICH. Für die modernen Menschen sei es charakteristisch, erklärte der Soziologe Georg Simmel bereits im Jahr 1917, dass »das Individuum nach sich selber suche, als ob es sich noch nicht hätte«, und zugleich doch sicher sei, »an seinem Ich den einzigen festen Punkt zu haben«. Hat es jetzt.

Ein ICH, das sich nicht nur durch schnöden Besitz materialisiert und zeigt, wie noch vor Jahren, als man noch stolz von »mein Haus, mein Auto, meine Jacht« auf einem Foto auf den Tisch knallte und zum Ausdruck brachte: ICH bin etwas, weil ich etwas habe, weil ich es zu etwas gebracht habe. Das ist heute zu billig und zu wenig. Jetzt geht es um das – um ein viel gebrauchtes Modewort zu benutzen – »ganzheitliche« ICH. Was es ausstrahlt, wie das ICH wirkt, über welche Erfahrungen das ICH verfügt. Welche Besonderheiten, welche Gefühle (das zuvörderst), ja sogar welchen Schmerz. Alles ist ICH-bezogen! Das ICH ist einzigartig, primär; das ICH überstrahlt alles und ist zum Maß aller Dinge geworden.

Die Selfie-Kultur ist perfekter Ausdruck und bildliche Entsprechung dessen: Es geht nicht mehr darum, dass wir den Blick auf etwas richten, auf andere Personen, die wir fotografieren, die Eltern vorm Weihnachtsbaum, die Freunde am Strand, das Kind beim Eis essen. Auf andere Dinge, vor den Resten der Berliner Mauer, auf dem Times Square, am Strand von Phuket. Es geht nicht mehr darum, mit dem Bild, mit dem Blickwinkel etwas zu suchen, etwas zu entdecken, zu staunen oder eine Erfahrung zu machen, sondern darum, dass man selbst, dass das ICH in den Mittelpunkt und den Vordergrund rückt. Das ICH ist die Erfahrung, die Entdeckung.

»Der sehr narzisstische Mensch hat eine unsichtbare Mauer um sich erstellt«, schrieb der deutsche Psychoanalytiker Erich Fromm einst. »Er ist alles, die Welt ist nichts – oder vielmehr: Er ist die Welt.« Der moderne Narzisst geht noch einen Schritt weiter, er ist nicht nur selbstverliebt und selbstsüchtig, er zeigt der Welt auch offensiv, dass er die Welt ist. Er ist dauerpräsent, er muss dauernd erscheinen. Das ICH ist permanent Thema. Die Titelschlagzeilen der Frauenzeitschrift Maxi im Jahre 2015 lauteten: »Ich glaub an mich!«, »Das ist schön an mir!«, »Ich liebe das Leben!«, »Ist das schön mit mir!« oder »Ich bleib mir treu«. Die der nicht minder redundanten, ICH-bezogenen Postille Myway: »Hallo Leben, hier bin ich!«, »Ich glaub an mich!« (schon wieder), »Ich bin dann mal glücklich!«, »Ich mach das jetzt einfach!« oder »Jetzt lebe ich meine Träume!« – alles tatsächlich immer mit Ausrufezeichen, damit man, besser gesagt: frau auch ja nicht zweifelt, sondern selbstgewiss an ihre ureigenen, göttlichen Kräfte glaubt.

Die modernen Narzissten drängen auf Bühnen und Bildschirme, sie schreiben, bloggen, gehen in den Big-Brother-Container und ins Sat1-Newtopia, wo sie zum »Pionier« ernannt und von einhundertfünf Kameras rund um die Uhr beobachtet werden. Was den Einzelnen dafür prädestiniert? Zumeist nichts. Er ist, und er will. Das reicht. Die Sucht, ständig das Licht der Öffentlichkeit zu suchen, kann nicht mehr einfach mit der lapidaren, eigentlich auf den amerikanischen Medienphilosophen Marshall McLuhan zurückgehenden Bemerkung Andy Warhols, dass in Zukunft jeder fünfzehn Minuten weltberühmt sein wird beziehungsweise sein will, erklärt werden. Warum nennt heutzutage jeder Hans Mustermann einen Facebook-Account sein Eigen, warum glaubt er, der ganzen Welt kundtun zu müssen, dass er in Osnabrück geboren ist und dort auch aufs Gymnasium ging, dass er Helene Fischer mag und Blumen? Woher dieses Mitteilungsbedürfnis, woher dieser Drang zur Selbstdarstellung? Warum gibt es fast dreihundert Millionen Menschen, die über Twitter ihre Mini-Botschaften verbreiten, die nicht selten darin bestehen, der Welt irgendetwas mitteilen zu müssen, das doch im Grunde niemanden interessiert und auch niemanden etwas angeht? »Ich genieße gerade gemeinsame Zeit mit meinem Verlobten – das ist genau das, was ich gebraucht habe.« (Miley Cyrus)

Bezeichnend die »Entdeckung« von Twitter im ZDF während der Fußballeuropameisterschaft 2012: Nach einem Spiel wurde von der etwas überdrehten »Twitter-Expertin« der Redaktion für den im Studio (beziehungsweise es war draußen, am Heringsdorfer Strand) anwesenden Experten und Ex-Fußballstar Oliver Kahn ein Twitter-Account eingerichtet. Zuvor hatte das ZDF einen Wettbewerb ins Leben gerufen, bei dem ein origineller Twitter-Name für Oliver Kahn gesucht wurde. Das wahnsinnige Ergebnis: @OliverKahn. Dann ging es um den ersten Tweet, den Kahn absetzen sollte. Man beugte sich, wie eine Zeitung schrieb, über einen Laptop, als würde man gleich eine Mars-Rakete starten, Herr Kahn runzelte die Stirn, suchte nach Worten und einer weltbewegenden Botschaft, heraus kam die ungemein bedeutungsschwangere Zeile: »wir werden #europameister!!!«, natürlich mit drei Ausrufezeichen. Ganz ähnlich war das, als der Papst seinen ersten Tweet absetzte: Er saß an einem Holztisch, von Kardinälen umringt, vor einem iPad, und startete die neue Nachrichten-Website des Vatikans News.va. Die Verkündigung des Ereignisses besorgte der Heilige Vater persönlich via Twitter mit seinem ersten Tweet. Die...

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