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E-Book

Die Nummer auf deinem Unterarm ist blau wie deine Augen

Erinnerungen

AutorEva Umlauf, Stefanie Oswalt
VerlagHoffmann und Campe Verlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl272 Seiten
ISBN9783455851618
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis10,99 EUR
'Vergessen Sie das Kind, es wird nicht leben.' Mit diesen Worten wird Eva Umlaufs Mutter Anfang 1945 in Auschwitz konfrontiert. Ihre Tochter ist mit zwei Jahren eine der Jüngsten im Lager, ist, abgemagert und todkrank. Eva Umlauf wird sich später nicht an diese Zeit erinnern können, und dennoch schlummert das Erbe ihrer Vergangenheit unter der Oberfläche und prägt ihren gesamten Lebensweg.

Eva Umlauf, geboren 1942 in Novaky, einem »Arbeitslager für Juden« in der Slowakei, überlebte Auschwitz. Sie promovierte in Kinderheilkunde in Bratislava und ging 1967 nach München, wo sie zunächst als Klinikärztin arbeitete. Später betrieb sie eine Kinderarztpraxis und ist bis heute als Psychotherapeutin tätig. 2011 sprach Eva Umlauf bei der Gedenkfeier in Auschwitz, seither engagiert sie sich als Zeitzeugin.

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Leseprobe

Kapitel 2 Geburt in Nováky


Dezember 1942

Wo aber liegt dieser Anfang? Es ist, als bewegte ich mich in einen dichten Nebel hinein. Bald bin ich ganz von zähen Schwaden umfangen, das Atmen fällt mir schwerer, ich taste mich zögerlich voran. Es gibt Stellen, an denen die Schwaden lichter werden.

Naturgemäß habe ich keine eigene Erinnerung, denn die autobiographische Erinnerung, soviel weiß die Gedächtnisforschung heute, setzt frühestens mit dem dritten Lebensjahr ein. Zwar speichert das Gehirn schon sehr früh Gerüche und Geschmackseindrücke – beides ist für den Säugling, das Kleinkind überlebenswichtig, doch zum bildlichen Erinnern bedarf es der Sprache und einer Vorstellung der eigenen Persönlichkeit. Dazu reift das Gehirn aber erst nach dem zweiten Lebensjahr allmählich heran.

Trotzdem wissen wir natürlich oft von den Umständen unserer Geburt. Eltern, Verwandte und Freunde formen mit ihren Erzählungen die Vorstellungen von unserem Anfang. Der Nebel ist also nicht das Fehlen der eigenen Erinnerung, es ist das fehlende Wissen über meine Wurzeln, denn meine Mutter – und sonst gab es in meiner Umgebung kaum einen Nahestehenden mehr, der mir von den Familien meiner Eltern hätte berichten können – brachte nur Fragmente ihrer Erinnerung über die Lippen. Schon als Kind respektierte ich intuitiv die unausgesprochenen Grenzen, unternahm zwar einige zaghafte Anläufe, Näheres zu erfahren, forschte aber nicht eigenständig nach oder insistierte. Treffend hat dies der französische Schriftsteller Marcel Cohen beschrieben, auch er ein überlebendes Kind, das später von seinem Onkel etwas über die ermordeten Eltern erfahren möchte: »Jede Nötigung, mehr preiszugeben als das bereits hundertmal Erzählte – das ihn nicht mehr aufwühlte –, wäre unmenschlich gewesen.«[2] So empfand ich das auch: Tiefer in meine Mutter einzudringen stand mir nicht zu. Ich hätte sie, die ich so liebte, unerträglich gequält. Und zugleich litt ich am Nichtwissen. Ein Dilemma.

Andere Überlebende haben zwar auch nicht mit ihren Kindern und Enkeln über ihre Vergangenheit gesprochen, aber sie haben ihre Geschichten wenigstens für historische Archive zur Verfügung gestellt – etwa der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem oder der Shoah Foundation, einer Stiftung des amerikanischen Regisseurs Steven Spielberg. Sie allein hat mehr als 51000 Zeugnisse in 32 Sprachen videographisch festgehalten, und abgesehen von diesen beiden großen Initiativen gibt es zahlreiche kleine.

Blicke ich zu meinen Anfängen zurück, kommen mir zwei Episoden in den Sinn. Immer wieder, vornehmlich an meinem Geburtstag, wenn wir in der Familie bei einer selbstgebackenen Torte beisammensaßen, erzählte meine Mutter uns vom Tag meiner Geburt.

»Der 19. Dezember war ein bitterkalter Tag. Es gab Hebammen im Lager, und eine von ihnen assistierte mir bei der Niederkunft, die in der kleinen Kammer stattfand, die dein Vater und ich damals bewohnten. Sie brachte heißes Wasser, aber der Raum war unbeheizt. Es war so kalt, dass das Wasser binnen kürzester Zeit mit einer Eisschicht überzogen war.«

»War es eine schwierige Geburt?«, wollte ich wissen. Sie seufzte.

»Weißt du, Evička, ich war ja so jung und völlig ahnungslos. Ich wusste nicht, welch ungeheure Schmerzen man bei einer Geburt erlebt.«

Bei jeder Wehe habe sie gerufen: »Imrischko, was hast du mir bloß angetan?« Imrischko – kleiner Imrich. Ich halte inne und lausche dem Wort nach, das ich lange vergessen habe und das mir beim Schreiben wieder einfällt. Wie selten hat sie meinen Vater mir gegenüber mit diesem Kosewort bezeichnet.

»Aber letztlich verlief die Geburt ohne Komplikationen. Nach zweieinhalb Stunden warst du da: 3200 Gramm, ein gesunder, rosiger Säugling.«

Eine Art Frauenstolz schwang in dieser Erzählung mit, dass es ihr so leicht gefallen war, Kinder auf die Welt zu bringen. Und das trotz der widrigen Umstände im Lager. Denn kaum war ich aus ihrem Bauch heraus, fing ich an zu schreien und beruhigte mich nicht. Das angefrorene Wasser in der Waschschüssel musste wieder erhitzt werden, um das Baby von der Geburt zu säubern. Es dauerte ewig und wollte nicht gelingen: So badete mich die Hebamme schließlich im lauwarmen Wasser.

Je mehr ich mich mit den historischen Umständen beschäftigt habe, desto verständlicher wird mir, warum meinen Eltern meine glückliche Geburt wie ein Wunder erscheinen musste. Schließlich war Nováky eines von drei sogenannten »Arbeitslagern für Juden«, die der slowakische Staat 1941 eingerichtet hatte. Der Dreiklang – Arbeitslager, Juden, 1941 – weckt meine schlimmsten Assoziationen, aber ganz offensichtlich herrschten dort besondere Bedingungen, unter denen ein gesunder Säugling geboren werden und gedeihen konnte.

 

Meine Mutter gab mir den Namen Eva Maria, ein Name, der bei meinen jüdischen Freunden und in der jüdischen Gemeinde immer wieder Irritationen hervorruft. Warum »Maria« und nicht die hebräische Variante »Miriam«? Warum ausgerechnet den Namen der von den Christen als »Gottesmutter« verehrten Heiligen, und das in einer Zeit, da die meisten Katholiken in der Slowakei sich bedenkenlos auf die Seite der Mörder schlugen? Ob sich meine Mutter über solche Fragen Gedanken gemacht hat? Ich kann es mir kaum verstellen. Als Tochter aus jüdisch-assimilierter Familie trug sie selbst sogar einen germanischen Namen: Agnes Gertrud. Schon ihre Großmutter, Mitte des 19. Jahrhunderts geboren, hieß Theresia, worin sich mit Sicherheit auch eine Wertschätzung der österreichischen Kaiserin Maria-Theresia und des Hauses Habsburg ausdrückte. Auch Maria, so fand ich erst unlängst in einem Stammbaum meiner Familie, kam in der mütterlichen Linie als erster oder zweiter Vorname immer wieder vor. So trage ich die Namen der beiden biblischen Urmütter: Eva, hebräisch Chava, die Lebenspendende, die eigenmächtig vom Baum der Erkenntnis den Apfel aß und aus dem Paradies vertrieben wurde. Und Maria, im christlichen Glauben gewissermaßen die Gegenspielerin Evas, die Heilsbringerin, Mutter eines unehelichen Sohnes, der als Retter der Welt verklärt wird. Maria, die Trösterin …

 

Die zweite Geschichte zu meiner Geburt stammt von Štefania Schlesinger, genannt Šteffka. Sie war zwei Jahre älter als meine Mutter und wurde im Lager Nováky ihre engste Freundin. Zeitlebens liebte ich diese zierliche blonde Frau wie eine Tante, später wurde sie eine enge Vertraute.

»Am Tag deiner Geburt wollte ich wie jeden Morgen deine Mutter abholen, um mit ihr zusammen zu den Werkstätten zu gehen. Normalerweise standen die Fenster der kleinen Kammer deiner Eltern morgens offen. Wie jede gute slowakische Hausfrau legte deine Mutter nämlich nach dem Aufstehen die Bettdecken zum Lüften ins Fenster. An diesem Tag aber waren die Fenster geschlossen. ›Was ist los mit Agi‹, fragte ich mich. ›Hat sie verschlafen oder ist sie faul?‹ Schon als ich die Stiegen hinaufging, hörte ich ein Baby schreien. Das warst du.«

 

Beide Frauen erinnerten sich an die große Freude, die meine Geburt – es war die erste von fünfen in Nováky – nicht nur bei ihnen selbst, sondern auch bei allen anderen auslöste. Die Tatsache, dass in einem jüdischen Zwangsarbeiterlager ein gesundes Kind geboren wurde, erfüllte die Leidensgenossen mit Hoffnung, und es weckte in ihnen Solidarität und Hilfsbereitschaft. Der in der Slowakei bekannte Schriftsteller Juraj Špitzer hat dies auch literarisch verarbeitet. In seiner 1994 erschienenen Autobiographie Ich wollte kein Jude sein berichtet er über die Rückkehr des Lagerarztes Jakob Špira von meiner Geburt:

»Ich erinnere mich, als Špira bekannt gab, dass im Lager ein erstes Kind geboren worden war. Wenn dieses Menschlein die Zeit erlebt, dass es schreiben kann, wird es als Geburtsort ›Lager Nováky‹ angeben. Ich habe seinen Gesichtsausdruck vor Augen. Er hat vergessen, dass Krieg ist, dass wir Häftlinge sind. Nach dem alten Brauch hat er Gott für das neue Leben gedankt. Špira hat dem Leben geholfen, weil er wusste, dass das Leben mehr ist als Gefängnis und Todesdrohung, weil er glaubte, dass es Gottes Werk ist.«[3]

 

Auch meine Mutter sagte mir immer: »Du warst ein Zeichen des Lebens in einer Zeit der Verfolgung und des Todes«, und ich denke mir heute: Es war auch ein Zeichen des Widerstands gegen die Unterdrücker. Sie erzählte dann meist weiter, mit welcher Begeisterung die Frauen und die Alten mir später beim Essen von Mohnnudeln zugesehen hätten: »Mit bloßen Händen hast du nach den süßen Nudeln in der Schüssel gegriffen und sie dir in den Mund gestopft. Es war eine große Schmiererei: Der Mohn kleckerte überallhin. Alles war verklebt: Teller, Boden, das ganze Kind.« Sogar Butter, habe ich unlängst herausgefunden, gab es damals im Lager. Es war, so verstehe ich das heute, für alle ein kostbarer Augenblick unbeschwerter Normalität. Denn dass meine Mutter das Glück über ihre gerade geborene Tochter damals uneingeschränkt empfinden konnte, scheint mir eher zweifelhaft.

 

Meine Mutter, Agnes Eisler, wurde am 20. September 1923, an Jom Kippur, dem jüdischen Versöhnungstag, geboren. Sie war also bei meiner Geburt neunzehn Jahre alt. In den Monaten zuvor hatte sie alles verloren, was ihr Leben bis dahin ausgemacht hatte: ihre...

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