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Die offene Stadt. Eine Ethik des Bauens und Bewohnens

AutorRichard Sennett
VerlagHanser Berlin
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl384 Seiten
ISBN9783446261563
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis25,99 EUR
Im Jahr 2050 werden zwei Drittel aller Menschen in Städten leben - wie können Bewohner mit unterschiedlichen kulturellen und religiösen Hintergründen eine friedliche Koexistenz führen? Richard Sennett stellt die Frage nach der Beziehung zwischen urbanem Planen und konkretem Leben: Wie hat sie sich historisch gewandelt? Wie kann eine offene Stadt aussehen, die geprägt ist von Vielfalt und Veränderung - und in der Bewohner Fähigkeiten zum Umgang mit Unsicherheiten entwickeln? Richard Sennett zeigt, warum wir eine Urbanistik brauchen, die eine enge Zusammenarbeit von Planern und Bewohnern einschließt und voraussetzt - und dass eine Stadt voller Widersprüche urbanes Erleben nicht einengt, sondern bereichert.

Richard Sennett lehrt Soziologie und Geschichte an der London School of Economics und an der New York University. Er ist der Autor von u. a. 'Der flexible Mensch'. 'Die offene Stadt' ist nach 'Zusammenarbeit' (2012) und 'Handwerk' (2008) der dritte Teil seiner Homo-Faber-Trilogie.

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Leseprobe

 

 

1  EINLEITUNG: KRUMM, OFFEN, BESCHEIDEN

 

Krumm


 

Im frühen Christentum stand »Stadt« für zwei Städte: die Stadt Gottes und die des Menschen. Augustinus benutzte die Stadt als Metapher für den göttlichen Glaubensplan, aber die antiken Leser seiner Schriften, die durch die Straßen und über die Märkte oder Foren Roms wanderten, fanden dort keine Hinweise darauf, wie Gott sich als Stadtplaner betätigen mochte. Auch als diese christliche Metapher verblasste, hielt sich weiter der Gedanke, dass »Stadt« zwei verschiedene Dinge bedeutete – einen physischen Ort und eine aus Wahrnehmungen, Verhaltensweisen und Glaubensüberzeugungen bestehende Mentalität. Die französische Sprache fasste diese Unterscheidung als erste in zwei verschiedene Wörter: ville und cité.1

Anfangs standen diese Begriffe für groß und klein: ville bezog sich auf die ganze Stadt, cité auf einen bestimmten Ort. Irgendwann im 16. Jahrhundert wurde cité zur Kennzeichnung der Lebensweise in einem Viertel, der Haltung der dortigen Bewohner gegenüber Nachbarn und Fremden und der Bindung an einen Ort. Diese alte Unterscheidung ist inzwischen zumindest in Frankreich verblasst; cité verweist heute meist auf jene trostlosen Viertel an den Rändern der Städte, in denen die Armen hausen. Der alte Wortgebrauch hat indessen Vorzüge, die eine Wiederbelebung rechtfertigen könnten, trifft er doch eine grundlegende Unterscheidung: Die gebaute Umwelt ist eine Sache; wie die Menschen wohnen, eine andere. Die Verkehrsstaus in den schlecht geplanten New Yorker Tunneln gehören heute zur ville, während das Hamsterrad, das viele New Yorker morgens in die Tunnel treibt, zur cité gehört.

Der Ausdruck cité verweist nicht nur auf die Anthropologie der cité, sondern auch auf ein bestimmtes Bewusstsein. Proust beschreibt, wie seine Figuren die Werkstätten, Wohnungen, Straßen und Paläste ihrer Stadt wahrnehmen. Aus diesen Wahrnehmungen setzt er ein Bild von Paris zusammen und erschafft so eine Art Ortsbewusstsein. Ganz anders Balzac. Er erzählt, was in der Stadt wirklich geschieht, ganz unabhängig davon, was seine Figuren denken mögen. Das cité-Bewusstsein kann auch zum Ausdruck bringen, wie die Menschen gemeinsam leben wollen, etwa während der Pariser Aufstände des 19. Jahrhunderts, als die Aufständischen ihre Ziele eher allgemein formulierten, statt spezielle Forderungen nach niedrigeren Steuern oder einer Senkung der Brotpreise zu erheben. Sie setzten sich für eine neue cité ein, das heißt für ein neues politisches Denken. Tatsächlich besteht eine große Nähe zwischen cité und citoyen, dem französischen Wort für Staatsbürger.

Der englische Ausdruck »built environment«, gebaute Umwelt, wird der Idee der ville nicht gerecht, sofern man damit das Schneckenhaus meint, in dem der lebende Körper der Stadt Schutz findet. Gebäude sind nur selten isolierte Tatsachen. Urbane Formen besitzen ihre eigene innere Dynamik, etwa im Blick auf ihr Verhältnis untereinander, zu freien Flächen, zur unterirdischen Infrastruktur oder zur Natur. So untersuchte man vor dem Bau des Eiffelturms in den 1880er Jahren auch andere, weit von seinem endgültigen Platz entfernte Standorte im Pariser Osten, um seine Auswirkungen auf die gesamte Stadt abzuschätzen. Auch vermag die Finanzierung des Turms dessen Gestaltung nicht allein zu erklären. Denselben riesigen Geldbetrag hätte man auch für ein Monument ganz anderer Art ausgeben können, zum Beispiel für eine triumphale Kirche, wie Eiffels konservative Kollegen sie bevorzugten. Als der Bau jedoch beschlossen war, gab es hinsichtlich der Form des Turmes durchaus Entscheidungsspielräume, und sie wurden nicht allein von den Umständen diktiert: Gerade Streben wären viel billiger gewesen als gebogene, aber Eiffels Vision war nicht bloß von Effizienz bestimmt. Das gilt auch in einem allgemeineren Sinne: Die gebaute Umwelt ist mehr als nur ein Spiegelbild der Ökonomie und der Politik. Jenseits dieser Bedingungen sind die Formen der gebauten Umwelt das Ergebnis des Willens ihrer Erbauer.

Man würde denken, cité und ville sollten nahtlos zueinanderpassen: Wie die Menschen leben wollen, sollte auch seinen Ausdruck in der baulichen Gestaltung der Stadt finden. Aber genau hier liegt ein großes Problem. Was man in einer Stadt erlebt, ist wie im Schlafzimmer oder auf dem Schlachtfeld nur selten stimmig und harmonisch, sondern weitaus häufiger voller Widersprüche und schartiger Kanten.

In einem Aufsatz über kosmopolitisches Leben schrieb Immanuel Kant 1784: »Aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden.« Städte sind krumm, weil sie von Unterschieden geprägt sind, voller Einwanderer mit Dutzenden von Sprachen; weil die Ungleichheit dort so offenkundig wird, wenn vornehme Damen nur wenige Blocks entfernt von erschöpften Reinigungskräften speisen; wegen der psychischen Belastungen, wie denen von übermäßig vielen Hochschulabsolventen auf der Jagd nach zu wenigen Jobs … Kann die physische ville solche Schwierigkeiten richten? Werden Pläne zur Umwandlung einer Straße in eine Fußgängerzone irgendetwas an der Wohnungsnot ändern? Wird der Einbau von feuerfestem Glas in Gebäude die Menschen toleranter gegenüber Einwanderern machen? Die Stadt scheint in dem Sinne krumm zu sein, dass ihre cité und ihre ville von Asymmetrie geplagt sind.2

Gelegentlich ist es durchaus richtig, wenn keine Übereinstimmung zwischen den Werten der Baumeister und denen der Öffentlichkeit besteht. Zu solchen Divergenzen sollte es kommen, wenn Menschen sich weigern, mit Nachbarn zusammenzuleben, die anders sind als sie. Viele Europäer finden muslimische Immigranten unerträglich. Weite Teile der Angloamerikaner meinen, mexikanische Immigranten sollten deportiert werden. Und von Jerusalem bis Mumbai fällt es den Anhängern unterschiedlicher Religionen schwer, gemeinsam am selben Ort zu leben. Eine Folge dieser sozialen Abstoßung zeigt sich in den geschlossenen Wohnanlagen, die heute in aller Welt die beliebteste Form neuer Wohngebiete darstellen. Der Städtebauer sollte sich in diesem Fall gegen den Willen des Volkes stellen und sich weigern, geschlossene Wohnanlagen zu bauen. Hier gilt es, sich im Namen der Gerechtigkeit gegen Vorurteile zu wenden. Aber es gibt keine einfache Möglichkeit, Gerechtigkeit in physische Form umzusetzen – wie ich schon in jungen Jahren bei einem Planungsjob feststellte.

Anfang der 1960er Jahre sollte in einem Bostoner Arbeiterviertel eine neue Schule gebaut werden. Dabei stellte sich die Frage nach Rassenintegration oder Rassentrennung, wie sie damals in den meisten Arbeitervierteln herrschte. Falls Rassenintegration angestrebt wurde, mussten wir als Planer große Parkflächen und Haltezonen für Busse vorsehen, die schwarze Kinder in die Schule brachten und nach Schulschluss wieder abholten. Die weißen Eltern widersetzten sich der Integration auf verdeckte Weise, indem sie behaupteten, die Stadt brauche mehr Grünflächen und nicht noch mehr Parkplätze. Planer sollten ihres Erachtens der Gemeinde dienen, statt ihr fremde Werte aufzuzwingen. Mit welchem Recht wollten Leute wie ich – in Harvard ausgebildet und bewaffnet mit Statistiken über die Rassentrennung und makellos ausgeführten Plänen – den Busfahrern, Reinigungskräften und Industriearbeitern in South Boston vorschreiben, wie sie zu leben hätten? Ich bin froh, dass meine Vorgesetzten standhaft blieben. Sie erlagen nicht dem Klassenschuldbewusstsein. Dennoch lässt sich die Kluft zwischen Gelebtem und Gebautem nicht einfach dadurch überbrücken, dass der Planer ethische Standhaftigkeit beweist. In unserem Fall machte das die Dinge nur noch schlimmer, und unsere demonstrative Tugendhaftigkeit führte nur zu noch mehr Zorn in der weißen Öffentlichkeit.

Das ist das ethische Problem in den heutigen Städten. Sollte Stadtplanung die bestehende Gesellschaft repräsentieren oder sie zu ändern versuchen? Falls Kant recht hat, ist es nicht möglich, ville und cité reibungslos zur Übereinstimmung zu bringen. Aber was ist dann zu tun?

 

 

Offen


 

Ich glaubte, eine Antwort darauf gefunden zu haben, als ich vor zwanzig Jahren Stadtplanung am MIT lehrte. Nicht weit von meinem Büro befand sich das Media Lab, das für meine Generation als Epizentrum der Innovation in der neuen digitalen Technologie glänzte und innovative Ideen in praktische Ergebnisse umsetzte. Zu den Projekten dieser 1985 von Nicholas Negroponte gegründeten Einrichtung gehörten superbillige Computer für arme Kinder, medizinische Prothesen wie das Roboterknie und »digitale Kleinstadtzentren«, die es Menschen in entlegenen Gebieten ermöglichen sollten, auf elektronischem Weg am Leben in großen Städten teilzuhaben. Der Schwerpunkt auf gebaute Objekte machte das Media Lab zu einem Paradies für Handwerker. Dieses glorreiche Vorhaben ging einher mit zahlreichen heftigen Debatten, dem Sprung hinunter in technologische Kaninchenhöhlen und jeder Menge Ausschuss.

Die zerzausten Forscher des Media Lab – die niemals zu schlafen schienen – erklärten den Unterschied zwischen Projekten auf »Microsoft-Ebene« und solchen auf »MIT-Ebene« folgendermaßen: Microsoft-Projekte packen vorhandenes Wissen zusammen, während MIT es entpackt. Ein beliebter Zeitvertreib bestand darin, Microsoft-Programme auszutricksen und scheitern oder abstürzen zu lassen. Ob fair...

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