Um sich den Grundlagen anzunähern, welche für eine Entscheidungsfindung im Nachtrennungsprozess notwendig erscheinen, seien in diesem Kapitel zunächst überblickartig die Scheidungsfolgen für Kinder anhand aktueller Fachliteratur präsentiert. Daran schließen relevante Aspekte der Bindungstheorie und das von Brazelton und Greenspan dargestellte Konzept der Bedürfnisorientierung an. Mithilfe dieser Erkenntnisse werden sodann erste Schlussfolgerungen für die ausgewählte Forschungsfrage gezogen.
An dieser Stelle der Arbeit werden damit zunächst die vermuteten Bedürfnisse der Kinder betrachtet. Die ihnen zustehenden Rechte finden im nächsten Kapitel als Basis einer qualifizierten Wahl der Betreuungsform explizit Erwähnung.
Die Scheidungsfolgenforschung hat in den letzten Jahren unterschiedliche Perspektiven hinsichtlich der Auswirkungen auf betroffene Kinder dargeboten. Dabei wird einerseits von einer Scheidung als meist sehr belastendes Erlebnis für Kinder gesprochen, welches sie in ihrem Verhalten, in den schulischen Leistungen, gesellschaftlichen Beziehungen, wie auch dem psychischen Wohlbefinden und ihrem Selbstkonzept negativ beeinflusst (vgl. Walper / Bröning 2008: 578). Andererseits wurden auch gegenteilige Stimmen laut: „Manche Scheidungskinder sind sozial kompetenter und weniger sozial auffällig als Kinder aus Zweielternfamilien“ (Hötker-Ponath 2008: 5). „Sie werden nicht selten zu ungewöhnlich verantwortungsbewussten, belastbaren und zielstrebigen jungen Erwachsenen“ (Walper 2010: 11). Es kann festgehalten werden, dass keine Homogenität bezüglich der Scheidungsfolgen bei Kindern existiert. Vielmehr müssen die familiären Bedingungen vor der Scheidung, die Umstände der Trennung, sowie die den Kindern zur Verfügung stehenden Bewältigungsressourcen als Ganzes betrachtet werden, um die differentiellen Entwicklungsverläufe nachvollziehen zu können (vgl. Walper / Fichtner 2011: 91).
Insgesamt lässt sich die Überwindung einer stark defizitären Perspektive durch den Wechsel von dem sogenannten „Krisenmodell“, hin zum „Reorganisationsmodell“ erkennen (vgl. Walper 2002: 26). Es wird deutlich, dass sich die Familie als System nicht auflöst, sondern wandelt und umstrukturiert (vgl. Schmidt-Denter 2001: 293). Verschiedene Langzeitstudien zeigen auf, welche Faktoren bei diesem Wandel eine Rolle spielen. Die Virginia Longitudinal Study of Divorce and Remarriage erkannte die besondere Bedeutung der Beziehungen und Interaktionen innerhalb der Familie. Genauer stellte die Kölner Längsschnittstudie heraus, dass insbesondere „ungelöste Partnerschaftsprobleme der Eltern, Beeinträchtigungen des elterlichen Erziehungsstils und ein vom Kind als negativ erlebte Beziehung zum getrennt lebenden Vater als zentrale Risikofaktoren für den Entwicklungsverlauf der Kinder“ eingestuft werden können (Walper 2002: 27).
Bei den im Folgenden dargestellten Auswirkungen einer Scheidung handelt es sich zunächst um externe Geschehnisse, welche das Kind regelmäßig erlebt und die es beeinflussen.
Trennungsfolgen können in primäre, also sich unmittelbar aus der Scheidung ergebende, und sekundäre, d. h. nicht zwingende aber meist typisch für eine elterliche Trennung, unterschieden werden. Unter Primärfolgen einer Trennung wird beispielsweise der Verlust eines Elternteils, der ökonomische Abstieg des alleinerziehenden Elternteils und seiner Kinder, die Belastung der Kinder durch Konflikte zwischen den Eltern und die psychische Verfassung des alleinerziehenden Elternteils verstanden (vgl. Sünderhauf 2013c: 218f). Bezüglich der finanziellen Not haben Studien aus Amerika gezeigt, dass 50% der Probleme eines Nachscheidungskindes mit den ökonomischen Schwierigkeiten der alleinerziehenden Mutter einhergehen (vgl. Walper 2010: 11).
Als Sekundärfolgen zählen ein sich durch die Scheidung ergebener Umzug und damit der Verlust des Wohnumfeldes und ein Wechsel der Schule, der Verlust weiterer Beziehungen und die Gründung einer Zweitfamilie (vgl. Sünderhauf 2013c: 219). Es sei hinzuzufügen, dass sich diese von Sünderhauf genannten Aspekte nicht immer zwingend ergeben auch nicht per se als negativ eingestuft werden müssen. So kann beispielsweise die mit der Gründung einer Zweitfamilie einhergehende Geburt von Halbgeschwistern ebenso eine Bereicherung für das Scheidungskind darstellen.
Diesen als Stressoren bezeichneten kindlichen Belastungen können verschiedene Ressourcen entgegengestellt werden, welche helfen können, die Trennung und Scheidung der Eltern ohne psychische Beeinträchtigung zu überstehen. Dazu zählen eine enge Eltern-Kind-Beziehung, innerpersonale Ressourcen und Faktoren und letztlich externe Ressourcen. Eine enge Eltern-Kind Beziehung meint unter anderem die durch beide Eltern erbrachte emotionale Bindung zu ihnen, eine erzieherische Begleitung, das Vorleben eines positiven Rollenbildes wie auch die finanzielle Versorgung. Mit innerpersonalen Ressourcen ist besonders der kindliche Charakter gemeint. Resilienz, Ausgestaltung der Persönlichkeit und das Temperament des Kindes, wie auch sein Alter und Reifegrad, sind hinzuzuzählen. Das Vorhandensein eines sozialen Netzwerkes und die Beziehungen zu anderen Bezugspersonen sind als externe Ressourcen zu verstehen. (vgl. ebd.: 225).
Weiterhin ist es entscheidend, dass sich die Eltern der aus der Scheidung entstehenden Folgen für ihre Kinder bewusst sind. Verdrängen oder bestreiten sie die direkten und indirekten damit einhergehenden Probleme, so erscheint dies als besonders bedrohlich (vgl. Hötker-Ponath 2008: 3).
Ein besonderes Augenmerk sollte, wie bereits erwähnt, auf die Beziehung zwischen den Eltern gelegt werden, da diese auch als Indikator dafür zu sehen ist, wie gut die Kinder die Trennung verkraften. Ist die Atmosphäre zwischen Mutter und Vater konfliktgeladen, so geht dies mit einer starken Belastung für die Kinder einher (vgl. Walper / Fichtner 2011: 91f). Dabei muss bedacht werden, dass Konflikte nicht per se als negativ zu verstehen sind. Sie kommen in allen zwischenmenschlichen Beziehungen vor, dienen der Vermittlung von Sichtweisen und regen eventuell notwendige Veränderungen innerhalb einer Beziehung an. Werden sie erfolgreich ausgetragen, so kann dies der Beziehung Stabilität verleihen und dem Wohlbefinden der Parteien dienen (vgl. ebd.: 93). Davon können demnach auch die Kinder hinsichtlich eigener Konfliktfähigkeit profitieren. Ein weiterer Grund dafür, Streitigkeiten nicht vor den Kindern zu verheimlichen, besteht in der drohenden Gefahr, sie mit der Trennung der Eltern sonst besonders schwer zu treffen. Wenn sie keinen Grund für die Scheidung erkennen können und diese auch nicht haben kommen sehen, leiden sie häufig auch noch im Erwachsenenalter unter den Folgen (vgl. Walper 2010: 10). Findet der Trennungsprozess ohne Hochkonflikthaftigkeit statt, sind also keine langjährigen, hartnäckigen und vor Gericht allinstanzlich ausgetragenen Streitigkeiten zu verzeichnen, so haben sich die meisten Kinder nach zwei bis drei Jahren psychisch wieder erholt und finden sich in den neuen familiären Strukturen zurecht (vgl. ebd.)
Sind die Konflikte aber besonders stark und werden sie von den Eltern destruktiv ausgetragen, ist dies so belastend für die betroffenen Kinder, dass ihre Beendigung durch eine Trennung zu einer Entlastung führen kann (vgl. Walper / Fichtner 2011: 96). Bestehen die Konflikte auch nach der Trennung noch weiter und werden sie dabei womöglich noch offen ausgeführt, so sind hier erhebliche Belastungen für ihre Kinder zu erwarten. Retroperspektivstudien haben diesbezüglich gezeigt, dass sich die Entwicklung und Reaktionen von Kindern entsprechend dazu verhält, wie stark sie in die elterlichen Konflikte einbezogen waren (vgl. ebd.: 98). Die Verwicklung in Loyalitätskonflikte, der Missbrauch der Kinder als Bündnispartner und der Einbezug in nicht altersentsprechende Gespräche führt zu einer Überforderung und Mehrfachbelastung des Kindes (vgl. Balloff 2004: 48). Die Folgen können externalisierend wie auch internalisierend sein, also in Form von Aggression oder auch Angst, Rückzug und Depressivität auftreten (vgl. Walper / Fichtner 2011: 96f). Langfristig ist ein Einfluss auf die eigene Einstellung zur Ehe und eine mindere Qualität der eigenen Partnerschaft nachgewiesen.
Des Weiteren ist von altersspezifischen Folgen auszugehen. Je nachdem in welcher Entwicklungsphase sich die Kinder befinden und welche Bewältigungsressourcen ihnen zur Verfügung stehen, haben elterliche Konflikte unterschiedliche Auswirkungen (vgl. ebd.: 97). Kleinkinder zeigen häufig ein ängstlich-verunsichertes Verhalten, während Vorschulkinder durch ihr stark egozentriertes Weltbild meist mit Schuldgefühlen zu kämpfen haben und besonders anhänglich sind. Kinder im Grundschulalter versuchen häufig, die Konflikte der Eltern zu lösen und stellen sich hinter den Bedürfnissen der Eltern zurück. Bei ihnen ist die Wahrscheinlichkeit der Verwicklung in Loyalitätskonflikte besonders hoch. Im Jugendalter kommt es häufig zur Ablehnung eines Elternteils (vgl. ebd.)
In der Literatur besteht Uneinigkeit darüber, ob die Belastung für Kinder durch die Konflikte der Eltern höher ist als mangelnde...