1. Lockes Identitätskapitel (Essay II, 27)
Das Kapitel ‚Über die Identität und Verschiedenheit’ hat Locke (1632 – 1704) erst in der zweiten Auflage seines ‚Essay Concerning Human Understanding’[2] (1694) hinzufügt.[3] Es handelt sich um die erste systematische Behandlung der Identitätsproblematik in der Neuzeit überhaupt.[4] Locke hat hier nicht nur die traditionelle Identitätsauffassung[5] in Frage gestellt, sondern auch eigene originäre Lehre entwickelt, die in den folgenden Jahrhunderten eine besondere Aufmerksamkeit auf sich zog[6] und bis heute diskutiert und kritisiert wird.
Diese Arbeit hat die kontroverseste These des Identitätskapitels zum Thema, deshalb beginne ich mir einer Zusammenfassung dieses Kapitels aus Essay II. Lockes Thesen aus dem Identitätskapitels werde ich dabei in den breiteren Kontext seiner Philosophie einbetten, so dass der Leser die erste Vorstellung von dem Zusammenhang seiner Identitätskonzeption, Korpuskeltheorie, epistemologischem Skeptizismus, Unterscheidung zwischen realer und nominaler Essenz, sowie seiner Ablehnung des Realismus gewinnen kann. Die These der personalen Identität, um die es in dieser Arbeit vor allem geht wird hier zunächst ohne weitere interpretative Erläuterungen wiedergegeben.
1.1 Die Frage nach dem Individuationsprinzip
Locke vertritt eine korpuskulare Philosophie[7] - eine Philosophie, in der die Gedanken des griechischen Atomismus[8] in Verknüpfung mit der neuzeitlichen Naturwissenschaft erneut wurden. Locke hat angenommen, dass alle materiellen Körper aus kleinen, sinnlich nicht wahrnehmbaren Teilchen (Atomen bzw. Korpuskeln) bestehen. Allen Körpern liegt also eine gemeinsame einheitliche Materie zu Grunde und man kann alle natürlichen Phänomene durch die Bezugnahme auf so verstandene Materie und ihre Eigenschaften erklären.[9]
Eine solche Korpuskeltheorie erlaubt folglich die Identität eines Gegenstandes zu behandeln, ohne sie auf metaphysische Entitäten wie allgemeine Wesenheiten oder Formen zurückführen zu müssen.[10] Die atomistische Hypothese führt somit Locke zur Ablehnung des traditionellen Realismus bzw. der These, dass die Universalien[11] eine eigenständige Realität haben).[12] Die Frage nach der Individuation eines Einzeldinges (d.h. die Frage, wodurch ein konkretes Individuum seine Individualität innerhalb einer Art, die durch das Universale bestimmt ist, gewinnt) stellt dann weiter kein echtes Problem für sein Denken dar.[13]
Trotzdem geht es zu Beginn des Identitätskapitels gerade um das sog. Individuationsprinzip:
„Wenn wir sehen, daß sich ein Ding in einen bestimmten Augenblick an einem bestimmten Ort befindet, sind wir sicher (...), daß es eben dieses Ding ist und nicht ein anderes, das zu derselben Zeit an einer anderen Stelle existiert, wie ähnlich und ununterscheidbar beide Dinge in jeder anderen Hinsicht auch sein mögen.(...) Wir können nämlich nie beobachten, noch für möglich halten, daß zwei Dinge derselben Art am selben Ort zur selben Zeit existieren; darum schließen wir mit Recht, daß alles, was irgendwo zu irgendeiner Zeit existiert, alles andere derselben Art ausschließt und sich selbst dort allein befindet.“ (Essay II, 27, 1)
Die Individuation eines Einzeldinges ist allein durch seine raum-zeitliche Bestimmung gegeben. Die Frage nach der Individualität bzw. nach dem principium individuationis ist für Locke somit nicht schwer zu beantworten:
„Es ist offenbar die Existenz selbst, die jedem Wesen, von welcher Art es auch sei, seine besondere Zeit und seinen besonderen Ort zuweist; (...).“ (Essay II, 27, 3)
Die Existenz jedes einzelnen Dinges informiert uns unfehlbar über seine raum-zeitliche Bestimmung, so dass wir in ihr die Individualität des Einzeldinges erkennen, weil das Ding diese mit keinem anderen Ding derselben Art teilen kann.[14] Dies soll das Atom-Beispiel (Essay II, 27, 3) veranschaulichen: Ein Atom ist ein dauernder Körper, der an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit existiert und der in jedem Augenblick dieser raum-zeitlicher Existenz mit sich selbst identisch bleibt, und zwar solange er existiert.
Die Existenz als Individuationsprinzip hat außerdem den Vorteil, dass man sie als solches auf verschiedene Arten von Dingen anwenden kann.[15] Sie individuiert nicht nur einfache Dinge wie Atome, sondern „jedes Wesen, von welcher Art es auch sei“:
„Obgleich dies bei einfachen Substanzen oder Modi anscheinend leichter zu begreifen ist als bei zusammengesetzten, so ist es jedoch, wenn man nachdenkt, bei letzteren nicht schwieriger, sofern man nur darauf achtet, wie dieses Prinzip anzuwenden ist.“ (Essay II, 27, 3)
Es ist jedoch noch eine Unterscheidung von drei allgemeinen Arten von Dingen hinzuzufügen, da die Existenz eines Dinges an einer bestimmten Stelle in Raum und Zeit nur die Existenz eines „Dinges derselben Art“ von der Existenz an genau dieser Stelle ausschließen kann. Obwohl es unmöglich ist, dass sich an der Raum-Zeit-Stelle x, an welcher das Atom K existiert, noch ein anderer Körper K2 befindet (weil die Existenz des körperlichen Atoms die Existenz aller anderen Körpern an dieser Stelle ausschließt), ist es dennoch möglich, dass an derselben Stelle gleichzeitig ein anderes Ding S existiert, nämlich ein Ding, das von anderer Art ist als das Atom. Deshalb führt Locke in Essay II, 27, 2 die Unterscheidung dreier Substanzen ein: Es gebe die ewige, unveränderliche und allgegenwärtige göttliche Substanz, die endliche vernunftbegabte Substanz und die endliche körperliche Substanz.[16] Um die Frage nach der Individuation beantworten zu können, benötigt man also neben der Existenzfeststellung zusätzlich eine entsprechende Zuordnung des Dinges zu einer der erwähnten Substanzklassen.[17]
1.2 Die Frage nach der Identität über die Zeit hinweg
Da das Individuationsprinzip für Locke kein genuines Problem darstellt, wird es nur kurz behandelt, um dann sogleich zur Erörterung der Frage nach der Identität eines Individuums über die Zeit hinweg übergehen.
Mit der Korpuskeltheorie hat sich Locke von der Erklärung des antiken bzw. scholastischen Realismus, dass die Identität in der fortdauernden Existenz einer Universalien bestehe, verabschiedet.[18] Die Materie unterliegt jedoch einer ständigen Veränderung und ist daher als ein Garant für die Identität eines Individuums über die Zeit hinweg ungeeignet. Deshalb wurde geschlossen, dass die Identität der Dinge nur in Bezug auf die Begriffe des denkenden und urteilenden Wesens (d.h. in Bezug auf die menschlichen Begriffe, die durch eine Abstraktion in unserem Verstande entstehen) bestimmt werden könne.[19] Die Frage nach der Identität über die Zeit hinweg wurde dadurch also zu einer Frage nach subjektiven Kriterien von Identitätsaussagen.[20]
Eine solche nominalistische Behandlung der Identität fand zwar schon in dem Mittelalter statt, bei Locke wurde sie jedoch noch durch die These erweitert, dass man das Identitätsproblem gar nicht rein ontologisch behandeln könne.[21] Die Lockesche Identitätsauffassung wird im Allgemeinen von jeder Annahme irgendwelcher ontologischen Entitäten unabhängig und ist allein auf unserer Begrifflichkeit: „Nur unsere Begriffe von Dingen, um deren Identität es gehe, gäben Kriterien an die Hand, mittels derer wir von Dingen begründeter Weise Identität oder Verschiedenheit aussagen könnten.“[22]
Bei den einfachen Dingen wie zum Beispiel bei Atomen scheint die Identität über die Zeit hinweg genauso unproblematisch sein, wie das Individuationsprinzip selbst.[23] Die Identität eines einfachen Dinges besteht nämlich in seiner fortdauernden Existenz in Raum und Zeit:
„(...) das Atom, in einem beliebigen Augenblick seiner Existenz betrachtet, [ist] in diesem Augenblick mit sich selbst identisch (...). Denn da es in jedem Augenblick das ist, und nichts anderes, so ist es dasselbe und muß solange dasselbe bleiben, wie seine Existenz fortdauert.“ (Essay II, 27, 3)
Das bloße Erfülltsein des Individuationsprinzips über die Zeit hinweg garantiert also die Identität des einfachen Dinges über die Zeit hinweg.
Die fortgesetzte Existenz in Raum und Zeit ist natürlich auch für die zusammengesetzten Dinge relevant, jedoch kommt hier die...