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E-Book

Die Rebellin

Ein Leben für Frieden und Gerechtigkeit

AutorTanja Polli, Ursula Hauser
VerlagWörterseh Verlag
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl208 Seiten
ISBN9783037635896
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
1946 als Tochter des ehemaligen Gemeindeschreibers von Kilchberg geboren, scheint Ursula Hausers Lebensweg in geordneten Bahnen vorgezeichnet, als sie mit neunzehn ungewollt schwanger wird. Nach der - traumatischen - Abtreibung hält sie ihr enges Umfeld nicht mehr aus. Sie reist nach Amerika, gerät in den Strudel der Anti-Vietnam-Proteste und schließt sich der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung an. Zurück in der Schweiz, engagiert sie sich in der Achtundsechziger-Bewegung und beginnt, Psychologie zu studieren. Ihr Instrument ist das Psychodrama, eine Gruppentherapie, in der konfliktbeladene Situationen szenisch aufgearbeitet werden. 1980 reist die Psychoanalytikerin nach Nicaragua, um die sandinistische Revolution zu unterstützen und den vom Bürgerkrieg traumatisierten und sexuell ausgebeuteten Frauen zu helfen. Dort lernt sie Antonio Grieco kennen, Revolutionär und Weggefährte Che Guevaras. Die beiden verlieben sich, heiraten und leben sechzehn Jahre glücklich zusammen, bis er an den Spätfolgen der Folter stirbt, die er Jahre zuvor im Gefängnis der Militärdiktatur in Uruguay erlitten hat. Seither ist Ursula Hauser eine moderne Nomadin. Unterstützt von schweizerischen NGOs, reist sie in Kriegs- und Krisengebiete, leitet Psychodramagruppen in Flüchtlingslagern und Armenvierteln, entwickelt Frauenprojekte und bildet Ärztinnen, Krankenschwestern und Sozialarbeiter aus - unter anderem im Gaza- streifen, in El Salvador, Nicaragua und Uruguay.

Ursula Hauser, geb. 1946 in Kilchberg ZH, ist Psychoanalytikerin und setzt sich seit Jahren für traumatisierte Frauen in Kriegs- und Krisengebieten ein. Im Sinne von Hilfe zur Selbsthilfe bildet sie dort auch Ärzte, Psychiater, Sozialarbeiter, Krankenkschwestern und PsychologInnen in Psychodrama aus. Einige ihrer Projekte werden unterstützt von Schweizer NGO's, vor allem von 'Medico International Schweiz'. Damit ihr Werk bestehen kann, gründete sie die Stiftung 'Fundacion Ursula Hauser' und ruht auch mit 69 Jahren noch nicht. Bald lanciert sie ein Forschungsprojekt in Uruguay und reist für verschiedene Projekte immer wieder in den Gazastreifen, nach El Salvador und Nicaragua. Ursula Hauser lebt in Costa Rica und kommt nur noch sporadisch in die Schweiz.

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Leseprobe

Kilchberg


Ich war ein Nachkriegskind. Das ersehnte Glück nach all den schweren Jahren. Meine Eltern hatten 1941 geheiratet, mein Vater in Militäruniform. Zwei Jahre später kam mein Bruder Walter zur Welt. Mitten im Krieg. Mein Vater schützte die Grenze, meine Mutter war mit dem Baby allein. Aber 1946 war der Vater da, wartete mit einem Blumenstrauß vor dem Gebärsaal. Meine Mutter lag erschöpft im Bett und schaute mich verängstigt an. Ich atmete nicht. Lag blau und schlaff in den großen weißen Händen des Arztes, die Nabelschnur zweimal um den Hals. Als ich nach bangen Sekunden doch schrie, sagte der Arzt: »Sie haben Glück, das ist ein starkes Mädchen. Eine Kämpferin.« Mein Name passt ganz wunderbar zu mir: Ursula. Die kleine Bärin.

Auf meine Geburt folgten glückliche Jahre. Wir lebten in Kilchberg vis-à-vis dem Gutsbetrieb »Uf Stocken«, einem großen Bauernhof mit vielen Tieren. Das Mehrfamilienhaus, in dem wir wohnten, stand nur Gemeindeangestellten zur Verfügung. Mein Vater war Kanzlist, er hatte einen kleinen Lohn, aber eine sichere Stelle. Wir Kinder waren kaum je in unseren Zimmern, wann immer man uns ließ, zogen wir im Rudel durchs Dorf. Wir spielten, halfen den Bauern bei der Kartoffelernte und streichelten die Kühe, wir bauten Hütten und brieten Kastanien. Wir waren frei, wild und glücklich.

Jeden Mittwochnachmittag wanderten wir mit meiner Mutter nach Rüschlikon zum Kasperlitheater im Duttipark. Ein Fest! Jeder bekam ein Stängeli-Glacé: Vanille, Erdbeere oder Schoggi. Das Kasperlitheater war gratis. Ein Geschenk von zwei sozial denkenden Menschen an die Bevölkerung: Gottlieb und Adele Duttweiler, die Begründer der Migros-Genossenschaft.

Wir hatten weder ein Auto noch einen Fernseher. Das erste elektrische Küchengerät brachte mein Vater ins Haus. Einen Mixer. Ich erinnere mich genau: Vor den Augen aller hob meine Mutter das glänzende Ungetüm aus der Schachtel. Fast feierlich schüttete sie gekochten Spinat in den hohen Glasbehälter und drückte den metallenen Kippschalter nach unten. Die Maschine heulte auf, und innerhalb weniger Sekunden war alles grün, meine Mutter, die Wände, die Decke, der Fußboden und wir. Mami hatte vergessen, den Deckel zu schließen. Es dauerte eine ganze Weile, bis wir das Gerät wieder zu Gesicht bekamen.

Jeden Freitag war Waschtag. Bevor mein Vater zur Arbeit ging, machte er ein Feuer unter dem kupfernen Waschkessel im Keller. Wir Kinder liebten es, in der Waschküche zu sitzen und zuzuschauen, wie unsere Mutter die dampfende Wäsche mit einer riesigen Zange aus dem Wasser zog und in die Schwinge füllte. Ich saß daneben und rieb auf meinem kleinen Waschbrett die Küchentücher aus kariertem Leinen sauber. Ich mochte den frischen Geruch des Waschmittels, das meine Mutter seit kurzem in der Migros kaufte.

Wir waren die Sonnenkinder unserer Eltern und Großeltern, die Schoggikinder. Die Fabrik Lindt & Sprüngli stand mitten im Dorf, und wir wuchsen mit Schokoladenduft auf. Als mein Vater 1956 vom Kanzlisten zum Gemeindeschreiber befördert wurde, schenkte er jedem von uns eine Tafel Schokolade. Von diesem Zeitpunkt an hatten wir immer Schokolade daheim; sie lag in der kleinen Schublade im Küchenbuffet.

Ab sofort gehörten wir zu den Besserverdienenden. Wir zogen von unserer kleinen Wohnung in ein ebenfalls nicht großes Reihenhäuschen um. Für meine Mutter war das der lang ersehnte Aufstieg, für uns Kinder eine mittlere Katastrophe. Obwohl wir nur wenige hundert Meter weitergezogen waren, gehörten wir in unserer ehemaligen Kinderclique nicht mehr richtig dazu. Wir sahen unsere alten Freunde aus dem Block, in dem wir gewohnt hatten, immer seltener.

Vati war plötzlich noch weniger daheim. Er war jetzt nicht nur engagierter Gemeindeschreiber, mit Leib und Seele Hauptmann und Schütze, er hatte jetzt auch die Vormundschaftsbehörde unter sich, und kümmerte sich in seiner Freizeit um die Belange der armen Familien und der Verdingkinder. Wenn er nach Hause kam, war er müde, und wir mussten still sein.

Zum Glück gabs Omama und Opapa, die Eltern meiner Mutter. Sie lebten in Adliswil. Omama war eine Zugezogene. Sie hieß Emma Nohl und stammte aus Nohl, einem kleinen Dorf am äußersten Ende des Kantons Zürich, direkt an der deutschen Grenze. Die Liebe hatte sie ins Sihltal gebracht. Ich mochte die Geschichten, die sie mir über das Leben in Nohl erzählte, zum Beispiel von ihrem Vater, meinem Urgroßvater. Dieser war ein wohlhabender, eigensinniger Bauer gewesen. Während des Zweiten Weltkriegs soll er an den Nazis vorbei auf seine Kartoffeläcker gestapft sein, die bis über die deutsche Grenze reichten. Die Soldaten hätten ihm die Gewehre unter die Nase gehalten und ihn zurückschicken wollen, erzählte Omama. Mein Urgroßvater aber habe die Uniformierten furchtlos zur Seite gestoßen. »Das sind meine Kartoffeln«, soll er gesagt haben, »die habe ich gesetzt, und die ernte ich auch, egal, ob Frieden ist oder Krieg.«

Stolz schwang mit, wenn Omama von ihren Eltern erzählte. Wohl auch, weil sie es nicht immer einfach gehabt hatte mit ihnen. Wäre es nach ihnen gegangen, hätte sie mit achtzehn den Sohn der Nachbarn geheiratet. Den Dorfjungen, der die Äcker in bester Lage erben würde, aber Omama weigerte sich. Auf einem Ausflug hatte sie nämlich meinen Großvater kennen gelernt, den charmanten Dorflehrer aus Adliswil im Sihltal. Den wollte sie und keinen anderen.

Als Omama zu Opapa zog, bekam sie Asthma. »Das feuchte Klima«, sagte man in Nohl und hinter vorgehaltener Hand: »Das hat sie jetzt davon.« Für mich als Psychoanalytikerin liegt heute die psychische Ursache der Erkrankung auf der Hand: Meine Großmutter bezahlte den Preis für ihre Emanzipation.

Unterkriegen ließ Omama sich nicht. Im Gegenteil: Zusammen mit sieben anderen Frauen aus dem Dorf gründete sie den »Zischtigsclub«. Jeden ersten Dienstag im Monat machte Omama mit Freundinnen aus dem Dorf einen Ausflug. Mit der Sihltalbahn fuhren die Frauen nach Zürich, ohne Mann, ohne Kinder, der Haushalt musste warten. Wenn ich heute an meine Omama denke, weiß ich, dass ich das Feministische nicht gestohlen habe.

Opapa kannte jeden im Dorf, und jeder kannte ihn. Er war Lehrer an der Dorfschule, Leiter des Männerchors und Mitbegründer der Ferienkolonie Schwellbrunn im Appenzellerland: Zusammen mit anderen Vätern aus dem Dorf hatte er ein Ferienhaus gebaut, in dem sich die armen Textilarbeiterfamilien, die zuhauf aus Italien ins Sihltal gezogen waren, erholen konnten.

Jeden Sommer fuhren wir mit nach Schwellbrunn. Das kurz geschnittene Gras kitzelte zwischen den Zehen, wir aßen Sauerampfer, flochten uns Gänseblümchen ins Haar und brätelten mit den Italienerkindern Cervelats.

Eine Kindheit wie aus dem Bilderbuch, sage ich heute, einziger Wermutstropfen war, dass auch ich kurz nach meinem fünften Geburtstag an Asthma erkrankte. Ich mache heute die frühe Trennung von meiner Mutter für die Krankheit verantwortlich. Sie lag damals wegen eines komplizierten Beinbruchs mehrere Wochen im Spital, sie fehlte mir sehr. An meinen ersten Anfall erinnere ich mich, als sei es gestern gewesen. Mein Bruder Walti, der drei Jahre älter ist als ich, musste auf mich aufpassen. Das musste er oft. Immer wenn wir eine Straße überquerten, nahm er mich bei der Hand. Aber dieses eine Mal behielt er sie im Hosensack. »Ich bin doch kein Meitlischmöcker«, rief er plötzlich und rannte einfach los, verschwand hinter der nächsten Hausecke. Ich war verängstigt und enttäuscht, in meinem Hals wurde es eng, und ich bekam keine Luft mehr.

Der Kinderarzt verordnete einen Kuraufenthalt im Dorf Pagig im Bündnerland. Während zweier Monate durfte ich keinen Kontakt zu meinen Eltern haben. Bis heute verstehe ich nicht, was der Grund für die Kontaktsperre war. Als »Heimwehkind« litt ich schrecklich. Das Leben im Heim war hart. Wer nicht alles aufaß, dem wurde das Dessert in die Suppe geschüttet, und der Teller blieb so lange am Platz stehen, bis er leer gegessen war.

Jeden Morgen stand ich im Waschsaal vor den Spiegel. Ich betete: »Lieber Gott, lass mich bitte dicker werden und meine Backen rot.« Wenn ich nicht mehr so mager sei, hatte Vati gesagt, dann dürfe ich heim. Nichts passierte. Mit einem trockenen Waschlappen rieb ich mir die Wangen rot, aber die Betreuerinnen ließen sich nicht täuschen.

An sonnigen Nachmittagen mussten wir, eingepackt in Wolldecken, auf Liegestühlen auf dem Balkon ausharren. Meine Kur-Freundin und ich starrten unentwegt auf die Straße, die vom Tal hoch nach Pagig führte. Ihr Vater hatte ein Auto, und er hatte versprochen, uns damit abzuholen, sobald wir gesund waren. Tatsächlich verschwanden meine Asthmaanfälle.

Wieder zu Hause, begann die Schule. Endlich! Schon lange hatte ich einen Schulthek, und meine Mutter hatte mir einen passenden Turnsack genäht, ich konnte es kaum erwarten, ihn endlich in die Schule zu tragen. Vom ersten Tag an war ich eine begeisterte...

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