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E-Book

Die Regierung des Himmels

Globalgeschichte des Luftkriegs

AutorThomas Hippler
VerlagMatthes & Seitz Berlin Verlag
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl272 Seiten
ISBN9783957574435
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis19,99 EUR
1911 wird über Libyen zum ersten Mal in der Weltgeschichte eine Bombe aus einem Flugzeug abgeworfen. Genau hundert Jahre später fallen im Zuge des NATO -Einsatzes wieder Bomben auf das Land. Zurück bleibt ein zerfallener Staat, der im Chaos versinkt. Zwischen diesen beiden Angriffen liegt ein Jahrhundert der Zerstörung und des Schreckens aus der Luft: Guernica, Coventry, Dresden und Hiroshima sind traumatische Brandmale unserer Zivilisation, die von dem revolutionären Charakter des Bombenkriegs zeugen. Thomas Hippler schildert in seiner fulminanten und Maßstäbe setzenden Globalgeschichte des Kriegs aus der Luft die Entwicklung dieser apokalyptischen Kampfform, die erstmalig die gesamte Bevölkerung ins Visier nimmt und den Krieg als Kollektivstrafe im bittersten Sinne des Wortes demokratisierte. Erprobt in den Kolonialkriegen, findet diese Strategie im Zweiten Weltkrieg auch in den westlichen Zentren ihre tödliche Anwendung, um dann in Vietnam und mithilfe von Marschflugkörpern und Drohnen im Irak und in Pakistan wieder in die Peripherie zu wandern. Der Bombenkrieg soll es möglich machen, überall und jederzeit einzugreifen und die Welt so als Ganze zu regieren. Mit fatalen Folgen: Als Resultat der angestrebten Weltordnung regiert das globale Chaos. Die Regierung des Himmels, die darauf verzichtet, den Boden zu befrieden, markiert den Beginn der Kriege ohne ein Ende, die wir heute überall beobachten können.

Thomas Hippler, geboren 1972 in Salzgitter, ist Historiker mit dem Schwerpunkt kritische Friedens- und Kriegsforschung. Nach Stationen an den Universitäten in Florenz, Berkeley und Oxford lehrt er heute am Institut d'études politiques in Lyon. Daniel Fastner ist Übersetzer aus dem Englischen und Französischen. Für Matthes & Seitz Berlin übersetzte er zuletzt Wahre Monster von Caspar Henderson sowie zusammen mit Meike Hermann und Nina Sotrell Federn von Thor Hanson.

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Leseprobe

Land, Meer und Luft


Am 25. Juli 1909 frönt Herbert George Wells in seinem Garten der körperlichen Ertüchtigung, als das Telefon mit zudringlicher Beharrlichkeit einen Anruf meldet. Verärgert unterbricht er seine Gymnastikübungen und nimmt den Hörer ab. Die Übertragung, von Knackgeräuschen und Aussetzern unterbrochen, ist schwer zu verstehen: »Blériot hat den Ärmelkanal überquert … einen Artikel … darüber, was das bedeutet!«1 Von seinem schönen Haus in Sandgate in der Grafschaft Kent aus erfreut sich Wells eines herrlichen Blicks auf den Ärmelkanal: Es fehlt nicht viel, und er könnte das 15 Kilometer weiter östlich gelegene Dover sehen, wo Blériot soeben gelandet ist.2 Da er kürzlich mit seinem Science-Fiction-Roman Der Luftkrieg einen großen Erfolg gefeiert hat, denken die Herausgeber der Daily Mail natürlich an ihn, als es um einen Kommentar zu diesem historischen Ereignis geht: Louis Blériots Überquerung des Ärmelkanals mit einem Flugzeug!

Wells beginnt also, sich Gedanken zu machen. Ganz Gentleman, feiert er zunächst die sportliche Glanzleistung: »Mister Blériot hat eine hervorragende Leistung gezeigt. Mister Latham, sein Rivale, hatte offen gesagt keine Chance. Darin besteht zuallererst die Bedeutung für uns.« Wells begreift, dass er ebenso wie nahezu alle Luftfahrtexperten die Stabilität der Flugzeuge unterschätzt hat. Je weiter er seinen Gedanken folgt, desto stärker wird er von Unruhe ergriffen. Die Folgen dieser Überquerung erscheinen ihm plötzlich immens, erschreckend, ja fürchterlich:

Dieses Ereignis – dass dieses von einem Ausländer erfundene, von einem Ausländer konstruierte, von einem Ausländer gesteuerte Ding unsern Kanal nimmt, wie ein Vogel über ein Bächlein gleitet – gibt der Sache eine drastische Wendung. Unser Menschsein [manhood] fällt zurück […]. Der Ausländer […] gibt eine bessere Sorte Mensch ab als wir.

Die Ausländer sind kultiviert, neugierig, erfindungsreich, unternehmungslustig. Die Briten sind wohlerzogen, es fehlt ihnen aber an Initiative. Sie geben sich mit dem Golfspielen zufrieden, während die Franzosen, die Amerikaner, die Deutschen und sogar die Brasilianer sich in die Lüfte erheben. Neben der Kränkung, die sein patriotischer Narzissmus erlitten hat, quält den Schriftsteller noch eine andere Sorge. Für eine Überquerung des Ärmelkanals bedurfte es Willens, Mutes und technischen Wissens in einem. Blériot ist zweifelsohne ein Held, aber doch ein Held neuen Typs: Er verkörpert eine aufsteigende Elite, eine neue tonangebende Klasse, die auf dem Sprung steht, die Macht zu übernehmen. Die »natürliche Demokratie« nach englischer Art kann den technologischen Heroen der Flugmaschinen nicht das Wasser reichen.3 Diese düsteren Gedanken, die Wells bestürmen, steigern sich fast bis zur Paranoia. Einem Franzosen ist ein solcher Flug gelungen – lässt sich daraus schließen, dass die Ausländer einen höheren Menschenschlag bilden als die Briten? Übertreibt Wells, wenn er in diesem Flug das Ende eines besonderen politischen Systems und der Demokratie als Ganzer erkennt? Aus seiner Sicht verliert das politische, soziale und kulturelle System Großbritanniens gegenüber einem geostrategischen Widersacher an Boden; auf das Land, das sich aufgrund seiner Insellage doch für unverwundbar hält, senkt sich plötzlich eine unerhörte militärische Bedrohung. Bald könnten Flugzeuge, von Calais aus gestartet, Sprengkörper über London abwerfen. Großbritannien muss seine gesellschaftliche Organisationsform, seine Bildungseinrichtungen umgestalten, um sich auch selbst in die Lage zu versetzen, zu diesem technologischen Heroentum fähige Menschen zu schaffen.

Mit zeitlichem Abstand kann man aus Wells’ Wahn die Ahnung herauslesen, dass der historische Zyklus der britischen Hegemonie im Weltmaßstab an sein Ende kommt – eine Veränderung, die ein halbes Jahrhundert in Anspruch nehmen wird. Nach dem Urteil eines so informierten Beobachters wie Eric Hobsbawm gelang es Großbritannien erst nach der Suezkrise 1956, den Schock von 1909 zu bewältigen und anzuerkennen, dass es nach Verlust seiner Kolonien nur noch eine Macht zweiten Ranges war.4

1909 jedenfalls bleibt das Vereinte Königreich vorläufig der hegemoniale Mittelpunkt der Welt. Und in dieser Eigenschaft muss es sich die militärischen Mittel verschaffen, die großen Schiffsrouten zu kontrollieren und zu sichern. Als Zentrum des Welthandels muss der Hegemon in der Lage sein, seine Handelsflotte auf der ganzen Welt zu schützen; er muss darüber verfügen, was der amerikanische Marinestrategie Alfred Thayer Mahan die »Seeherrschaft« nannte. Dafür gelten zwei Voraussetzungen: Zunächst muss er eine Kriegsflotte aufbieten, die es nicht nur mit jedem beliebigen anderen Marineverband aufnehmen kann, sondern auch der häufig schwierigen Aufgabe gewachsen ist, die eigene Handelsflotte wirksam gegen Piraten und Freibeuter zu verteidigen. Zweitens muss er über Stützpunkte an den wichtigsten Seerouten und idealerweise auf der ganzen Welt verfügen, um die Versorgung und Überholung der Schiffe gewährleisten zu können. Der Vorteil der Insellage versteht sich von selbst. Ihre Suprematie auf den Meeren erlaubt der Führungsmacht, ihre Hegemonie im Weltsystem zu festigen und das Mutterland zu schützen. Daher kann sich eine Hegemonialmacht mit Insellage, die sich einer Vormachtstellung auf See erfreut, zu viel geringeren Kosten verteidigen als eine kontinentale Hegemonialmacht, die nicht nur eine starke Kriegsmarine für die Expansion in Übersee unterhalten muss, sondern auch starke Landstreitkräfte zur Verteidigung ihres Kernlands. Das britische Heer gleicht daher einem Expeditionskorps, das normalerweise in den Kolonien eingesetzt wird, bei größeren Krisen aber auch auf dem europäischen Kontinent, wie in den Napoleonischen Kriegen oder im Ersten Weltkrieg. Solange Großbritannien die Meere beherrscht, ist das Territorium des Mutterlands vor jedem Angriff sicher. Die großen Schlachten der europäischen Kriege entspannen sich auf den Ebenen Flanderns auf der anderen Seite des Ärmelkanals.

Vor diesem Hintergrund wird der Schrecken, der Wells ergreift, besser verständlich: Vom 25. Juli 1909 an ist Großbritannien keine Insel mehr, es ist verwundbar geworden.5 Nun muss ein Hegemonialzentrum aber vor jedem Angriff sicher sein. Wenn ›alle Wege nach Rom führen‹, d. h. der gesamte Welthandel durch die City fließt, scheint die ganze Weltordnung von diesem Mittelpunkt auszustrahlen. Der Hegemon funktioniert wie eine dem Weltsystem gewissermaßen enthobene Instanz. Wenn er für einen sicheren Hafen, für ein Versprechen von Glück und Freiheit steht, dann bildet er zugleich auch, prosaischer ausgedrückt, ein politisches und soziales System, das Kees van der Pijl nach dem Verfasser der Zwei Abhandlungen über die Regierung als »Locke’sches6« bezeichnet. Nach der Glorious Revolution löst Großbritannien die Niederlande als hegemoniales Zentrum des Weltsystems ab.7 Mit einem früh entwickelten Bürgertum, eingespannt in die rule of law der konstitutionellen Monarchie, wird eine eigentümliche Verbindung des Staats mit der Zivilgesellschaft geboren.8 Der britische Liberalismus beruht auf einem starken Staat, der aber zugleich seine eigene Einflusssphäre beschränkt, um der Gesellschaft und der kapitalistischen Wirtschaft einen Spielraum zur Selbstregulation zu lassen.9 So entwickelt sich eine wahrhaft bürgerliche Gesellschaft, »deren Staat sich zurückzieht, nachdem er sich aktiv und konstruktiv zur Geltung gebracht und die Institutionen auf die Beine gestellt hat, die für den liberalen Rückzug aus der Sphäre der Reichtumsproduktion nötig sind«.10

Um dieses hegemoniale Zentrum herum erstreckt sich die »Semiperipherie«, eine Zone von »Rivalenstaaten« (contender states), die im Allgemeinen »Hobbes’sche« Züge aufweisen, sprich der Staat übt dort seine Herrschaft direkt aus und greift viel häufiger und unmittelbarer in die Gesellschaft ein als im Locke’schen Modell. Daher unterhält die herrschende Klasse eine engere Beziehung zum Staat, sie fungiert als eine echte »Staatsklasse« mit allen damit einhergehenden Gefahren des Autoritarismus. Außerhalb des Locke’schen hegemonialen Zentrums und der Hobbes’schen Semiperipherie finden wir die koloniale oder postkoloniale Peripherie.

Die räumliche Aufteilung der Gewalt auf globaler Ebene ordnet sich nach diesem Dreierschema: Während die Gewalt in den Außenbereichen des Systems unumschränkt herrschen kann, nimmt sie in der Hobbes’schen Semiperipherie verstaatlichte Form an. Das Locke’sche Zentrum hingegen gibt sich als Ruhepol aus, als Gastland für die Geflüchteten, das Gelobte Land der Freiheit. Doch diese Erscheinung kann es nur dadurch aufrechterhalten,...

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