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E-Book

Die Reise mit Paula

AutorIrvin D. Yalom
Verlagbtb
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl336 Seiten
ISBN9783641194789
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Neue Geschichten vom Kultautor Irvin D. Yalom

Daß Wissenschaft und Phantasie keine Gegensätze bilden müssen, dafür liefert der amerikanische Psychoanalytiker Irvin D. Yalom seit Jahren überzeugende Beweise. Seine Geschichten um psychische Grenzsituationen und deren Bewältigung haben in Deutschland eine riesige Fangemeinde. In seinem neuen Buch erzählt er nicht nur von allzu menschlichen Neurosen seiner 'Klienten', sondern läßt seine Leser auch tief ins eigene Innere blicken. So berichtet er vom zwiespältigen Verhältnis zu seiner verstorbenen Mutter, die zeitlebens eine ungebildete Frau war, sich gleichwohl unermüdlich für ihre Familie einsetzte.

'Die Reise mit Paula' wiederum führt zurück in die 70er Jahre, als in Amerika das Thema Sterben 'So tabu war wie Pornographie'. Yalom ruft eine Art Selbsterfahrungsgruppe Todkranker ins Leben. In deren Zentrum steht Paula, die an Brustkrebs leidet. Ihre Energie und spirituelle Weitsicht beeindrucken Yalom tief und haben bis heute Spuren in seiner Arbeit hinterlassen.

Irvin D. Yalom wurde 1931 als Sohn russischer Einwanderer in Washington, D.C. geboren. Er gilt als einer der einflussreichsten Psychoanalytiker in den USA und ist vielfach ausgezeichnet. Seine Fachbücher gelten als Klassiker. Seine Romane wurden international zu Bestsellern und zeigen, dass die Psychoanalyse Stoff für die schönsten und aufregendsten Geschichten bietet, wenn man sie nur zu erzählen weiß.

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Leseprobe

Mama und der Sinn des Lebens


Dämmerung. Vielleicht liege ich im Sterben. An meinem Bett unheimliche Gebilde: Monitore, die meinen Puls überwachen, Sauerstoffgeräte, tropfende Flaschen mit Infusionslösungen, zusammengerollte Plastikschläuche – die Eingeweide des Todes. Ich schließe die Augen und gleite in die Dunkelheit.

Doch dann bin ich mit einem Satz aus dem Bett, renne aus dem Krankenhaus und bin urplötzlich in dem hellen, sonnenbeschienenen Vergnügungspark von Glen Echo, wo ich vor Jahrzehnten viele Sommersonntage verbrachte. Ich höre Karussell-Musik. Ich atme den feuchten, karamellisierten Duft von klebrigem Popcorn und Äpfeln ein. Und ich gehe geradeaus weiter – ohne bei dem Stand mit dem gefrorenen Vanillepudding, der Achterbahn, die sich zwei Mal hinunterstürzt, oder dem Riesenrad innezuhalten –, um mich in der Warteschlange vor der Geisterbahn anzustellen. Nachdem ich meine Eintrittskarte bezahlt habe, warte ich, bis der nächste Wagen mit einem Ruck um die Ecke fährt und scheppernd vor mir hält. Nachdem ich eingestiegen bin und den Sicherungsbügel heruntergezogen habe, um mich sicher und gemütlich hinzusetzen, sehe ich mich ein letztes Mal um – und da, in einer kleinen Gruppe von Zuschauern, sehe ich sie.

Ich winke mit beiden Armen und rufe so laut, dass jeder es hören kann: »Mama! Mama!« In diesem Moment macht der Wagen einen Satz und kracht gegen die Doppeltür, die sich öffnet und den Blick auf einen gähnenden schwarzen Schlund freigibt. Ich lehne mich so weit zurück, wie ich nur kann, und bevor ich von der Dunkelheit verschluckt werde, rufe ich erneut: »Mama! Zufrieden, Mama? Zufrieden mit mir?«

 

Selbst als ich den Kopf vom Kissen hebe und den Traum abzuschütteln versuche, klumpen sich die Worte in der Kehle zusammen: »Zufrieden, Mama? Mama, zufrieden?«

Aber Mama liegt zwei Meter unter der Erde. Seit zehn Jahren mausetot in einem einfachen Fichtenholzsarg auf einem Friedhof am Anacostia River außerhalb von Washington D.C. Was ist von ihr übrig? Wahrscheinlich nur Knochen. Ohne Zweifel haben die Mikroben jeden Fetzen Fleisch entfernt. Vielleicht sind noch ein paar dünne graue Haarsträhnen übrig – vielleicht kleben noch ein paar glitzernde Knorpelstreifen an den Enden größerer Knochen, des Oberschenkelknochens und des Schienbeins. Und, natürlich, der Ring. Irgendwo im Knochenstaub versteckt muss noch der dünne filigrane silberne Hochzeitsring sein, den mein Vater kurz nach ihrer Ankunft in New York in der Hester Street gekauft hatte, nachdem sie im Zwischendeck von dem eine halbe Welt entfernten russischen Schtetl hergekommen waren.

Ja, lange vorbei. Zehn Jahre. Abgekratzt und verwest. Nichts als Haar, Knorpel, Knochen und ein filigraner silberner Ehering. Und ihr Bild, das in meinen Erinnerungen und Träumen lauert.

Warum winke ich Mama in meinem Traum zu? Ich habe schon vor Jahren mit dem Winken aufgehört. Wie vielen? Vielleicht vor Jahrzehnten schon. Vielleicht war es jener Nachmittag vor mehr als einem halben Jahrhundert, als ich acht war und sie mit mir ins Sylvan ging, das Flohkino, das beim Laden meines Vaters um die Ecke lag. Obwohl es viele leere Plätze gab, ließ sie sich neben einem der Schläger des Viertels hinplumpsen, einem Jungen, der ein Jahr älter war als ich. »Dieser Platz ist besetzt, Lady«, knurrte er.

»Ja, ja! Besetzt!«, gab meine Mutter verächtlich zurück, als sie es sich bequem machte. »Der hält Plätze frei, dieses Großmaul!«, verkündete sie jedem, der in der Nähe saß.

Ich versuchte, mich in dem kastanienbraunen Samtpolster unsichtbar zu machen. Später, in dem abgedunkelten Kino, nahm ich meinen Mut zusammen und drehte langsam den Kopf. Da war er und saß jetzt ein paar Reihen weiter hinten neben seinem Freund. Kein Irrtum möglich, sie funkelten mich böse an und zeigten auf mich. Einer von ihnen schüttelte die Faust und formte mit den Lippen die Worte: »Warte nur!«

Mama hatte damit das Sylvan-Kino für mich ruiniert. Es war jetzt feindliches Territorium. Gesperrt, zumindest bei Tageslicht. Wenn ich bei den Fortsetzungsfilmen am Sonnabend auf dem Laufenden bleiben wollte – Buck Rogers, Batman, The Green Hornet, The Phantom –, durfte ich erst rein, wenn der Film schon angefangen hatte, musste meinen Platz in der letzten Reihe des Kinos im Dunkeln einnehmen, möglichst nahe an einem Notausgang und schnell verschwinden, kurz bevor die Lichter wieder angingen. In meinem Viertel hatte nichts höhere Priorität als das Bemühen, nicht zusammengeschlagen zu werden, denn das war eine größere Katastrophe. Ein Fausthieb – nicht schwer, sich das vorzustellen: Ein Schlag aufs Kinn, und das war’s dann. Faustschläge, Ohrfeigen, Fußtritte, Messerstiche ebenso. Aber zusammengeschlagen zu werden – O mein Gott. Wo endet das? Was bleibt von einem übrig? Man ist aus dem Rennen und trägt für immer das Etikett »Man hat mich zusammengeschlagen« mit sich herum.

Und dass ich Mama zugewinkt habe? Warum sollte ich ihr jetzt wohl zuwinken, wo ich Jahr für Jahr mit ihr in einem Zustand ungebrochener Animosität gelebt habe? Sie war eitel, herrisch, aufdringlich, misstrauisch, boshaft, höchst starrsinnig und abgrundtief unwissend (aber intelligent – sogar ich konnte das sehen). Ich kann mich nicht erinnern, jemals, auch nur einmal, mit ihr einen warmherzigen Moment erlebt zu haben.

Niemals, kein einziges Mal, empfand ich so etwas wie Stolz auf sie oder dachte, wie froh ich bin, dass sie meine Mama ist. Sie hatte eine giftige Zunge und ein boshaftes Wort für jeden – mit Ausnahme meines Vaters und seiner Schwester.

Ich liebte meine Tante Hannah, die Schwester meines Vaters: ihre Sanftheit, ihre unfehlbare Herzenswärme, ihre in geräucherte knusprige Wurstscheiben gewickelten Grillwürstchen, ihren unvergleichlichen Strudel (dessen Rezept für mich auf ewig verloren ist, da ihr Sohn nicht damit herausrücken will – aber das ist eine andere Geschichte). An Sonntagen liebte ich Hannah am meisten. Sonntags war ihr Delikatessenladen in der Nähe der Marinewerft von Washington geschlossen, und da stellte sie den Spielautomaten auf Freispiele und ließ mich stundenlang spielen. Sie erhob nie Einwände, wenn ich kleine Papierstapel unter die Vorderbeine des Automaten schob, um das Rollen der Kugel zu verlangsamen, um so leichter mehr Punkte zu erzielen. Meine grenzenlose Liebe zu Hannah brachte meine Mama immer in Wut und löste boshafte Attacken auf ihre Schwägerin aus. Zu Hannah leierte Mama immer die gleiche Litanei herunter: Hannahs Armut, ihre Abneigung gegen die Arbeit im Laden, ihr unterentwickelter Geschäftssinn, ihr Trottel von Ehemann, ihr Mangel an Stolz und ihre Bereitwilligkeit, jede Art von Almosen anzunehmen.

Mamas Sprechweise war schauerlich, Englisch sprach sie mit einem starken Akzent, und es war mit jiddischen Redensarten gespickt. Sie kam an Elterntagen nie in die Schule und nutzte auch nie die Lehrersprechstunden. Gott sei Dank! Schon beim bloßen Gedanken daran, ich sollte ihr meine Freunde vorstellen, krampfte sich mir alles zusammen. Ich stritt mit Mama, forderte sie heraus, brüllte sie an, ging ihr aus dem Weg, um schließlich als Jugendlicher überhaupt nicht mehr mit ihr zu sprechen.

Das große Rätsel meiner Kindheit war: Wie hält Daddy es mit ihr aus? Ich erinnere mich an wundervolle Augenblicke, wenn er und ich an einem Sonntagmorgen Schach spielten und er fröhlich zu Schallplatten mit russischer oder jüdischer Musik sang. Dabei wiegte er den Kopf im Takt der Musik. Früher oder später wurde die Morgenluft von Mamas Stimme erschüttert, die von oben her kreischte: »Gevalt, Gevalt, genug! Weh ist mir, Schluss mit der Musik, Schluss mit dem Lärm!« Mein Vater stand ohne ein Wort auf, stellte das Grammofon ab und setzte unser Schachspiel schweigend fort. Wie oft betete ich, bitte, Dad, bitte, nur dieses eine Mal, hau ihr eine runter!

Also wozu winken? Und wozu am Ende meines Lebens fragen: »Zufrieden, Mama?« Kann es sein – und die Möglichkeit erschüttert mich –, dass ich mein ganzes Leben mit dieser beklagenswerten Frau als wichtige Zuhörerin verbracht habe? Mein ganzes Leben lang habe ich mich bemüht, meiner Vergangenheit um jeden Preis zu entkommen – dem Schtetl, dem Zwischendeck, dem Getto, dem Gebetsschal, dem Singsang, dem schwarzen Kaftan, dem Lebensmittelladen. Mein Leben lang habe ich mich um Befreiung und Wachstum bemüht. Kann es sein, dass ich weder meiner Vergangenheit noch meiner Mutter entkommen bin?

Diejenigen Freunde, die liebevolle und reizende Mütter hatten, die immer für sie da waren – wie ich sie beneide. Und wie merkwürdig, dass sie sich ihren Müttern nicht verpflichtet fühlen und sie nicht oft anrufen, besuchen, von ihnen träumen oder auch nur an sie denken. Während ich mir meine Mutter jeden Tag mehrmals aus dem Kopf scheuchen muss und selbst jetzt noch, zehn Jahre nach ihrem Tod, oft aus Reflex nach einem Telefon greife, um sie anzurufen.

Oh, intellektuell kann ich das alles nachvollziehen. Ich habe über das Phänomen Vorträge gehalten. Ich erkläre meinen Patienten, dass es vernachlässigten Kindern oft schwer fällt, sich von ihren gestörten Familien zu lösen, während es andererseits Kinder gibt, die sich guten, liebevollen Eltern entfremden, mit denen es weit weniger Konflikte gab. Besteht die Aufgabe guter Eltern letztlich nicht darin, das Kind in die Lage zu versetzen, das Elternhaus zu verlassen und auf eigenen Beinen zu stehen?

Ich verstehe es, aber es gefällt mir nicht. Ich mag es nicht, dass meine Mutter mich jeden Tag besucht. Ich hasse es, dass sie sich so geschickt in die Zwischenräume meiner Gehirnwindungen hineingeschmuggelt...

Blick ins Buch

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