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E-Book

Die Reproduktionsmedizin und ihre Kinder

Unruhe bewahren

AutorElisabeth Beck-Gernsheim
VerlagResidenz Verlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl144 Seiten
ISBN9783701745128
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
Die technisierte Fortpflanzungsmedizin ist weltweit zur Wegbereiterin für ganz neue Formen des Eingriffs in das menschliche Leben geworden. Im Wechselspiel von Angebot und Nachfrage etabliert sich ein globaler Markt der Kinderwunsch- Medizin, dessen Angebote von In-vitro-Fertilisation bis zur Geschlechtswahl, von Bildkatalogen der Samenspender und Eizellenspenderinnen bis hin zur Vermittlung von Leihmüttern reichen. Angesichts dieser Vielfalt stellt Beck-Gernsheim die notwendigen kritischen Fragen: Dient das, was dem Kinderwunsch dient, auch immer dem Kindeswohl? Soll alles, was technisch möglich ist, auch gemacht werden? Und wenn nicht - wo sind die Grenzen und wer soll sie ziehen?

Elisabeth Beck-Gernsheim lebt als Soziologin in München, sie hatte Professuren in Deutschland, England und Norwegen, derzeit ist sie Senior Research Fellow am Institute for Cosmopolitan Studies der Universität München. International bekannt wurde sie mit ihren Studien über neue Formen von Familie und Partnerschaft wie u.a. 'Das ganz normale Chaos der Liebe' (1990, mit Ulrich Beck); 'Die Kinderfrage heute - Über Frauenleben, Kinderwunsch und Geburtenrückgang' (2006); 'Fernliebe. Lebensformen im globalen Zeitalter' (mit Ulrich Beck, 2011).

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Leseprobe

Kapitel II
Social Freezing: die neue Freiheit der Frau?


1. Was ist und wozu dient Social Freezing?


Im deutschen Sprachraum hatte bis vor wenigen Jahren kaum jemand von Social Freezing gehört. Doch im Herbst 2014 ging die Meldung durch die Medien, bei großen amerikanischen Unternehmen wie Apple oder Facebook könnten die Mitarbeiterinnen Eizellen auf Kosten der Firma einfrieren lassen, um sie zu einem späteren Zeitpunkt zu nutzen. Mit dieser Meldung begann eine breite Diskussion. Von der überregionalen Tageszeitung bis zum kleinen Provinzblättchen, von der Frauenzeitschrift bis zur abendlichen Talkshow im Fernsehen, plötzlich war von Social Freezing die Rede, und zwar meist in Zusammenhang mit den Berufs- und Karrierewünschen von Frauen.

Im angelsächsischen Sprachraum hat bis heute niemand von Social Freezing gehört. Dort kennt man nur den Begriff Egg Freezing, womit das Tieffrieren von Eizellen gemeint ist, sei es aus medizinischen Gründen (etwa wenn wegen eines Tumors beide Eierstöcke entfernt werden müssen, aber für einen eventuellen späteren Kinderwunsch einige Eizellen erhalten werden sollen), sei es aus Gründen der Lebensplanung (etwa wenn der passende Partner zur Familiengründung noch fehlt; oder wenn erst noch die nächste Stufe in Ausbildung, Beruf, Karriere erreicht werden soll).

Der Begriff Social Freezing ist also ein deutsch-englischer Mix, sprachlich etwas unglücklich geraten, Internationalität anstrebend, doch diese leicht verfehlend. Aber für den Laienverstand immerhin eingängiger als die Begriffe der medizinischen Fachsprache: Da ist die Rede von »Kryokonservierung unfertilisierter Oozyten« oder von »Anlage einer Fertilitätsreserve bei nichtmedizinischen Indikationen«. Da bleiben wir doch lieber beim falschen Englisch und bei Social Freezing.

Die Begeisterung der Pioniere

Ich hatte von Egg Freezing bereits gehört, bevor das Thema ins Medieninteresse geriet, und zwar bei verschiedenen reproduktionsmedizinischen Tagungen, bei denen ich auf Pioniere der naturwissenschaftlichen Forschung traf. Ich diskutierte mit Fernando Zegers-Hochschild, den seine Kollegen stolz den Papst der Reproduktionsmedizin in Lateinamerika nannten; mit René Frydman, einem der bedeutendsten Gynäkologen in Frankreich; und mit dem Chemiker Carl Djerassi, einem der »Väter« der Pille. Voller Stolz berichteten sie von dem neuen Verfahren, das – da stimmten sie ganz überein – ein enormer Fortschritt war, gerade auch für Frauen. Alle waren sich einig, alle waren voll überschwänglichem Optimismus: Egg Freezing – das ist der Weg zur ultimativen Freiheit der Frau! Damit wird Geschlechtergerechtigkeit endlich möglich!

Ich hörte ihre Begeisterung mit Skepsis. Denn eine ähnliche Melodie hatte ich schon früher gehört, sie klang vertraut. Im Jahr 2011, ein halbes Jahrhundert, nachdem in Deutschland die Pille auf den Markt gekommen war, verkündete die Pharma-Firma Bayer Schering in großformatigen Anzeigen: »Entscheidungsfreiheit zum Einnehmen. 50 Jahre Pille«. Und weiter: »Eine der wichtigsten Erfindungen für Frauen feiert Jubiläum: die Pille. Vor 50 Jahren schenkte sie der Welt mehr Emanzipation.«

So also wurde die Pille gepriesen, als Geschenk für die Frauen. Aber wenn die Pille schon die neue Freiheit brachte, welche Steigerung von Freiheit verspricht dann noch Social Freezing?

Um die Antwort zu finden, schlage ich vor, zunächst einmal die Geschichte der Pille zu betrachten und sie daraufhin zu befragen, welche Veränderungen sie für Frauen gebracht hat. Auf der Grundlage dieser historischen Erfahrungen können wir dann die Zukunftsaussichten diskutieren, also die Frage: Wird Social Freezing die euphorischen Erwartungen erfüllen, die die Pioniere der naturwissenschaftlichen Forschung damit verbinden? Wird Social Freezing endlich den großen Durchbruch zur Befreiung der Frau bringen? Unter welchen Umständen kann dies gelingen?

2. Von der Pille lernen


Mit der Pille begann eine neue Epoche für Frauen. Wahlfreiheit hieß die neue Verheißung: Frauen konnten selber entscheiden, wann sie ein Kind wollten und wie viele sie wollten. Sie konnten abwarten, bis der Kinderwunsch zu den sonstigen Vorgaben in ihrem Leben passte. Und sie konnten sich gegebenenfalls auch dagegen entscheiden.

So die Verheißung. Und zum Teil ist sie auch in Erfüllung gegangen. Wenn man die heutige Situation mit jener in früheren Zeiten vergleicht, brachte die Pille zweifellos einen wichtigen Durchbruch in der Geschichte der Frauen. Zwar waren seit Langem verschiedene Verfahren der Geburtenkontrolle bekannt, aber die Pille war weitaus effektiver. Jetzt endlich gab es ein Verhütungsmittel, das einfach anzuwenden und hochgradig zuverlässig war, jetzt endlich war die Angst vor einer ungewollten Schwangerschaft nicht mehr allgegenwärtig. Und indem Frauen mehr Verfügungsmacht über ihre Fruchtbarkeit gewannen, gewannen sie zugleich auch mehr Autonomie über ihr Leben. In diesem Sinne bedeutete die Pille unbestreitbar einen enormen Fortschritt.

Hinzu kamen der gesellschaftliche und soziale Wandel, die Bildungsexpansion und die zunehmende Berufstätigkeit von Frauen. Jetzt erweiterten sich die Lebensmöglichkeiten und Lebenswege von Frauen. Jetzt ging es nicht mehr nur darum, möglichst bald einen Ehering zu erobern und die vorbestimmten Stationen zu absolvieren, die man auf das Grundmodell zusammengefasst hatte: Love – marriage – baby carriage. Viele Frauen wollten nun, vor der Verantwortung für ein Kind, zunächst einmal ein Stück eigenes Leben. Und dafür war die Pille enorm wichtig.

Aber dieser Fortschritt hatte auch seinen Preis. Im Lauf der Jahre zeigte sich, dass mit der Pille auch das kam, was in der Sprache der Beipackzettel »Risiken und Nebenwirkungen« heißt. Zunächst einmal in unmittelbar physischer Hinsicht: Die Kehrseite des zeitlichen Aufschiebens ist – und das hatten in den ersten Jahren der Pilleneuphorie nur wenige bedacht –, dass die biologischen Voraussetzungen für eine Schwangerschaft unsicherer werden. Die Fruchtbarkeit, so die nüchternen Fakten, nimmt mit steigendem Alter der Frau ab. Und gleichzeitig steigt die Wahrscheinlichkeit, dass – wenn es doch noch zu einer Schwangerschaft kommt – das Kind eine genetische Anomalie aufweist und behindert sein wird.

Von der Möglichkeit zur Pflicht der Verhütung?

Darüber hinaus haben die neuen Möglichkeiten der Geburtenkontrolle auch zu einem kulturellen Wandel der Erwartungen beigetragen. Eine neue Technik, das zeigen viele Erfahrungen aus der Geschichte, verhält sich im sozialen Raum nicht neutral, sondern birgt ein ganzes Programm sozialen Wandels in sich. Wo neue Handlungsmöglichkeiten entstehen, da verändern sich auch die Einstellungen und Normen des Handelns.

Genau diese Entwicklung lässt sich auch im Gefolge der Pille beobachten. Dadurch, dass die Pille enorm schnell in die Schlagzeilen der Massenmedien rückte und zu vehementen Diskussionen in der Öffentlichkeit führte, wurde auch ein Bewusstseinsprozess ausgelöst. Jetzt wurde bis ins letzte Dorf hinein unmittelbar sichtbar, dass die Biologie nicht mehr Schicksal ist, sondern dass es vielmehr Optionen gibt: die Entscheidung für oder gegen ein Kind. Und im Lauf der Jahre verschieben sich allmählich die Gewichte der »Beweislast«. Unter der Hand bahnt sich eine Veränderung der gesellschaftlich vorherrschenden Moral an: Aus dem Entscheidenkönnen wird die Pflicht zur bewussten Entscheidung. Oder noch pointierter gesagt: mit der Verfügbarkeit der Pille wird die Entscheidung für oder gegen ein Kind weiter »privatisiert«, also aus den Zwängen der Biologie entlassen und in die Verantwortung von Frau und Mann gelegt. »Die neue Moral heißt bewusste, rationale, technisch-sichere Verhütung. Ihr Leitbild ist der aufgeklärte moderne Mensch, der verantwortungsbewusst mit dem Akt der Zeugung umgeht … Fast wird derjenige verdächtig, der im Zeitalter der unbegrenzten Verhütungsmöglichkeiten keinen Gebrauch davon macht. Verhütung wird vom notwendigen Übel zur aufgeklärten Staatsbürgerpflicht.«1

Und diese Pflicht trifft nun vor allem die Frauen. Sie sind es, die mit dem Störfall Kind verantwortungsbewusst umgehen sollen, damit ihre Chancen im Bildungssystem und in der Berufswelt nicht eingeschränkt werden. Sie sollen Mutterschaft so unauffällig und so effizient wie möglich organisieren – dafür, so die Verheißung, dürfen sie dann auch an den Segnungen der Moderne teilhaben. Wie oft diese Verheißung in Erfüllung geht, ist eine andere Frage. Aber offensichtlich ist, dass hier ein neues Leitbild seinen Aufstieg erlebt. In seinem Zentrum steht das »Top Girl«2 – die junge Frau, aufgeklärt, aktiv und dynamisch, die ihren Lebensentwurf langfristig plant...

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