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E-Book

Die reuelose Gesellschaft

AutorRotraud A. Perner
VerlagResidenz Verlag
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl200 Seiten
ISBN9783701743735
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Es existieren Wege zu einer besseren, humaneren Gesellschaft.Wir leben in einer Gesellschaft, in der Korruption, Betrug und Gewalt, rücksichtsloser Karrierismusund grenzenlose Gier von vielen unhinterfragt akzeptiert werden. Doch muss es so sein? Wo ist das individuelle und kollektive Verantwortungsgefühl geblieben? Wieso existiert immer weniger Unrechtsbewusstsein? Rotraud A. Perner begibt sich auf die Suche nach dem verlorenen Mut zur Verantwortung. Sie analysiert die Ursachen und beschreibt die Wege zu einer besseren, humaneren Gesellschaft. Perner hat nicht nur eine der spannendsten Analysen der heutigen Zeit geschrieben, sondern zeigt die reinigende Kraft der Reue und die Vielfalt der Möglichkeiten einer Kultur der Wahrhaftigkeit auf.

Rotraud A. Perner ist Juristin, Psychotherapeutin, Psychoanalytikerin und absolvierte postgraduale Studien in Soziologie und evangelischer Theologie. Sie lehrt Gesundheitskommunikation, Gewaltprävention, Interpersonelle Kommunikation und die von ihr entwickelte Methode der PROvokativpädagogik u. a. an der Donau-Universität Krems. Zuletzt erschienen: 'Der erschöpfte Mensch' (2012).

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Leseprobe

Das Zeitalter der Seelenvergiftung


»Sich des Unbewussten bewusst werden« heißt, die Verdrängungen und Entfremdungen von mir, und damit von dem Fremden, zu überwinden. Es bedeutet aufzuwachen, Illusionen, Fiktionen und Lügen abzuschütteln und die Wirklichkeit so zu sehen, wie sie ist.

ERICH FROMM1

Körper, Seele und Geist sind eine Einheit; sie beeinflussen einander gegenseitig. Zu dieser »ganzheitlichen« Sichtweise hebt der Psychologe Peter Orban als Charakteristikum der philosophischen Medizin hervor, dass aus ihrer Sicht der Weg der Krankheit von oben nach unten geht – von der Seele in den Körper: »Nicht in einem gesunden Körper wohne auch eine gesunde Seele, sondern eine gesunde Seele ist auch verantwortlich dafür, dass auch der Körper gesund ist«, schreibt er, und: »Ein kranker Leib freilich ist immer ein Hinweis darauf, dass die Seele ein Problem hat«2 und, ergänze ich, Energie und damit Immunkräfte verliert.

Aber, so Orban, nicht jedes Problem fällt in den Körper und produziert dort ein Symptom, sondern es kann ebenso in Handlungen stecken bleiben; dann sei eben der Körper gesund, schreibt er, und das Handeln krank. Daher gelte es, die Seele zum Sprechen zu bringen. Das setze eine Suchbewegung voraus und eine Übersetzungsleistung3 und, setze ich aufklärend hinzu, diese beiden Fähigkeiten müssen erst erlernt werden. Man braucht dazu eine bestimmte Art, von außen nach innen zu schauen – und dies lernt man meist im Dialog mit einem psychotherapeutischen oder auch theologischen Seelsorger, sofern Letzterer nicht darauf versessen ist, Scham- und Schuldgefühle auszulösen. (Bei Psychotherapeuten wäre das ein grober Kunstfehler, bei Geistlichen hängt es von der Ideologie des jeweiligen Religionsbekenntnisses ab, ob dieses nämlich auf Befreiung oder Unterwerfung abzielt.)

Seh-Kraft


Es gibt viele Arten, wie man sehen kann. Meist wird einem das bewusst, wenn man Autofahren lernt: Da benötigt man die »zweite Aufmerksamkeit« – ich spreche von ihr als dem »Panorama-Blick« –, mit der man das Blickfeld erweitert, gleichsam die Augenachsen parallel stellt, anstatt sie auf einen Fokus zu verengen; das muss man aber wiederum dann tun, wenn etwa ein Kind die Fahrbahn betritt und man nun besonders vorsichtig, besser gesagt: voraussichtig, dessen mögliches unbedachte Spontanverhalten erahnen sollte.

Es gibt viele Arten, wie man sehen kann.


Es gibt aber auch den »diagnostischen Blick«, mit dem man Stimmungs-, Antriebs- oder überhaupt Gesundheitsveränderungen feststellen kann, vorausgesetzt, man hat diese Begabung entwickelt. Die meisten Angehörigen von Gesundheitsberufen erwerben diese Kompetenz im Laufe ihrer Praxis. Aber auch der Normalbürger kann sich angewöhnen, Signale bewusst wahrzunehmen und nicht nur als unerwünschte Veränderung bei sich oder anderen zu kritisieren oder zu ignorieren.

Wenn man frühmorgens sein Aussehen im Spiegel kontrolliert, trifft es an manchen Tagen zu, dass man sich nicht gefällt. Die wenigsten Menschen denken dann nach, was sie am Vortag gegessen oder getrunken haben oder ob sie ausreichend geschlafen haben – denn Schlaf ist ebenso wie Sport eine Form, Giftstoffe aus sich herauszuschwitzen.

Ich erinnere mich, dass mich ein Jungianischer Kollege einmal Ende der 1980er-Jahre darauf hinwies, der Schweizer Psychiater und Psychotherapeut Alfred J. Ziegler4 habe in einem Vortrag gesagt, wir lebten derzeit im »Zeitalter der Gifthexe« – überall werde das Echte verunreinigt, verfälscht, durch Imitationen ersetzt, und die Folge wäre, dass man die ursprüngliche Form nicht mehr erkenne. Wenn man die Jahre danach überblickt mit ihren Bemühungen um Gütesiegel, Produktdeklarationen und Stoffinhaltsangaben, Schadbelastungsquoten, aber auch Abschlagszahlungen für Umweltsünden, wird sichtbar, wie sogar Regierungen und Staatengemeinschaften, die ja erfahrungsgemäß immer erst sehr spät auf Alarmsignale aus Umwelt und Bevölkerung reagieren und eher den Beteuerungen von Industrie und Kapitalmanagement vertrauen – oder wie auch immer man diese Form von »Hörigkeit« bezeichnen will –, die Augen nicht mehr vor den unübersehbaren Schäden und Negativprognosen schließen können.

Gift gibt es aber nicht nur in chemischer Form, sondern auch in mentaler – in gesprochenen oder geschriebenen Worten und Sätzen, aber auch in Blicken und Gesten, ja sogar in geplanten Beziehungskonstellationen. So gab es beispielsweise im antiken Römischen Recht das Verbot der sogenannten societas leonina; darunter versteht man einen Gesellschaftsvertrag, bei dem eine Person allein alle Vorteile gewinnt, während die anderen ausschließlich die Lasten zu tragen haben. Der Name »Löwengesellschaft« wurde von der Fabel des Äsop abgeleitet, in der etliche Tiere gemeinsam mit dem Löwen zur Jagd gehen, der dann aber die gesamte Beute für sich behält.

In Italien ist diese Vertragsform nach wie vor verboten, in Deutschland und Österreich hingegen nicht. Die Frage, die sich dabei stellt, lautet nämlich, ob sich jemand in vollem Wissen um die Konsequenzen auf solch eine Vertragsbeziehung einlässt. »Informed consent« lautet der Fachausdruck dafür, und oft wird dann von den Apologeten als Entschuldigung vorgebracht, sie hätten ohnedies gefragt, ob der jeweils andere »Vertragspartner« einverstanden wäre – eben ohne auf das »Kleingedruckte« hinzuweisen oder es zu erläutern.

Dieser Begriff des »informed consent« taucht auch im Zusammenhang mit sexuellen Misshandlungen auf, wenn Täter etwa behaupten, sie hätten ohnedies gleich »zu Beginn« (!) gefragt, ob das »eh alles o. k.« sei. »Zu Beginn« stellt sich dann als Umarmung oder Kuss heraus – eine Handlung, die zwar im laienhaften Alltagsverständnis oft als unangenehm, nicht aber als Gewalt erlebt wird; wenn später dann der Gesamtverlauf eines sexuellen Übergriffs analysiert wird, stellt sich fast immer heraus, dass das als nur unangenehm verharmloste Empfinden der intuitive Hinweis auf die drohende Grenzverletzung war. Und genau diese Intuition ist es, die hilft, »Giftiges« von Gesundheitsförderndem zu unterscheiden – denn Vergehen und Verbrechen werden logischerweise nicht angekündigt, sondern verschleiert und verleugnet. Und genau damit führen sie zu »Seelenmord«5 – der Vergiftung des Wahrnehmungsvermögens.

Seelentoxikologie


In der Grundlagenliteratur der psychotherapeutischen Schule der Transaktionsanalyse, kurz TA, erfreut sich das »TA-Märchen« großer Beliebtheit: Darin wird die Geschichte von den »Kuscheltüchern« erzählt, die jeder Mensch zu seiner Geburt in einem Beutelchen erhält und deren Vorrat nie zu Ende geht. Immer wenn man ein solches Tuch verschenkt und nachher wieder in den Beutel greift, ist schon ein neues drin, daher wurden sie auch freigiebig weitergegeben und bereiteten viel Freude. Dann aber kam eine böse Hexe, der niemand ihre Tinkturen und Zaubertränke abkaufen wollte – eben weil es den Leuten so gut ging mit ihren unerschöpflichen Kuscheltüchervorräten. Daher streute sie das Gerücht aus, dass diese Tücher »selbstverständlich« einmal ausgehen würden – wie alles sein Ende habe –, und pflanzte so Neid in die Herzen der Menschen, die nun ihre warmen Kuscheltücher horteten und stattdessen die von der Hexe feilgebotenen kalten Nesselfetzen kauften und dahinsiechten; es fehlte ja die Herzenswärme des Einander-Wohltuns – bis dann endlich die Wahrheit aufgedeckt wurde und die Menschen sich wieder einander zuwendeten …6

Kinder und Narren sagen die Wahrheit, weiß der Volksmund. Genau diesen oft scherzhaft berufenen Kindermund, der die Wahrheit kundtut, würde es oft brauchen, um derartige Hexereien zu enttarnen. Denn ein Kind würde wohl protestieren, »Die kalten Nesselfetzen mag ich nicht!« – aber wenn es bereits vom Vorbild der Erwachsenen abgeschaut hat, dass man deren Verhalten nicht infrage stellen darf, weil sonst Strafe droht, dann wird die Präzision seines »Psychometers« – seines seelischen Mess- und Signalapparats – verdreht.

Ein – wenn auch gespielter – kindlicher oder närrischer Stil ist das Gegenmittel der Wahl wider diese Einschüchterung. So schreibt auch Erving Goffman: »Wo es keine objektiven Kriterien für bestimmte Qualifikationen gibt und wo die wirklichen Fachkenner nicht zum Schutz ihrer Stellung organisiert sind, kann sich jeder zum Experten ernennen und braucht keine andere Strafe als allenfalls Hohngelächter zu befürchten.«7 Das gilt besonders für selbst ernannte Erziehungsexperten, die aus ihren wenigen, an selbst gemachten Kindern oder überhaupt nur aus Angelesenem erworbenen eigenen Erfahrungen einen Allgemeingültigkeitsanspruch gegenüber...

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