Eine intensive Auseinandersetzung mit der Rolle der Musik und Musikerziehung im „Dritten Reich“ setzt eine detaillierte Kenntnis der Quellenlage voraus. Es stellt sich die Frage, welche der vorhandenen Quellen wirklich maßgeblich sind. Zum einen existieren Veröffentlichungen über Musik und die Rolle der Musikerziehung aus der Zeit des Nationalsozialismus, welche jedoch nicht zwangsläufig die tatsächliche Situation im „Dritten Reich“ widerspiegeln. Greuel weist auf hermeneutische Schwierigkeiten hin, welche beim Umgang mit Publikationen aus der Zeit des Nationalsozialismus bestehen:
Weil das Nazi-Regime […] ein menschenverachtendes Terror-Regime war, das ideologiekritische oder gar -feindliche Äußerungen mit großer Brutalität bekämpfte, erzeugte es Angst, und von Menschen, die Angst haben, kann niemand vollständigen authentischen Ausdruck erwarten. Deshalb kann die für das Verstehen unabdingbare Entsprechung von Geschriebenem und Gemeintem nicht grundsätzlich vorausgesetzt werden. [5]
Greuel widerspricht Günthers Feststellung, dass für niemanden im „Dritten Reich“ ein Zwang zur Publikation bestand und angebotene Ämter ohne Angst vor Nachteilen abgelehnt werden konnten. Greuel nennt als Gegenbeispiel Michael Alt, welcher unter anderem aufgrund seiner zu geringen Anteilnahme am Parteigeschehen unter Druck geriet und sich vor den Nationalsozialisten hierfür rechtfertigen musste.[6]
Wenn nicht auszuschließen ist, dass das Geschriebene nicht äquivalent zu dem Gemeinten ist, muss die Authentizität des Geschriebenen infrage gestellt werden. Greuel macht in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam, dass in totalitären Systemen die Glaubwürdigkeit von schriftlichen Meinungsäußerungen stark beschränkt sei. So lassen ideologiefreundliche Aussagen innerhalb eines totalitären Zwangssystems […] also nicht per se auf eine ideologiefreundliche Gesinnung des Autors [schließen]. Gleichzeitig kann das Ausbleiben ideologiekonformer Aussagen durchaus ein Hinweis sein auf die kritische oder gar ablehnende Haltung des Autors dem Regime gegenüber.[7] Neben der Verstellung des Autors schließt Greuel auch die Fremdbeeinflussung des Textes durch Nationalsozialisten nicht aus. Trotzdem sei eine grundsätzliche Entlastung von Aussagen, weil diese in einem totalitären Staat gemacht wurden, nicht zu rechtfertigen.[8]
Zum anderen liegen Liederbücher, Schulbücher, Spielmusiken und weitere kompositorische Veröffentlichungen aus dieser Zeit vor. Diese informieren über Konstanz und Veränderungen des Repertoires für die Spiel- und Singpraxis der verschiedenen Erziehungsinstitutionen vor und nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, inwiefern sich in dem gesungenen Liedgut NS-Erziehungsziele wiederfinden und welche eventuell konkret in den Liedern übernommen wurden. Bestehen Zusammenhänge zwischen konkreten NS-Erziehungszielen, beispielsweise einer Erziehung zum „blinden“ Gehorsam an den „Führer“, zur Opfer- und Kampfbereitschaft oder zum Glauben an die Volksgemeinschaft, und den gesungenen Liedern, so sollen diese im Abschnitt 5.5 herausgearbeitet werden. Dabei interessiert insbesondere die Funktion des Singens. Diese kann nicht ohne Weiteres aus dem Text oder der musikalischen Gestaltung eines Liedes entnommen werden. Um die vorgesehene Erziehungsaufgabe und die tatsächliche Bedeutung eines Liedes für die Kinder und Jugendlichen zu erfassen, müssen Hintergründe und Zusammenhänge in Bezug auf das Singen dieses Liedes im alltäglichen Gebrauch herausgearbeitet werden. Hierbei können Zeitzeugen wichtige Informationen liefern.
Diese Erinnerungen von Zeitzeugen stellen eine weitere wichtige Quelle dar. Sie geben umfassende und detaillierte Auskünfte darüber, wie der Alltag im „Dritten Reich“ von einzelnen Menschen oder Personengruppen erfahren wurde. Die gemachten Erlebnisse von Zeitgenossen sind jedoch sehr unterschiedlich, sodass eine Übertragung oder Verallgemeinerung von individuellen Erfahrungen auf die Gesamtheit der Bevölkerung schwer möglich ist. Aussagen von Zeitzeugen können nicht als objektive Schilderung der damaligen Gegebenheiten angesehen werden. Vielmehr sind sie zu einem hohen Grade subjektiv aufgeladen. Einige Zeitzeugen neigen dazu, ihr damaliges Verhalten, ihre Einstellung und ihre individuellen Erlebnisse als typisch für diese Zeit anzusehen. Solche Behauptungen müssen in jedem Fall kritisch überprüft und gegebenenfalls in Zweifel gezogen werden.
So stellt beispielsweise Melita Maschmann ihren Weg und Lebenslauf im „Bund Deutscher Mädel“ als charakteristisch für das Verhalten der meisten Jugendlichen zu der damaligen Zeit dar. Ihr Bedürfnis nach Anerkennung und ihre Suche nach dem Sinn des Lebens nennt sie als Gründe zur aktiven Teilnahme bei der nationalsozialistischen Bewegung:
Wenn ich den Gründen nachforsche, die es mir verlockend machten, in die Hitler-Jugend einzutreten, so stoße ich auch auf diesen: Ich wollte aus meinem kindlichen, engen Leben heraus und wollte mich an etwas binden, das groß und wesentlich war. Dieses Verlangen teilte ich mit unzähligen Altersgenossen. [9]
Hier schließt Maschmann von sich auf andere Jugendliche, ohne zuvor zu überprüfen, ob diese Generalisierung zulässig ist. Grebig bezweifelt, dass Maschmann repräsentativ für die Jugendlichen im „Dritten Reich“ sei und ihr Weg zum Nationalsozialismus als typisch gelten könne. Sie stellt heraus, dass dieser Anspruch Maschmanns nur sehr eingeschränkt gelten [könne]:
Es ist allenfalls der typische Weg eines Jugendlichen, der in einem aktiv deutschnationalen, nicht kirchlich gebundenen Elternhaus aufgewachsen ist, in dem die Abneigung gegenüber der Republik, das Leiden an der Niederlage Deutschlands im Weltkrieg und ein nicht unbedingt politisch gerichteter abstrakter Antisemitismus offenbar den Tenor des Familiengesprächs in Sachen Politik bestimmten.[10]
Hier wird deutlich, wie spezifisch die Situation jedes Individuums war. Übertragungen von Aussagen einiger Zeitgenossen auf den Großteil der übrigen Zeitgenossen bergen die Gefahr, dass persönliche Erfahrungen als allgemein gültig hingestellt werden. Was Grebig im Fall von Maschmann für nicht voll aufklärbar hält, nämlich ob der wiederholt geäußerte Anspruch von Melita Maschmann – „Ich darf hier für viele meiner Gefährten sprechen“ – wirklich zu Recht besteht. Einige Zweifel an diesem Anspruch bleiben, da sich der Eindruck einer gewissen Singularität der Person Melita Maschmanns nicht ohne weiteres verdrängen lässt […][11] kann stellvertretend für die meisten Zeitzeugenaussagen als zutreffend angesehen werden.
Zudem sollte berücksichtigt werden, dass sich über die Lebensspanne eines Menschen die Erinnerung an frühere Erlebnisse und Verhaltensweisen wandelt. Somit ist selbst die Übereinstimmung von Erfahrungsberichten mit damals individuell Erlebtem nicht unbedingt gegeben. In der Erinnerung können damals subjektiv als wichtig empfundene Erlebnisse an Bedeutsamkeit verloren haben, in Vergessenheit geraten sein oder eine positive bzw. negative Färbung erhalten haben. Fried fordert eine Berücksichtigung psychologischer Erkenntnisse über Erinnerungsweisen und Erinnerungsleistungen in der historischen Forschung. Er fasst die Ergebnisse der Gedächtnisforschung prägnant zusammen: Keine Erinnerung bleibt sich gleich. Keine zwei Erinnerungen über denselben Gegenstand sind identisch. […] Eine Erinnerung ist […] zunächst und in erster Linie ein Zeugnis für die Befindlichkeit dessen, der sich erinnert und zwar zum Zeitpunkt und unter den Umständen seines Erinnerns.[12] Außerdem korreliere die Zeitdauer zwischen Erlebtem und Erinnertem mit dem Grad der Veränderung der Erinnerung: Je weiter zurück das zugehörige Erleben liegt, desto höher steigt die Verformungsrate.[13] Vielfach berichteten und berichten gerade Zeitzeugen des „Dritten Reichs“ erst nach Jahren oder Jahrzehnten von damaligen Erlebnissen. Somit ist unter diesen Umständen jede Geschehensreproduktion aus dem Gedächtnis ein in doppeltem Sinne heikles Unterfangen: zunächst für jene, die sich an etwas Bestimmtes erinnern wollen; dann aber auch für jene, die sich auf diese Erinnerungszeugnisse verlassen möchten oder müssen, um Vergangenes zu vergegenwärtigen.[14] Antholz, der seinen autobiografischen Bericht über seine Erlebnisse in der Zeit des Nationalsozialismus auf eigene Erinnerungen und Erinnerungen von damaligen Freunden, Bekannten und Familienangehörigen stützt, ist sich des Problems der selektiven Erinnerung bewusst. Er zieht seine eigenen Erinnerungen in Zweifel und begründet dies an Beispielen. Einige Erlebnisse, die von den Klassenkameraden gemeinsam in der Schule gemacht wurden, tauchen teilwiese überhaupt nicht in der Erinnerung von Antholz auf. Andere wurden grundlegend anders wahrgenommen.[15]
Antholz konstatiert und machte an seiner eigenen...