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Die Rolle libyscher Stammesgesellschaften in der Revolution von 2011

AutorLotta Corradini
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl81 Seiten
ISBN9783668058187
FormatePUB/PDF
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis31,99 EUR
Magisterarbeit aus dem Jahr 2014 im Fachbereich Ethnologie / Volkskunde, Note: 2,0, Universität zu Köln (Ethnologisches Institut), Sprache: Deutsch, Abstract: Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit einem Thema, das in den vergangenen zwei Jahren seit den Aufständen in Libyen und dem Sturz und Tod Muammar al Gaddafis immer wieder in den Nachrichten und anderen Medien Erwähnung fand, jedoch meist nur am Rande. In Nebensätzen wurde häufig von 'den Stämmen' berichtet, die in Libyen große politische Relevanz hätten. Ziel dieser Arbeit ist es, die Rolle dieser näher zu beleuchten und dabei einen Zusammenhang zwischen der Geschichte des Landes und der prekären politischen Situation der Gegenwart herzustellen.

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Leseprobe

4 Die Gaddafi Ära


 

42 Jahre sollte Gaddafis Herrschaft in Libyen dauern, bis er, wie selbst angekündigt, im Kampf für sein Regime und gegen sein Volk ums Leben kam. Eine lange Zeit, in der er Land und Menschen intensiv beeinflusst und geprägt hat; immerhin ist über die Hälfte der Libyer zwischen 16 und 35 Jahren alt und hat nie etwas anderes als die Diktatur des „Bruder Oberst“ kennengelernt.[32] Seine Auftritte in der Weltpolitik brachten ihm Titel wie „Enfant Terrible“, „Terrorpate“ und „Irrer Hund“ ein. „Ich bin der Führer der Führer Arabiens, ich bin der König der Könige Afrikas und ich bin der Imam aller Muslime“, sagte er von sich selbst.

 

4.1 Gaddafis Septemberrevolution von 1969


 

Am 1. September 1969 gelang es Gaddafi, sich in Abwesenheit von König Idris, der sich zur medizinischen Behandlung in der Türkei befand, durch einen unblutigen Militärputsch mit dem „Bund der freien Offiziere“ zum Staatsoberhaupt zu erheben. Der damals erst 27-Jährige proklamierte die Libysche Arabische Republik und wurde zum Befreier Libyens von Monarchie und Kolonialismus. Dies war der Beginn eines großen Umbruchprozesses, nicht nur in politischer, sondern ebenso in wirtschaftlicher sowie gesellschaftlicher Hinsicht und auch die Stammesfrage betreffend. Gaddafi war selbst beduinischer Herkunft und stolz darauf.

 

Er folgte seinem großen Vorbild Nasser in Ägypten. Er begann sofort damit, Banken und Versicherungen zu verstaatlichen und kündigte den englischen und US-amerikanischen Militärbasen die Pachtverträge. Die Libyer sahen darin eine endgültige Befreiung von der Kolonialisierung, was Gaddafi zu großem Ansehen in der Bevölkerung verhalf. 1971 wurden auch die Ölfelder verstaatlicht, und aus einem der ärmsten Länder Afrikas wurde eines der reichsten.

 

1977 gründete Gaddafi offiziell das Staatsmodell der Jamahiriya[33], was wörtlich „Volksmassenrepublik“ bedeutet. Theoretisch wurde Libyen basisdemokratisch von unten nach oben regiert. Den ideologischen Überbau dieses Systems bildete das Grüne Buch. Nach Gaddafis „Dritter Universaltheorie“ übt das Volk die Macht direkt aus und darf dabei nicht durch vermittelnde Institutionen gestört werden, weshalb in der Jamahiriya alle politischen Parteien sowie NGOs strikt verboten waren. Werenfels beschreibt die Praxis des libyschen Herrschaftssystems als eigentümliches Amalgam und nennt vier „Bestandteile:

 

1. Gewählte basisdemokratische Institutionen bildeten die unterste Ebene des politischen Systems. Sie bestanden aus ca. 500 Basiskongressen mit einer schwankenden Zahl vierteljährlich gewählter Mitglieder. Die Funktion der Basiskongresse war die Diskussion und Verabschiedung von Gesetzesvorschlägen und Vorlagen und die Bestimmung eines Delegierten für das Quasi-Parlament.

2. Nicht-gewählte (para-)militärische Einheiten mit hoher Regimeloyalität: Seit den 90er Jahren besetzte Gaddafi Schlüsselpositionen im Sicherheitsapparat nur noch mit Familien- oder Stammesangehörigen. Hierzu zählt die ihm loyale sogenannte bewaffnete Volksgarde.

3. Semi-institutionalisierte Stammesstrukturen waren die im Jahr 1993 gegründeten Volksführerschaftskomitees.

4. Gaddafi-Familie und informelle Beratergremien.

 

Die Funktion und Abgrenzung dieser verschiedenen Strukturen sei im höchsten Maße unklar, so Werenfels, allerdings sei unbestritten, dass Gaddafi und seine informellen Netzwerke das Zentrum der Macht in Libyen bildeten. Zu diesen Netzwerken zählt Werenfels die Familie und den Stamm Gaddafis sowie Führer anderer wichtiger Stämme, die sie im Text leider nicht näher erläutert. [34]

 

4.1.1 Erwähnung des Stammesbegriffs im Grünen Buch


 

1975 veröffentlichte Gaddafi das Grüne Buch, das als eine Art Verfassung Libyens angesehen wurde, da es keine andere Verfassung gab. Er selbst bezeichnete das Buch als „Dritte Universaltheorie“ und verstand sie als Alternative zu Kommunismus und Kapitalismus.

 

Im ersten Kapitel geht es um Gaddafis Demokratieverständnis. Parlamente und Klassenherrschaft werden abgelehnt, stattdessen entwirft er ein kompliziertes Organisationschema, das die direkte Herrschaft des Volkes gewährleisten sollte. Das änderte allerdings nichts an der Tatsache, dass er allein alle für den Staat wichtigen Fragen entschied.

 

Im zweiten Kapitel mit dem Titel „Der Sozialismus“ wird beschrieben, wie die Ausbeutung der Menschen abgeschafft werden soll. Es geht um Bedürfnisbefriedigung, die Abschaffung von Arbeitslosigkeit und Eigentum. (Tatsächlich hat Gaddafi in den 80er Jahren viel Land verstaatlicht und die Besitzurkunden vernichten lassen, was heute zu Konflikten zwischen Stämmen führt, die Ansprüche darauf erheben.)

 

Interessant für den Kontext der vorliegenden Arbeit ist insbesondere das dritte Kapitel des Grünen Buches, in dem sich der Oberst der sozialen Basis der „Dritten Universaltheorie“ widmet und auf Familie, Stamm und Nation eingeht, die für ihn aufeinander aufbauende Einheiten im Sinn eines evolutionistischen Ansatzes bedeuten. Demzufolge stellt die Nation eine logische Weiterentwicklung des Stammes dar.[35]

 

Die Familie wird als Grundlage beschrieben, die in den Stamm eingegliedert sei, und die Gesamtheit der Stämme bilde die Nation. Familie, Stämme und Nation werden dabei durch ein Zusammengehörigkeitsgefühl verbunden. Konsens, Loyalität, Solidarität, Zusammengehörigkeitsgefühl und Freiheit sind zentrale Elemente in Gaddafis Ideologie. Der Anschaulichkeit halber wird eine Stelle aus dem Grünen Buch zitiert:

 

Die soziale Basis der Dritten Universaltheorie

 

Ein Stamm ist eine Familie, die als Ergebnis der Fortpflanzung gewachsen ist. Daraus folgt, dass der Stamm eine große Familie ist. In gleicher Weise ist eine Nation aus dem Stamm erwachsen. Und so gesehen ist die Welt eine Nation, die sich in Form von vielen Nationen verzweigt hat. Die Welt ist demnach eine große Nation. Die Beziehung, welche die Familie zusammenhält, ist auch das Bindeglied, welches für den Zusammenhalt von Stamm und überhaupt der ganzen Welt sorgt. (…) Da der Stamm eine große Familie ist, bietet er seinen Mitgliedern den gleichen materiellen Nutzen und die gleichen sozialen Vorteile, wie sie den Mitgliedern einer Familie zur Verfügung stehen. Denn der Stamm ist eine Sekundärfamilie. Hervorzuheben ist, dass das Individuum manchmal in schändlicher Weise handelt, was es sich in Anwesenheit der Familie nicht zu tun getrauen würde. Da aber die Familie zahlenmäßig klein ist, kann es sich ihrer Aufsicht entziehen im Gegensatz zum Stamm, von dem sich alle Mitglieder beobachtet fühlen. (…) Die Nation in der Weltgemeinschaft ist der Familie im Stamm vergleichbar. Je mehr Streit und Fanatismus es zwischen den Familien eines Stammes gibt, desto gefährdeter ist der Stamm. Gleiches gilt, wenn sich die Mitglieder einer Familie streiten und nur ihre eigenen Ziele verfolgen. Das gefährdet die Familie. Wenn die Stämme einer Nation zerstritten sind und nur ihre eigenen Interessen im Auge haben, ist der Fortbestand der Nation gefährdet.[36]

 

4.2 Gaddafis Umgang mit den Stämmen


 

Der Bedeutung, die er dem Stamm im Grünen Buch zuschreibt, zum Trotz verfolgte Gaddafi am Anfang einen ganz klar anti-tribalen Kurs, da er als junger Offizier der Meinung war, dass die traditionelle Stammesstruktur die nationale Loyalität untergrabe. Stammesführer, Notable und Gouverneure wurden aus der Politik verdrängt, die Strukturen im Sinne der Septemberrevolution verändert und durch Volkskongresse und revolutionäre Komitees ersetzt. Zwar betrachtete er den Stamm als wichtige soziale Organisation, versuchte aber offiziell einen tribalen Einfluss auf politischer Ebene auszuschließen. Inoffiziell aber waren die Stammesstrukturen weiterhin von lokaler Bedeutung und auch ein Grund dafür, dass Gaddafi seinen eigenen Stamm und dessen Verbündete nach allen Möglichkeiten unterstützte. Gegen Ende der 1980er Jahre erkannte er, dass dieses Vorhaben zum Scheitern verurteilt sei und die Führer vieler Stämme opponieren würden, also machte er eine totale Kehrtwende.

 

Gaddafi hat anfangs versucht, die Stämme zu verdrängen. Das ging aber schief. Der Deal war dann, dass die Stämme Gaddafi als Führer des Landes anerkennen und er ihnen dafür Spielräume auf lokaler und regionaler Ebene gewährte und sie die Ölrente[37] verteilen ließ.[38]

 

4.2.1 Retribalisierung der libyschen Politik


 

Da Gaddafi die Macht der Stämme nicht zerstören konnte, gliederte er sie in sein politisches System ein. Dies war der Beginn der Allianzen zwischen den Stämmen Gaddadfa, Warfalla und Maghara, so St. John in einem Interview mit nbc-news.[39] Mit der Zeit wurden die libyschen Stämme zu einer seiner wichtigsten Herrschaftsinstrumente und -stützen. Es gelang Gaddafi, die einflussreichsten Stämme in sein System einzubinden, indem er ihnen materielle Privilegien und Posten verschaffte und sich dafür ihrer Loyalität sicher sein konnte. Mit...

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