Einführung
Schwer lastest du, o Krone Monomachs!
ALEXANDER PUSCHKIN, Boris Godunow
Die Herrschaft über sich selbst ist die höchste Form der Herrschaft.
SENECA, Briefe an Lucilius, 113. Brief
In Russland ist nichts gefährlicher, als Schwäche zu zeigen.
PETER STOLYPIN
Es war schwer, Zar zu sein. Russland lässt sich nicht leicht regieren. In einem Zeitraum von 304 Jahren, von 1613 bis zur Abschaffung des Zarentums durch die Revolution 1917, stellte die Romanow-Dynastie 20 Herrscher. Ihr Aufstieg begann mit Iwan dem Schrecklichen und endete in der Zeit Rasputins. Romantisch angehauchte Chronisten der Tragödie des letzten Zaren machten häufig Andeutungen, es habe ein Fluch auf der Familie gelegen, aber die Romanows waren beim Aufbau ihres Imperiums so erfolgreich wie keine anderen Herrscher seit den Mongolen. Durchschnittlich wuchs das Russische Reich nach der Thronbesteigung des ersten Romanows täglich um 142 oder jährlich um 51800 Quadratkilometer an. Ende des 19. Jahrhunderts beherrschten sie ein Sechstel der Erdoberfläche – und dehnten dies immer noch aus. Der Aufbau eines Imperiums lag den Romanows im Blut.
In gewisser Hinsicht ist dieses Buch eine Charakterstudie und eine Untersuchung der zerstörerischen Wirkung absoluter Macht auf die Persönlichkeit. Zum Teil ist es auch eine Familiengeschichte, in der es um Liebe, Heirat, Ehebruch und Kinder geht, unterscheidet sich aber von ähnlichen Darstellungen – königliche Familien sind stets außergewöhnlich, weil Macht die traditionelle Familienchemie sowohl versüßt als auch vergiftet: Die Verführungskraft der Macht und ihr verderblicher Einfluss siegen oft über Loyalität und verwandtschaftliche Bindung. Dieses Buch ist eine Geschichte der Monarchen, ihrer Familien und ihres Gefolges, aber auch des russischen Absolutismus – und all dessen, was Russland ausmacht, seine Kultur, seine Seele, sein Wesen, ein einzigartiges Gebilde, das eine einzige Familie bestrebt war zu repräsentieren. Die Romanows sind zum Inbegriff nicht nur von Dynastie und Pracht geworden, sondern auch von Despotismus, zur Parabel für den Irrsinn und die Arroganz absoluter Macht. Abgesehen von den Cäsaren nahmen keine anderen Herrscher so viel Raum in der Vorstellungswelt des Volkes und der Kultur ein, und beide liefern uns allgemeingültige Kenntnisse darüber, wie persönliche Macht funktioniert – damals wie heute. Es ist kein Zufall, dass der Titel »Zar« von dem römischen Kaisertitel Cäsar abgeleitet ist, so wie auch das russische Wort für Kaiser schlicht und einfach das römische »Imperator« ist.
Die Romanows lebten in einer Welt von Familienrivalitäten, von imperialen Ambitionen, grellem Glanz, sexuellen Exzessen und lasterhaftem Sadismus; in einer Welt, in der seltsame Fremde plötzlich behaupteten, wiederauferstandene Monarchen zu sein, Bräute vergiftet wurden, Väter ihre Söhne zu Tode folterten, Söhne ihre Väter töteten, Ehefrauen ihre Männer umbrachten, ein heiliger Mann, der vergiftet und erschossen wurde, von den Toten auferstanden zu sein schien, Barbiere und Bauern in höchste Positionen gelangten, Riesen und Missgebildete gesammelt und Kleinwüchsige in die Luft geschleudert, abgeschlagene Köpfe geküsst, Zungen herausgerissen, Fleisch aus Leichen geschnitten, Därme durchspießt und Kinder abgeschlachtet wurden; man begegnet modesüchtigen nymphomanischen Zarinnen, lesbischen ménages à trois und einem Herrscher, der die erotischsten Briefe schrieb, die je von einem Staatsoberhaupt verfasst wurden. Doch es ist auch ein Reich, das von eiskalten Eroberern und brillanten Staatsmännern aufgebaut wurde, das Sibirien und die Ukraine an sich riss, Berlin und Paris einnahm und Männer wie Puschkin, Tolstoi, Tschaikowsky und Dostojewski hervorbrachte; es war eine Zivilisation mit überragender Kultur und von erlesener Schönheit.
Lässt man den Kontext außer Acht, erscheinen diese Exzesse so bombastisch und befremdlich, dass weltferne Historiker die Wahrheit verschämt abmildern. Schließlich aber sind die um die Romanows gewobenen Legenden – Stoff für Hollywoodfilme und Fernsehserien – genauso wirkmächtig wie die Fakten. Deshalb muss sich der Erzähler dieser Geschichte vor Melodramen, Mythologien und Teleologien hüten – Gefahren, die stets bei historischen Beschreibungen lauern – und mit Bedacht seine Methode wählen. Skepsis ist angebracht: Wissenschaft verlangt ständige Überprüfung und Analyse. Einer der Vorteile der narrativen Geschichtsschreibung besteht aber gerade darin, jede Regierungszeit so in einen Kontext zu stellen, dass ein Porträt der Entwicklung Russlands, seiner Autokratie und seiner Seele entsteht. Und in diesen überlebensgroßen, durch die Alleinherrschaft deformierten Persönlichkeiten scheint ein Zerrspiegel auf und zeigt uns ein vollständiges Bild des menschlichen Charakters.
Die Aufgabe, Russland zu regieren, war vielleicht immer mit Angst besetzt, und die Rolle des Autokraten konnte nur von einem Genie wirklich ausgefüllt werden – davon gibt es aber in den meisten Familien nur sehr wenige. Der Preis für das Scheitern war der Tod. »Russland ist eine Autokratie, die durch Strangulierung gemäßigt wird«, scherzte die französische Literatin Madame de Staël. Es war ein gefährlicher Posten. Sechs der letzten zwölf Zaren starben eines gewaltsamen Todes – zwei durch Erdrosselung, einer durch den Dolch, einer durch Sprengstoff, zwei durch Kugeln. Bei der letzten Katastrophe 1918 wurden 18 Romanows massakriert. Kaum ein Kelch war so reichhaltig und so voller Gift.
Ich widme meine Aufmerksamkeit vor allem den Umständen der Herrscherwechsel, weil sich daran am besten die Stabilität eines Regimes ablesen lässt. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass heute, zwei Jahrhunderte, nachdem die Romanows endlich ein Erbfolgegesetz erließen, russische Präsidenten praktisch immer noch ihre Nachfolger bestimmen wie einst Peter der Große. Ob reibungslose Übergabe oder erbitterter Kampf um die Nachfolge, diese Augenblicke extremer Spannung – in denen der Fortbestand der Dynastie davon abhängt, dass äußerste Raffinesse aufgeboten, jede Intrige erwogen wird – offenbaren die Fundamente der Macht.
Das Hauptelement des Zarentums war die Zurschaustellung von Erhabenheit und Stärke. Doch musste noch hinzukommen, was Otto von Bismarck, Rivale und Verbündeter der Romanows, »die Kunst des Möglichen, des Erreichbaren, die Kunst, das nächstbeste Ziel zu erreichen«, nannte. Für die Romanows beruhte die Kunst des Überlebens auf dem Jonglieren mit den Adelsfamilien, den Interessen und Persönlichkeiten eines kleinen Hofs und eines riesigen Reichs. Die Zaren mussten sich die Unterstützung ihrer Armee, des Adels und des Beamtenapparats sichern. Wenn sie diese verloren, drohte die Gefahr, vom Thron gestoßen zu werden – und in einer Autokratie bedeutete dies in der Regel den Tod. Alleinherrscher mussten nicht nur das tödliche Spiel der Politik beherrschen, sondern instinktiv, beinahe animalisch ihre Autorität ausüben. Ein erfolgreicher Zar konnte es sich leisten, hart zu sein, vorausgesetzt, er war es immer. Herrscher werden häufig nicht wegen ihrer Brutalität getötet, sondern wegen mangelnder Konsequenz. Zaren mussten Vertrauen und Respekt unter ihren Höflingen wecken, bei den Bauern hingegen – sie machten 90 Prozent ihrer Untertanen aus und nannten die Herrscher »Kleine Väter« – tiefe, geradezu religiöse Verehrung. Man erwartete, dass ein Zar streng mit seinen Beamten umging, jedoch gütig mit seinen Bauern, seinen »Kindern«: »Der Zar ist gut«, sagten sie, »die Adeligen sind böse.«
Macht ist immer persönlich. Jede Betrachtung eines heutigen westlich-demokratischen Staatsführers zeigt, dass selbst in einem transparenten System mit kurzen Amtszeiten Persönlichkeiten die Regierungen prägen. Demokratische Führer regieren häufig mittels ihrer vertrauten dienstbaren Geister statt mit den ernannten Ministern. An jedem Hof ist die Macht so unbeständig wie die menschliche Persönlichkeit. Sie fließt in einem Kreislauf von der Quelle ausgehend und wieder zurück, aber ihre Strömungen verändern sich unablässig; ihr Fluss kann umgeleitet, ja sogar in die entgegengesetzte Richtung gelenkt werden. In einer Autokratie ist die Macht veränderlich wie die persönlichen und politischen Stimmungen, Beziehungen und Umstände eines Herrschers und seines ausgedehnten, kaum überschaubaren Reiches. Das trifft auf alle Höfe zu. Die neuen Autokratien des 21. Jahrhunderts in Russland und China haben viel mit dem Absolutismus der Zaren gemeinsam: Sie werden von kleinen, undurchlässigen Cliquen getragen, häufen unermesslichen Reichtum an, sind durch hierarchische, klientelistische Beziehungen miteinander verflochten und bei alledem auf Gedeih und Verderb den Launen des Herrschers ausgeliefert. Ich möchte in diesem Buch der unsichtbaren, rätselhaften Alchemie der Macht auf die Spur kommen, um die Kernfrage aller Politik zu beantworten, die der Meister des Machtspiels, Lenin, lakonisch so formulierte: Kto kogo? – Wer kontrolliert wen?
In einer Autokratie erscheinen die Charakterzüge eines Menschen wie unter dem Brennglas, alles Persönliche ist politisch, und die Nähe zum Herrscher wird in Macht verwandelt und in den goldenen Faden eingewebt, der von der...