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E-Book

Die rote Olivetti

Mein ziemlich wildes Leben zwischen Bielefeld, Havanna und dem Himalaya

AutorHelge Timmerberg
VerlagPiper Verlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl240 Seiten
ISBN9783492973847
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Helge Timmerberg war nie ein Pauschaltourist: Schon früh bereiste er Länder, von denen andere nur träumen, traf Menschen, denen andere nie begegnen. Und er schrieb darüber: packende Reportagen und Bücher, farbig, voller Humor und ohne Tabus. In seiner Autobiografie schildert er nun seine Anfänge als Journalist in Bielefeld und die Jahre danach, in denen er für »Playboy« und »stern« schrieb, und berichtet ungeschminkt von den Exzessen seiner goldenen Jahre in Havanna. Wir werden Zeuge seines tiefen Drogenabsturzes - und erleben mit, wie er auf einer Reise durch den Himalaja sein Leben wiederfindet.

Helge Timmerberg, geboren 1952 im hessischen Dorfitter, ist Journalist und schreibt Reisereportagen aus aller Welt. Er veröffentlicht in der Süddeutschen Zeitung, der Zeit, Allegra, Stern, Spiegel, Playboy u.a. Er schrieb unter anderem die Bücher »Im Palast der gläsernen Schwäne«, »Tiger fressen keine Yogis«, »Das Haus der sprechenden Tiere«, »Shiva-Moon«, »In 80 Tagen um die Welt«, »Der Jesus vom Sexshop« und »African Queen«. Bei Malik und Piper erschienen zuletzt »Die Märchentante, der Sultan, mein Harem und ich«, seine Autobiografie, der SPIEGEL-Bestseller »Die rote Olivetti«, und die Reisestories »Die Straßen der Lebenden«.

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Leseprobe

Erstes Kapitel

»Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust.«

Ich saß im Londoner Stadtteil Notting Hill an einem Küchentisch und machte komische Sachen. Es war Nacht, und ich war allein, aber das härteste Halluzinogen auf Gottes Erden sorgte dafür, dass trotzdem keine Langeweile aufkam. Zunächst zeichnete ich unter dem Einfluss von LSD das Universum auf eine Streichholzschachtel, danach nahm ich mir die Plastikbecher vor. Der Mieter der Wohnung hatte entweder eine Party geplant oder er war ein Plastikbechergroßhändler. In seiner Küche standen oder lagen, zu Bechertürmen gesteckt oder in Kisten verpackt und zu Kistenbergen gestapelt, etwa tausend weiße Plastikbecher. Bei dem ersten war es Zufall. Ich kam aus Unachtsamkeit mit meiner Zigarette dran, und als sich die Glut in das Plastik fraß, war meine Wahrnehmung zu hundert Prozent von einem Transformationsprozess gebannt, der mir wie Zauberei vorkam. Der weiße Becher wurde nicht nur schwarz, er nahm auch eine gänzlich andere Form an. Atome, Moleküle, Elementarteilchen wurden neu gemischt. Alles schmolz, alles floss, alles verwandelte sich. Ergebnis: Statt des weißen Plastikbechers stand da nun eine kleine schwarze Hexe auf dem Tisch. Der nächste Becher wurde zu Gandalf, dem Magier, der nächste zu einem schrecklichen Tier. Zwerge, abscheuliche Kerle, hinterlistige Bäume, das gesamte Personal vom »Herrn der Ringe« versammelte sich vor mir auf dem Küchentisch und wurde immer mehr. Als alle Plastikbecher aufgebraucht waren, brach der Morgen an und ich sah das Malheur. Die Wände der Küche sowie deren Decke waren rabenschwarz, und ich meinte mich zu erinnern, dass sie gestern noch so weiß wie die Plastikbecher gewesen waren. Ich verließ die Wohnung auf der Stelle.

London im September 1970, das heißt: Scheißwetter. Ich war froh, als ich in dem Bus saß, der mich zur Stadtgrenze bringen sollte, von wo ich nach Dover trampen wollte. Hinter dem Ärmelkanal lagen nicht nur Belgien, Deutschland und Osteuropa, sondern auch die Türkei, Persien und Afghanistan. Ich brach an diesem Morgen zu meiner ersten Reise nach Indien auf, und die klimatischen Verhältnisse beim Start bestätigten meinen Entschluss, dies zu tun. Ich saß im oberen Bereich des Doppeldeckerbusses und sah durch das Fenster in den Regen, und sie waren überall. An den Bäumen, an den Hauswänden, an den Bretterzäunen, an den Zeitungskiosken, an den U-Bahn-Eingängen klebten die Extrablätter mit der Aufschrift:

»HENDRIX DIED«

Schock schwerer Rock ’n’ Roll. Hendrix war mehr als ein Jahrhundertmusiker, er war ein Prophet. Er hat Lichtgeschwindigkeit hörbar gemacht. Der schwarze König der psychedelischen Revolution, der Freund und Bruder aller Hippies war in dieser Nacht gestorben, und sollte es noch irgendwelche Restzweifel an meiner Indienreise gegeben haben, selbst Zweifel, von denen ich heute nichts mehr weiß, die Nachricht von Hendrix’ Tod wischte sie vom Tisch. Ohne Hendrix war das Abendland öd und leer, ohne den Beethoven der E-Gitarre rüttelte niemand mehr für mich an den Toren von Himmel und Hölle, ohne Jimi saß ich allein in dem Doppeldeckerbus.

Einen Tag später und bereits in Belgien, stieg ich an einer Autobahnauffahrt in einen dieser bunten VW-Busse ein, deren Schiebetür beim Öffnen herausfiel, und ein Mann begrüßte mich, der mich auf meinem Lebensweg zwar nur bis zum Kamener Kreuz begleiten sollte, aber trotzdem unvergessen blieb. Er war wie ich ein Tramper, ein Hippie, ein Morgenlandfahrer, jedoch viel älter. Graue Haare, langer Bart, Nickelbrille, ein Expsychologieprofessor der Uni Frankfurt in farbenfrohen Klamotten, der gefeuert worden war, weil er LSD-Testreihen nicht mit Meerschweinchen, sondern mit Studenten durchgezogen hatte. Ein deutscher Timothy Leary, ein Wissenschaftler der psychedelischen Fakultäten, ein Politiker der Exstase, und er hatte nicht nur die »Bhagavad Gita« und das »Tibetische Totenbuch« dabei, sondern auch eine aktuelle Tageszeitung, in der Genaueres über den Tod von Jimi Hendrix zu finden war. Die genaue Zeit. Der genaue Ort. Er war in einem Haus im Londoner Stadtteil Notting Hill gestorben, und weil mir der Name der Straße bekannt vorkam, fischte ich in meinen Taschen nach dem Zettel mit der Adresse der Wohnung, die ich zwei Nächte zuvor ein bisschen ruiniert hatte. Und bingo! Es war nicht das unmittelbare und auch nicht das nächste, sondern das übernächste Nachbarhaus. Zwei Häuser standen zwischen mir und Hendrix, als ich LSD nahm und er starb.

Der Hippieprofessor war ganz Ohr, als ich ihm davon erzählte. Er wollte mehr wissen. Alles. Jede Kleinigkeit dieser Nacht, an die ich mich noch erinnern konnte, und als ich das Universum auf der Streichholzschachtel herausholte, flippte er aus. Er bat mich, ihm die Schachtel zu schenken, mehr noch, er bettelte darum. Er wollte sie unbedingt haben. Ich gab sie ihm, und er revanchierte sich mit einer Lesung aus dem »Tibetischen Totenbuch« sowie einer Erläuterung des Vorgetragenen. Er sagte, es gäbe bekanntlich zwei große Spekulationen zum Thema. Die christliche schicke die Seelen nach dem Ableben des Körpers entweder in den Himmel oder in die Hölle, und in der Hölle sei Hendrix sicher nicht gelandet, denn Drogenkonsum zähle im Christentum nicht zu den Todsünden, und darüber hinaus sei er ein guter Mensch gewesen. Für Hindus und Buddhisten sei das natürlich Blödsinn. Sie glaubten nicht an Himmel und Hölle als festen Wohnsitz der Seele, sie glaubten, dass es immer weitergehe, sie glaubten an die Wiedergeburt in einem anderen Körper, an die Chance im nächsten Leben, und ob dieses Leben ein glückliches oder unglückliches, ein leichtes oder schweres, ein reiches oder armes werde, bestimmten unsere Taten im vorherigen. Und da müsse man bei Hendrix schon mal genauer hinsehen. Zwar gälte auch in den fernöstlichen Geistesschulen Drogenkonsum nicht als Sünde. Aber als Schwäche. Als Behinderung. Als Fessel. Als schlechtes Karma. Hendrix sei nicht gut zu sich gewesen. Weil er aber mit seiner Musik unendlich viel Gutes für andere getan habe, sei davon auszugehen, dass sein nächstes Leben ein glückliches und langes werde. Außerdem dürfe man nicht vergessen, dass Hendrix die Drogen nicht aus Jux und Tollerei genommen habe. Er habe es nicht für sich, sondern für die Musik getan.

»Er war ein Märtyrer des Rock ’n’ Roll, und Märtyrer sind nach ihrem Tod nicht nur bei den Christen, sondern auch bei den Hindus und Buddhisten per se auf der richtigen Seite.«

Vielleicht, so fuhr der Expsychologieprofessor aus Frankfurt fort, nähme man Jimi im nächsten Leben nur die Musik weg, und das auch nur zu seinen Gunsten, und dann würde der junge Ex-Hendrix vielleicht in ein paar Jahren wieder mit einem Besen auf einer Holzterrasse in Louisiana stehen, aber dieses Mal nicht glauben, dass der Besenstil eine Gitarre sei. Ob ich das verstände? Ob das klar sei? So in etwa meine es das »Tibetische Totenbuch«. Und bis vor einer Stunde hätte er auch gesagt, genau so sei es vorletzte Nacht gelaufen und genau so werde es mit Hendrix weitergehen. Aber nachdem er gehört habe, wie ich diese Nacht erlebt hätte und wo ich sie erlebt hätte, beginne er eine andere, eine dritte Möglichkeit der Seelenwanderung in Betracht zu ziehen.

Ob ich schon mal was von Soul-Jumping gehört hätte. Das sei die schamanische Spekulation über die Möglichkeiten der Seele nach dem Tod. Die Seele eines gerade Verstorbenen fährt weder zur Hölle, noch schwebt sie gen Himmel, und wiedergeboren wird sie auch nicht. Nein, sie hüpft einfach in einen anderen Körper, in irgendeinen, der gerade in der Nähe ist, und macht da als blinder Passagier weiter. Das könne gezielt geschehen, dann sei es ein Soul-Hijacking, eine Seelenpiraterie, es könne aber auch ein Unfall sein, und ob mir langsam dämmere, worauf er hinauswolle?

Hendrix war ein Acid-Freak. LSD war seine Lieblingsdroge. Er hat sie sogar besungen. »Are you experienced?« heißt: »Hast du schon mal LSD genommen?« Fakt ist: Einer der größten LSD-Konsumenten des anbrechenden Wassermannzeitalters stirbt, und drei Häuser weiter sitzt einer auf LSD am Küchentisch und macht komische Sachen. Das ist wie Nadel und Magnet, und was zur Hölle sollte die LSD-verliebte Seele des Musikers da anderes tun, als mal ruck, zuck durch ein paar Mauern zu zischen und bei mir einzufahren? Zusammen haben wir dann die Plastikbecher abgefackelt, zusammen haben wir das Universum auf die Streichholzschachtel gemalt, und weil der Expsychologieprofessor mir als Gegengabe für die Streichholzschachtel kurz vor dem Kamener Kreuz seine alte Wanderklampfe schenkte, spielten wir ab sofort auch zusammen Gitarre. Jimi und ich. Und das war durchaus ein Problem. Denn was bedeutet es, Jimi Hendrix’ Seele in sich zu tragen? Es bedeutet, man hat sein Feeling. Aber nicht seine Technik.

Hendrix machte in den nächsten Tagen und Wochen einiges durch. Seine Seele glaubte mit Fingern zu spielen, die mit Stacheldraht gefesselt waren. Armer Jimi, arme Gitarre, armes Publikum. Ich spielte, wann immer es eine Gelegenheit dazu gab, und es gab deren viele auf dem Weg nach Indien. Ich spielte auf Autobahnauffahrten, ich spielte in Parks, ich spielte an den Nachtfeuern der Hippies. Ich spielte, aber ich übte nicht. Das hatte ich nicht nötig. Ich machte einfach jedes Mal da weiter, wo Hendrix aufgehört hatte. Vollgas durchs Universum, volle Pulle Intensität, volles Haus. Egal, ob ich vor zwei Leuten spielte oder auch nur vor einem oder maximal vor zehn, irgendetwas in mir glaubte dabei ständig, auf der Woodstockbühne zu stehen. Und es fühlte sich auch genau so an....

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