Die Vierziger – Schaubild einer Generation
Die »Vierziger« werden gemeinhin als Produkt jener Wochen und Monate beschrieben, in denen kurzfristig eine Revolution auf der Tagesordnung der Republik zu stehen schien. In den verwirrenden und unerhörten Ereignissen dieser Zeit, als rote Fahnen das Straßenbild westdeutscher Universitätsstädte beherrschten und Maos rote Bibel als Leitfaden für eine gelungene Zukunft herhielt, soll die Identität dieser Generation entstanden sein, welche die Vierziger seither mit einem unsichtbaren, nur ihr zugänglichen Band in Stil und Bewusstsein verbindet. Das gemeinsame Erlebnis, das jeder Identität zugrunde liegt, war demnach der heroische und selbstlose Kampf gegen das versteinerte Bewusstsein unserer Eltern und deren hoffnungslos veraltete Vorschriften und Moralvorstellungen.
Das Aufbegehren war auch deswegen besonders bunt und bewegt, weil es den Geist der Fünfzigerjahre überwinden musste, der die Jugend unter der Obhut von Konformismus, Reaktion und geistiger Unfreiheit groß werden ließ. Diese Zeit erscheint als »bleierne, auf der Stelle tretende Zeit, als eine autoritäre Ödnis, von Altnazis und dummdreister Gestrigkeit verstellt – als Vorzeit, als verlorene Zeit«.
Unaufhörlich warnten kritische Beobachter vor dem Rückfall der bundesrepublikanischen Gesellschaft in den Faschismus und die Barbarei, der, dem alarmierten Tonfall zufolge, unmittelbar bevorzustehen schien. Es war die Zeit der Dunkelmänner im Hintergrund, die inzwischen alle längst vergessen sind. Diese Streitmacht des Beharrens konnte nur durch grelle, unbotmäßige Maßnahmen überwunden werden, weswegen manche Aktionen im Rückblick grotesk überzeichnet wirken müssen.
Tatsächlich aber haben die gemeinsamen Erfahrungen, die aus den Vierzigern eine Generation gemacht haben, sehr viel früher stattgefunden. Identitäten entstehen über lange Zeit in der zweiten Lebensdekade. Der zornige Sommer der Unduldsamkeit war zu kurz und kam zu spät, um das Gemeinschaftsgefühl, das damals spontan und intensiv entstanden war, verlässlich in die Zukunft zu verlängern. Der unselige Hang der Vierziger zu den verstaubten Resten des Marxismus tat sein Übriges und trieb sie in Form zahlreicher politischer Fraktionen bald wieder auseinander.
Ihr kurzer Flirt mit der Revolte hatte vor allem einen intensiven Modernisierungsschub zur Folge, auf den die Republik damals dringend angewiesen war, wollte sie weiter erfolgreich im Konzert der bedeutenden Industriemächte mitspielen. Die Vierziger waren somit Teil des Ganzen und würden es auch weiterhin sein. Die antiautoritäre Episode blieb den meisten von ihnen als ein aufregendes, einmaliges Ferienlager in Erinnerung, in dem sie zuhauf Geschichten und Anekdoten für zukünftige Feierabende erleben durften.
Die Vierziger wurden zur Generation in den Tiefen der Fünfzigerjahre.
Wenn man durch Fotoalben aus jenen Zeiten blättert, dann sind die der Fünfzigerjahre mit wenigen Ausnahmen schwarz, weiß und grau, die im folgenden Jahrzehnt dagegen meist bunt und fröhlich. Das mag zum schlechten Ruf der Fünfzigerjahre als dem grauen Sack unter den Dekaden beigetragen haben. In Wirklichkeit waren sie in kultureller, sozialer und wissenschaftlicher Hinsicht das fruchtbarste und folgenreichste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts. Die meisten unserer heutigen Probleme, aber auch Annehmlichkeiten, haben ihren Ursprung in jener Dekade. Die damaligen Entwicklungen und Erfindungen veränderten nachhaltig und tiefgreifend zuerst die westliche Zivilisation und danach den Rest der Welt.
Das darauffolgende Jahrzehnt hat die Vorgaben dankbar in Dienst genommen und bis auf grelle Accessoires wenig Eigenes hinzugefügt, wenn man einmal von der Wiederentdeckung des Marxismus und seiner Epigonen absieht.
Die Urheber der revolutionären Entwicklungen kamen aus der Generation unserer Eltern, die, aus dem Krieg heimgekehrt, den Aufbau einer Welt in Angriff nahmen, die sich wesentlich von der vergangenen unterscheiden würde. Manches entstand abseits im Verborgenen, blieb vorläufig unbemerkt und kam erst mit Verzögerung zur Wirkung. Anderes wiederum detonierte mitten in der Gesellschaft, und nachdem sich der Rauch verzogen hatte, war nichts mehr, wie es einst gewesen war.
So recht war damals keinem der Beteiligten bewusst, dass sie dabei waren, die Welt von Grund auf zu erneuern, und welche Konsequenzen ihr Erfindergeist in ferner Zukunft haben sollte. »Es war getan fast eh gedacht!«
Zu den wichtigsten Entscheidungen und den Grundlagen der zukünftigen Stabilität der jungen deutschen Republik gehörten die Sozialpartnerschaft zwischen Arbeitnehmern und -gebern, das duale System der Berufsausbildung und die soziale Marktwirtschaft. Mit diesen Weichenstellungen gelang es damals, die »kapitalistische Wirtschaft mit einem demokratischen System« zu verbinden. Anderthalb Jahrzehnte später jedoch zog die Studentenbewegung bereits alles wieder in Zweifel: »Kapitalismus führt zum Faschismus, Kapitalismus muss weg!«, hallte es durch die Straßen deutscher Städte, die mittels der Dynamik einer sozialen Marktwirtschaft gerade wieder aufgebaut worden waren.
Zu den internationalen Randbedingungen der westlichen Zukunft gehört das Abkommen von Bretton Woods mit seinen Institutionen, dem Internationalen Währungsfonds und der Weltbank, mit deren Krediten auch der Wiederaufbau der jungen Bundesrepublik finanziert wurde. Das waren Antworten auf die Erfahrungen der zurückliegenden Kriege und Wirtschaftskrisen, geplant und durchgesetzt von Männern und Frauen, denen Geschichte die Quelle von Einsichten, Gegenwart schweres Tagwerk und Zukunft heilige Verpflichtung waren.
Die Vierziger wuchsen als Wirtschaftswunderkinder in einer Atmosphäre grenzenloser Zuversicht auf. Es ging ständig aufwärts, und das Gespenst wiederkehrender Wirtschaftskrisen schien ein für alle Mal gebannt. Die Besitzer alter Fahrräder leisteten sich bald Motorräder und später das erste Auto. Die Urlaubsreisen tasteten sich unaufhaltsam gen Süden vor. Aus Autobahnteilstücken wurden lückenlose Nord-Süd- und West-Ost-Transversalen, auf denen man sich ohne Geschwindigkeitsbeschränkung fortbewegen durfte – unsere Form der grenzenlosen Freiheit, die wir seither stolz gegen den Rest der Welt verteidigen.
In die Küchen kamen Eisschränke, Geschirrspüler und elektrisches Gerät, die den Hausfrauen Zeit ließen, sich um ihr Äußeres zu kümmern. Diese Frauen waren »schlanker, gepflegter und aufgeschlossener als ihre Mütter«, fand eine soziologische Untersuchung damals heraus und fügte versteckt in einer Fußnote hinzu, sie »riechen zudem besser«. Muße verleitet zum Nachdenken, was die Frauen auch taten. Ihre Überlegungen führten schließlich zur Frauenbewegung, die unser soziales Gefüge folgenreicher verändern sollte als die meisten Parteiprogramme.
Die Theater öffneten wieder ihre Pforten, prächtige Kinopaläste entstanden, und klein, grau und unschön hielt das Fernsehen seinen Einzug in die deutschen Wohnstuben. Von jenseits der Alpen kamen bald fremdländisch aussehende Gastarbeiter, bereit zu niederen Diensten, zu denen sich der Einheimische bereits zu schade geworden war.
Politiker und Ökonomen hatten offensichtlich einen Weg gefunden, um anhaltendes Wachstum und »Wohlstand für alle« zu bewirken. Wohin das Auge der Heranwachsenden auch schaute, herrschten Aufbruch und Optimismus. Nur die Lebenslust hatte anfänglich Schwierigkeiten, mit dem allgemeinen Tatendrang Schritt zu halten, denn tief im kollektiven Gedächtnis der Nation hielten sich die Erinnerungen an die Untaten des Dritten Reiches.
Die Mehrzahl der Deutschen wäre gern über das Dritte Reich und seine Verbrechen hinweggegangen wie über ein unartiges Geräusch beim Abendbrottisch. Das ging natürlich nicht, also ersetzte man das Schweigen bald durch aberwitzige Diskussionen. Man dachte damals allen Ernstes über eine »Vergangenheitsbewältigung« nach oder verkündete die »Stunde null«, zu der man, befreit vom Dritten Reich, einfach von vorn beginnen wollte, während sich die Politik durch Geldtransfers um »Wiedergutmachung« bemühte.
Diese gespenstischen Auseinandersetzungen waren Balsam für viele deutsche Seelen, die überzeugt waren, Opfer einer verbrecherischen Clique gewesen zu sein, welche sich unter nicht näher geklärten Umständen in Besitz des Heimatlands gebracht hatte. Nachdem sie vertrieben war, kam das eigentliche Volk wieder zum Vorschein: kultivierte, friedfertige, hart arbeitende Menschen.
Zwei Jahrzehnte lang funktionierte die Vergangenheitsverdrängung, bis der Frankfurter Auschwitzprozess sie unerbittlich außer Kraft setzte. Gleichzeitig begannen die Vierziger, Fragen zu stellen und den natürlichen Bruch zwischen den Generationen um ein großes Stück zu vertiefen.
Von den Eltern aus gesehen war der Wiederaufbau eine beispiellose Leistung. Die Menschen hatten Arbeit, ein Dach über dem Kopf und genügend zu essen. Die Schulen waren geheizt, die Freibäder erschwinglich und die Verwaltung effizient. Mehr konnte man nach der großen Katastrophe nicht erwarten. Der Nachwuchs nahm den Wiederaufbau jedoch gleichmütig zur Kenntnis. Schließlich hatten die Eltern das Land ruiniert, deswegen waren sie in der Pflicht, die Schäden zu beheben.
Das Leben jeder vernünftig heranwachsenden Generation kreist um drei große Themen: Identität, Sexualität und Rebellion gegen die Eltern. Hinzu kommt ein Medium, um sich auszudrücken und darzustellen.
Zu alldem gab es hierzulande vorläufig wenig Anschauungsunterricht für eine Jugend, die noch mit vierzehn brav und bundesweit in kurzen Lederhosen und hirschhornverzierten...