II.
Heil sein und die Heilserwartung in der Beziehung
Warum keine Beziehung uns heiler machen kann als wir sind. Wie wir dennoch das Heil in der Beziehung finden.
Tief im Innern ist jeder Mensch heil, ganz gleich, wie zerrissen, krank, unvollständig und unglücklich er sich in den Wirren und Schwierigkeiten seines Lebens fühlen mag.
Heil und heilig ist sein innerstes Wesen, seine ureigenste Natur. Heil und ganz und gar vollständig.
Unheil fühlt der Mensch sich immer dann, wenn er sich mit weniger als der Ganzheit seines Wesens identifiziert.
Somit wird der Mensch sich immer – sein Leben lang un-heil und nie ganz vollständig und wohl fühlen. Denn inkarniert und mit einer körpergebundenen Persönlichkeit identifiziert zu sein, bedeutet zwangsläufig Un-heil-Sein. Das Bewusstsein von Heil-Sein stellt sich nur in Momenten ein, in denen der Mensch nicht mit irgend etwas identifiziert ist, das geringer als sein wahres Wesen ist (in dem er sich als heil, ganz und vollständig erfährt).
Dieses ursprüngliche und eigentliche Heil-Sein erlebt der Mensch als Augenblick des Erwachens. Für einen Moment erwacht die Seele – das innerste Bewusstsein – aus dem Traum des Identifiziert-Seins mit diesem oder jenem und besinnt sich auf sich selber. Es ist ähnlich, wie wenn du beim Anschauen eines spannenden Films für einen Augenblick in deine eigene Realität zurückkommst.
Nun, diese Momente des Erwachens streben alle Menschen an, die spirituelle Wege gehen, und sie suchen sie zu wiederholen und zu verlängern. Aber das ist nicht unser Thema.
In seinem üblichen Bewusstseins-Zustand ist der Mensch in der Illusion gefangen, er sei ausschließlich dies, und jenes sei er nicht; er hält sich somit für etwas Geringeres als das ganze, vollständige, heile Wesen, das er im Innersten ist. Unfähig, zu erkennen, dass er der Same ist, der die vollständige Pflanze in all ihren Stadien enthält, nimmt er sich selber als Stamm oder Blatt wahr, als Blüte oder Frucht, und identifiziert sich damit.
In der Beziehung zu einem Anderen sucht er das ursprüngliche Heil-Sein, das er in sich trägt, das er jedoch vergessen hat, und nach dem er sich zurücksehnt. In der Beziehung will er sich aufgehoben, sicher, unterstützt und bestätigt fühlen, je nachdem, was ihm selber zu fehlen scheint, um sich ganz und heil zu fühlen.
Gemeinsam sollen die beiden, Mann und Frau, ein heiles und heiliges Ganzes bilden, entweder als Selbstzweck oder um Kindern ein heiles und sicheres Nest zu bieten. Für manche Menschen gehört zur Vorstellung von der heilen Welt der Beziehung sogar die Anwesenheit von Kindern dazu.
Das ist die Heilserwartung in der und an die Beziehung.
Nun: Tatsächlich kann sich ein Mensch dadurch, dass er mit einer Person in Beziehung tritt, die andersartig ist, als vollständiger erleben. Der Andere besitzt etwas, das ihm selber fehlt, und indem er seine Identifikation vom Ich auf das Wir des Paares ausdehnt, gehört dieses fehlende Stückchen nun sozusagen auch ihm.
Nur in den seltensten Fällen kann ein einziger Partner all das liefern, was einem Menschen zu seiner Ergänzung fehlt, sodass auch diese neue Identifikation als »wir« notgedrungen noch Elemente von Un-heil-Sein, Unvollständigkeit in sich trägt. Vielleicht sucht der Mann sich aus diesem Grund als Ergänzung zur Ehefrau eine Geliebte, oder die Frau einen Liebhaber, um das Fehlende auch noch einzugliedern.
Trennt sich der Mensch von seinem Partner, so verschwinden die Elemente, die dieser ihm geliefert hatte, wieder aus seinem Leben und seiner Identifikation, es sei denn, er hätte sie sich inzwischen zu Eigen gemacht. Wenn dies nicht der Fall ist, wird er sich wahrscheinlich einen neuen Partner suchen, der die gleichen Eigenschaften aufweist wie der, von dem er sich getrennt hat.
Niemals aber wird er, so viele Partner er auch in seinem Leben hat, auf diese Weise zu jenem Heil-Sein finden, das er sich von einer Beziehung verspricht. Auch die schönste, die harmonischste Beziehung kann ihm nicht das schenken, was er sucht: seine Ganzheit. Es sei denn, er nutzt jede Beziehung und jedes besondere Ereignis innerhalb der Beziehung, um das Fremde, das ihm im Partner begegnet, zu einem Eigenen zu machen, indem er es in sich selber entdeckt.
So weit die Betrachtung des Themas aus der Perspektive der Persönlichkeit. Nun schauen wir es vom anderen Ende aus an, vom inneren Kern der Realität her, der Seele (statt, wie bisher, von der Peripherie: dem persönlichen Ich).
Die Seele, immer vollständig, immer sie selbst, immer heil, ganz und erhaben, ewig und unzerstörbar, unteilbar, unreduzierbar: die Seele kleidet sich bald in dieses, bald in jenes Gewand, um neue Arten des Seins zu entdecken, zu erleben und zu feiern.
Sie inszeniert sozusagen sich selbst in diesem oder jenem Kostüm und Szenenbild. Sie teilt und feiert diese Inszenierung mit anderen Seelen, anderen Wesen, die die Bühne ihrer Inszenierung in diesen oder jenen Gewändern betreten, während sie zugleich in deren Inszenierung eine Rolle spielt.
Nun: Solange die Seele sich ihrer selbst bewusst ist, erlebt sie sich als heil und vollständig, in welchem Kostüm und welcher Inszenierung auch immer. Dort jedoch, wo sie das Bewusstsein ihrer selbst verliert und sich mit einer Rolle identifiziert, die sie auf der Raum-Zeit-Bühne der Ewigkeit spielt, erlebt sie sich als etwas, das weniger ist als sie selber: als un-heil und unvollständig, und wird sich, mehr oder weniger bewusst, immer nach ihrer eigentlichen Natur zurücksehnen, dem Heil-Sein.
Jedes andere Wesen, jede andere Seele, mit der sie in Beziehung tritt, ist Bruder und Schwester, Wesen vom gleichen Wesen, Teil und Ausdruck derselben Realität, und so lange die Seele sich ihrer selbst bewusst bleibt, erlebt sie sich als heil und vollständig und empfindet die Begegnung mit jeder anderen Seele als Wiedererkennen ihrer selbst, als Kommunion mit einem anderen Teil ihres eigenen tieferen Wesens, und jede Begegnung und Berührung, die dabei stattfindet, erlebt sie als Bewegung innerhalb des Ozeans ihres eigenen inneren Seins, als Emotion. Begegnungen und Berührungen erheben sich wie Wellen in diesem Ozean. Sie machen die Seele weder vollständiger noch unvollständiger.
Verliert jedoch die Seele das Bewusstsein ihrer selbst und vergisst sich in einer Rolle ihrer eigenen Inszenierung, so erlebt sie andere Wesen als Realitäten außerhalb ihrer selbst und trachtet danach, sich mit ihnen zusammenzutun, um wieder zu ihrer Vollständigkeit zu finden. Mit dem Auftauchen eines neuen Darstellers auf ihrer Bühne fühlt sie sich vollständiger, mit seinem Verschwinden unvollständiger. Niemals aber wird sie das ersehnte Heil-Sein wiederfinden, solange sie weniger ist als sie selbst, mit anderen Worten, solange sie nicht aus der Identifikation mit ihrer momentanen Rolle in ihrer Inszenierung aufwacht.
Beziehung in diesem Sinne ist das Erkennen – Wiedererkennen – verschiedener Aspekte seiner selbst. Die Seele spielt mit sich selbst, entdeckt sich selbst und feiert sich selbst in der Zweiheit der Beziehung.
Nur dort liegt Heil-Sein: Im Erkennen – Wiedererkennen – dieser Einheit. In jedem Bewusstseins-Zustand außer dem der Einheit – der ursprünglichen Vollständigkeit und Ganzheit der Seele – gibt es den Zustand des Heil-Seins, den jeder Mensch sich insgeheim von einer Beziehung erhofft, nicht.
Ist jedoch die Begegnung mit dem geliebten Menschen vom Wissen um das eigentliche und innere Eins-Sein durchdrungen, dann gibt es nichts in dieser Beziehung, was nicht heil wäre.
Gemeint ist mit diesem Eins-Sein nicht die Zusammengehörigkeit verschiedener Teile, die gemeinsam ein Ganzes bilden wie zwei Hälften einer Kugel; gemeint ist das Eins-Sein eines jeden mit der Ganzheit.
Warst du jemals unheil? Jeder Augenblick, in dem du glaubtest, weniger als heil und vollständig zu sein, war ein Augenblick, in dem du einer Illusion zum Opfer fielst, in dem du hypnotisiert warst von einer Idee, einem Traum, einer Vorstellung. Niemals, in keinem Augenblick deines Lebens, bist du weniger als heil und vollständig. Jede deiner Beziehungen ist eine heilige Begegnung mit dir selbst – mit einem Aspekt deiner selbst, der dir im tiefsten Innern, in seinem Wesen, vertraut, aber in seiner Manifestation neu und überraschend ist – ähnlich wie einem Komponisten eine Melodie in ihrer Essenz vertraut ist, da sie doch Teil und Ausdruck seines eigenen Wesens ist, und doch als hörbare Melodie neu und überraschend. Welches Entzücken löst jede neue Melodie in ihm aus, jede neue Stimme, die aus der Tiefe seines innersten Wesens hervorströmt und Gestalt annimmt!
Von der gleichen Art ist das Entzücken der Seele, wenn sie sich selbst in neuer Form und neuem Gewand begegnet. Hat sie die Bewusstheit ihrer selbst verloren und identifiziert sie sich mit weniger als mit sich selbst, so wird sie den einen Menschen mehr und den anderen weniger schätzen. Ist sie jedoch ihrer selbst bewusst, so feiert sie jede neue Begegnung, denn in jeder erkennt sie sich selbst in neuem Gewand.
Nun befinden sich die wenigsten Menschen im Zustand der Selbst-Bewusstheit; die meisten identifizieren sich mit weniger als mit sich selbst – mit einem Körper und einer Persönlichkeit im besten Falle; oft aber nur mit einer Rolle, die sie in einer bestimmten Szene oder Beziehung spielen und in der ihre Persönlichkeit nur in sehr geringem Teil zum Tragen kommt, geschweige denn das Potenzial ihrer Seele.
Je eingeschränkter die Identifikation, je kleiner der Teil ihrer selbst, mit dem sie sich identifizieren, desto größer das Gefühl von Un-heil-Sein. Wenn du dich mit einem bestimmten Wunsch identifizierst,...