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Die Schweiz, die ich uns wünsche

AutorMicheline Calmy-Rey
VerlagNagel & Kimche
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl240 Seiten
ISBN9783312006274
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Neun Jahre lang war Micheline Calmy-Rey Außenministerin der Schweiz. Wie kaum einer ihrer Vorgänger hat sie die Außenpolitik offensiv gestaltet, mit ihren Stellungnahmen überrascht und durch aktive Teilhabe die Verfechter der Neutralität provoziert. Doch selbst ihre Kritiker räumen ihr Mut und Entscheidungsstärke ein. Nun erzählt Calmy-Rey von ihren Erfahrungen und erläutert die Politik der Schweiz in Europa und in der Welt. Spannend verknüpft sie ihr politisches Credo mit der Erinnerung an die wichtigen Ereignisse ihrer Zeit im Bundesrat. Ein kluges und oft sehr persönliches Buch, das eine mitunter provokante Gegenwartsanalyse der Schweiz bietet.

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Leseprobe

1. Die Schweiz: Paradox eines Landes,
das sich der Welt öffnet und verschließt


Die Anfänge der Menschheitsgeschichte waren von Landstreitigkeiten, Kriegen, blutigen Überlebenskämpfen, mangelnder Menschenwürde, Diktatur, Despotismus, Sklaverei und Leibeigenschaft, Ungerechtigkeit und Rechtlosigkeit geprägt. Ökonomisch gesehen stützt sich der griechische Stadtstaat, den wir so bewundern und der so bedeutende Theoretiker des politischen Denkens wie Plato und Aristoteles hervorgebracht hat, auf die Sklaverei. Ein großer Teil seiner Bewohnerinnen und Bewohner war aller bürgerlichen und politischen Rechte beraubt. Sie gehörten nicht sich selbst, sondern waren das Eigentum anderer. Siebenunddreißig Jahrhunderte hat es gebraucht, bis die Menschheit die Sklaverei verurteilte.

Wir haben die Menschenrechte in der Gesetzgebung verankert. Wir arbeiten am weltweiten Frieden mit. Wir wollen Sicherheit für alle Menschen erreichen und orientieren uns am Prinzip der «responsibility to protect».1

Wir kommen manchmal dank eines Konzerts oder einer Radiosendung in den Genuss von Beethovens Neunter Sinfonie, deren wundervoller Schlusschoral an das friedliche Zusammenleben der Menschen appelliert. «Alle Menschen werden Brüder», hat Schiller geschrieben. Dabei müssen wir allerdings anerkennen, dass unsere Ideale und edlen Ziele uns nicht vor Rückschlägen bewahren.

In diesem postmodernen 21. Jahrhundert verändern wundersame technische Entdeckungen in atemberaubendem Tempo das Leben. Während es bis weit ins 19. Jahrhundert hinein manchmal eine ganze Tagesreise brauchte, um von einem Dorf ins nächste zu gelangen, bewegen wir uns heute in der Wirklichkeit des globalen Dorfes. In wenigen Sekunden können wir uns mit den entlegensten Weltregionen verbinden, und die Information aus einer europäischen Hauptstadt erreicht ein Reisbauerndörfchen im hintersten Asien beinahe augenblicklich. Die Lebensbedingungen haben sich in den letzten Jahrzehnten für viele Menschen verbessert; wir haben Krankheiten ausgerottet, an denen unsere Großeltern noch starben. Und wir sind die erste Generation, die sich in diesem Ausmaß um unsere Umwelt und das Überleben unseres Planeten kümmert und es zu einer der dringlichsten Aufgaben der weltweiten Politik gemacht hat. Und trotzdem lebt eine Frau in Mosambik nicht wie ich, isst nicht wie ich, arbeitet zwölf Stunden am Tag, über die Erde gebeugt, und erntet doch nur ganz wenig, leidet unter der Trockenheit und dem Ressourcenmangel.2

Es ist Mittag. Kein Lüftchen weht. Die Sonne ist wie aus Blei. Wir wandern in der drückenden Hitze zu einem Brunnen, der von der Schweizer Entwicklungszusammenarbeit finanziert wurde.3 Der Boden ist weich und sandig, das Gehen anstrengend. An einer Wegbiegung zwei weiße Plastikstühle unter einem Baum, ein Gemüsegarten, ein Viereck aus Backsteinen, eine Hütte und eine Frau. Ich frage sie, ob ich mich setzen darf, sie bringt mir Wasser. Ich frage sie nach dem Zweck der kleinen Mauer. Sie antwortet, dass sie ein gemauertes Häuschen bauen will, aber damit nicht vorankommt, weil sie sehr wenig verdient. Ich habe umgerechnet etwa zwanzig Dollar in meiner Handtasche und gebe sie ihr. Sie sagt: «Mit diesem Geld werde ich genug Backsteine und Zement kaufen können, um mein Haus fertig zu bauen.» Sie lacht und ruft ihre Freundinnen und Nachbarn zusammen. Und sie tanzen. Sie hat zwölf Stunden täglich gearbeitet und weniger als fünfzig Cent pro Stunde verdient. Und so tanzen und tanzen sie. Ich saß da, schaute ihnen zu und schämte mich.

Wir wissen heute, dass das Übel, dieses alte Gift der Menschheit, nicht ausgerottet worden ist. Immer noch gibt es Menschen, die verhungern, Kriege folgen auf Kriege, manche Gruppen hassen andere gnadenlos, die Ressourcen des Planeten werden geplündert, das Klima erwärmt sich, ohne dass wir uns darauf verständigen können, der Sache ein Ende zu machen.

Wem soll man die Schuld geben, wenn Millionen von Männern und Frauen nichts zu essen haben und Zehntausende von ihnen jeden Tag verhungern?4 Wenn selbst die elementarsten Bedürfnisse nicht befriedigt werden und das Unrecht herrscht? Wenn die natürlichen Ressourcen geplündert werden und das Klima sich ändert? Eine Frau in Burkina Faso kann wegen der Ausbreitung der Wüste keine Felder mehr bebauen.5 Ein Bauer aus dem Mekong-Delta verkauft seine Tochter an Menschenhändler und kauft mit dem Geld Saatgut, um jenes zu ersetzen, das von den Fluten mitgerissen wurde.6 Hat die Menschheit denn jeden Sinn für Werte verloren?

Die Welt verändert sich, und wir wissen, dass systematische Verletzungen der Menschenrechte und der desolate Zustand des Rechtsstaats häufig am Anfang der Konflikte stehen. Und wir wissen auch, dass die Fronten sich auf den Schlachtfeldern verwischen: Bewaffnete Regierungs- und Nichtregierungssoldaten mischen sich, Terroristen und kriminelle Banden übernehmen das Kommando, Soldaten und Zivilpersonen tauschen ihre Rolle, und die Waffenlager, wo altes neben modernstem Kriegsgerät liegt, schießen aus dem Boden. Der Krieg von heute wird mit Messern und leichten Waffen in den Elendsvierteln der Metropolen geführt, und man setzt dafür auch die neueste Technik und raffinierte Waffen ein. Der Krieg wird mit Linienflugzeugen geführt, die man in Wolkenkratzer hineinrasen lässt, oder mit Bomben in den Metrostationen und Bushaltestellen der großen Stadtzentren.

Hier reißen Warlords Unschuldige in den Tod, und Zivilpersonen sterben im Bombenhagel der hypermodern ausgerüsteten Armeen. Dort rekrutieren machtbesessene Herrscher Kindersoldaten, und marodierende Truppen vergewaltigen Frauen in den Kampfgebieten. Der Krieg wird aus der Ferne geführt, man macht seine Ziele auf dem Bildschirm aus und tötet per Tastendruck. Soldaten sterben jetzt keine mehr, dafür Frauen und Kinder, denn neu sind diese Kriege nicht nur ihrer Hauptakteure und der verwendeten Waffen wegen, sondern auch wegen der Zerstörung und Verheerung, die sie unter der Zivilbevölkerung anrichten.7

Die internationalen Beziehungen laufen nach anderen Gesetzen ab, als wir sie vor kaum zehn Jahren kannten. Die Globalisierung ist Realität geworden. Sie beeinflusst die Gewissheiten, an denen wir uns orientieren, und unsere Entscheidungen. Wir können nicht mehr ignorieren, was von außen kommt und uns manchmal unangenehm und gefährlich scheint. Alles betrifft und berührt uns direkt: Lehman Brothers zum Beispiel, eine Investment-Bank, die als Synonym für Qualität, Solidität und Vortrefflichkeit galt. Und dann kracht die Bank am 15. September 2008 zusammen, infolge einer Entwicklung, die noch wenige Wochen zuvor undenkbar schien. In den USA waren die Auswirkungen der Subprime-Krise verheerend, aber auch die übrige Welt wurde davon erfasst. Auch Europa und die Schweiz blieben nicht verschont, und wir spüren die Erschütterungen noch.

Die globalen Herausforderungen betreffen uns alle, ob reich oder arm. Wir leben heute in einer polyzentrischen Welt, wo die lokalen, nationalen, regionalen und globalen Prozesse miteinander verbunden sind. In einer vernetzten Welt haben die Entscheidungen eines Staates auch Auswirkungen auf die Bevölkerung anderer Länder und nicht nur auf die eigene.

Die Welt verändert sich. Die Welt wird globaler, und damit geht eine Verschiebung der politischen und ökonomischen Kräftefelder einher. Die Vorherrschaft des Westens ist zu Ende. Im Jahr 2050 werden die Europäer, gemäß einigen Schätzungen, nur noch sieben Prozent der Weltbevölkerung stellen.8 Heute sind China und Indien in den Kreis der Großmächte aufgestiegen und zu wahren Lokomotiven des weltweiten Wirtschaftswachstums geworden. Der Anteil der westlichen Länder an der Weltwirtschaft wird von heute 56 Prozent auf 25 Prozent im Jahr 2030 sinken, hält ein CIA-Bericht fest.9

Binnen einem Jahrhundert ist aus einer Welt, die vom europäischen Kontinent dominiert wurde, ein multipolares Universum geworden. Darunter verstehe ich eine Welt, in der die Entscheidungsinstanzen sich vervielfacht haben und dezentraler geworden sind. Eine Welt, in der globale Gouvernanz10 immer wichtiger wird. Eine Welt, wo selbst der mächtigste Staat auf Erden nicht alle Probleme ganz allein lösen kann.11

Diese Entwicklungen haben auch die Rolle des Staates beeinflusst. Hatte dieser die internationalen Beziehungen in den vergangenen Jahrhunderten weitgehend dominiert, so hat der heutige Staat kein Monopol mehr darauf. Aus politischer Sicht sind die internationalen Organisationen sehr sichtbar geworden, und auch andere Akteure sind stärker geworden. Wie sollte man die Aktivitäten der Zivilgesellschaft nicht erkennen? Sie verfügt über soziale Netze und eine stetig wachsende Macht, die selbst etablierte Regime erschüttern kann. Wie könnte man den Einfluss der Weltmultis auf globaler Ebene bestreiten? Wie sollte man das wachsende Verlangen nach mehr Demokratie verkennen? Wie könnte man nicht spüren, wie wichtig dem Staat funktionierende Finanzmärkte sind, zum Wohlstand von uns allen? Unser Finanzsystem ist aber nicht stabil. Der Börsenhandel war zeitweise extrem volatil und es gab starke Schwankungen. Was sich da in den letzten Jahren auf den Finanzmärkten abgespielt hat, kann nicht mehr als normal bezeichnet werden. Das World Economic Forum kommt in seiner Studie von 2013 über die weltweiten Risiken zum Schluss, dass eine allfällige größere Störung des Finanzsystems die für uns folgenreichste Bedrohung wäre.12

Der technologische Fortschritt, die Handelsbeziehungen, die Globalisierung und die sozialen Netzwerke haben die Weltbürgerinnen und -bürger einander näher gebracht wie...

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