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E-Book

Die Seelenwaage

Roman

AutorVarda Hasselmann
VerlagGoldmann
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl480 Seiten
ISBN9783641156848
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Burgl Eichner, eine 17-jährige Bauerntochter, pflegt vier Monate lang die Säuglinge auf Dr. Mengeles Zwillingsstation. Sie kennt nichts anderes als die Nazi-Doktrin. Böses hat sie nie getan - und doch war sie 'dabei'. Lebenslang gepeinigt von Angst und Scham, erhofft sich Burgl, einsam und in die Jahre gekommen, Erlösung durch eine Wallfahrt nach Santiago. Dort begegnet sie Vincent wieder, einem Freund aus Kindertagen. Er möchte ihr verhärtetes Herz öffnen ...

Kann ein Mensch schuldig und unschuldig zugleich sein? Ist Schweigen barmherziger als die Wahrheit? Varda Hasselmann stellt in ihrem zweiten Roman die Frage nach der spirituellen Dimension von Verantwortung und Vergebung.



Dr. Varda Hasselmann, geboren 1946, bereitete sich nach dem Studium der Literaturwissenschaft und Mittelalterkunde zunächst auf eine Universitätskarriere vor. Doch sie folgte ihrer Berufung und machte ihre mediale Begabung zum Beruf. Seit 1983 arbeitet sie als Trancemedium, gibt Seminare und hält Vorträge. Die medial empfangene Seelenlehre legte sie zusammen mit Frank Schmolke in den Büchern »Welten der Seele« und »Archetypen der Seele« dar.

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Leseprobe

Für mich kam nur ein bestimmtes Reisebüro infrage. Ich war aufgeregt; mein Asthma meldete sich. »Hoffentlich merkt man mir nichts an«, dachte ich immer wieder, »hoffentlich!« Um Zeit zu gewinnen, ließ ich meine Augen auf den Prospekten im Schaufenster ruhen. Ich betrachtete Werbeplakate mit Palmenstränden und rot markierte Sonderangebote. Überall fröhliche Leute, die alle ausschauten, als hätten sie gerade im Lotto gewonnen. Solche Mienen kann ich nicht leiden.

Abschätzige Gedanken gehen mir tagtäglich durch den Kopf, das sind alte Bekannte. Sie kommen jedes Mal, wenn jemand in meiner Nähe glücklich aussieht, auf der Straße, im Supermarkt, sogar im Fernsehen. Lacht mir ein junges, frisches Gesicht aus einer Zeitschrift entgegen oder tun die Leute auf dem Bildschirm gar zu lustig und unbekümmert, legt sich ein Stein auf mein Gemüt.

Ich sage dir, Vinzenz, es tut mir wohl, über mein Schicksal zu murren, ein Schicksal, das keiner kennt und niemand erfahren soll – außer dir jetzt! Aber du bist ja auch verschwiegen, oder? Du bist wahrscheinlich einer von denen, die sich zwingen, alles in christlicher Demut zu akzeptieren und Ja zu sagen zum Schicksal, zum Leid, zum Verlust. Aber ich, ich halte das für verlogenes Gewäsch. Viel ehrlicher finde ich es, meine schlechte Laune in vollem Ausmaß zu fühlen, wenn sie eben schlecht ist. Über die Gegebenheiten hinweglächeln, nur damit es einem ein Quäntchen besser geht, das ist eine Art Selbsthypnose, die Wahrheiten verfälscht. Und wieso sollte ich Ja sagen? Wozu denn? Komm mir bloß nicht mit so was! Sein Schicksal sucht sich doch niemand aus. Ich bin ein Kind meines Jahrgangs, und damit trage ich alles, alles, alles, was damit verknüpft ist, auf meinem Buckel.

Vor dem Reisebüro musste ich mir die Augen abtupfen und mich schnäuzen. Der Wind war eisig. In unserem Alter muss man auf sich achtgeben, gell, Vinzenz? Jede Aufregung schadet. Du wirkst noch recht rüstig, wie machst du das? Hast du schon schwere Krankheiten hinter dir? Mein schwaches Herz und die asthmatischen Lungen verkraften keine Grippe mehr. Leider stirbt man ja nicht gleich davon, wird nur kränker. Die Augen lassen auch sehr nach bei mir.

Frau Taurer, die Inhaberin, kannte ich vom Sehen, wie ich auch die meisten anderen Einwohner der Stadt irgendwie kenne, vom Hörensagen oder aus der Lokalpresse. Schließlich hab ich mein gesamtes Leben hier verbracht, bis auf die wenigen Monate damals im Osten. Das Haus »Zum Stern«, am Marktplatz beim Unteren Tor gelegen, war in unserer Jugend eine Gaststube. Dort holte ich manchmal den Vater ab, wenn er mit Parteifreunden sein Bier trank und ich vom Heimabend kam. Immer noch gibt’s dort schiefe Wände, die stehen aber inzwischen voller Regale. Vor dem Tresen mit einem Computer und vielen kleinen Werbetafeln blätterten zwei junge Leute in Katalogen, als ich eintrat. Eine Blondierte mit kurzem Rock und hohen Absätzen, die trotz des trüben Januarwetters ihre Sonnenbrille übers Haar geschoben hatte, saß auf dem Kundensessel. Solche Leute kennst du, und bestimmt magst du sie genauso wenig wie ich. Oder verzeihst du allen alles?

Frau Taurer hielt den Telefonhörer zwischen Kopf und Schulter geklemmt und besänftigte ihre ärgerlich dreinschauende Kundin mit einem Entschuldigungslächeln. Ich ließ mich in einen Korbsessel fallen und überlegte, ob ich die Mütze abnehmen sollte. Aber mein Haar darunter war zerdrückt und hatte eine Wäsche nötig. Besser einen gepflegten Eindruck machen, beschloss ich, das zahlt sich immer aus. Eine gute halbe Stunde lang beobachtete ich die anderen Kunden und versuchte, daraus noch in letzter Minute zu lernen, wie man sich im Reisebüro verhält. Dabei vergaß ich nicht, immer wieder mein Gedächtnis aufzufrischen, indem ich tonlos die Namen, Daten und Zahlen memorierte, für alle Fälle.

Das Pärchen verließ den Laden. Endlich marschierte auch die Aufgedonnerte aus dem Laden, mit hochhackigen Stiefeln, die bei jedem Schritt knallten. Dieses Geräusch jagte mir Schauer über den Rücken. Ich war an der Reihe. Mühselig stand ich auf und unterdrückte ein Ächzen. Es tut nämlich immer weh, wenn ich länger gesessen hab. Ich war ja nicht daheim, wo ich stöhnen kann, so oft mir danach ist. Ich bückte mich zu meiner Handtasche, noch einmal Schmerzen, und setzte mich auf die Kante des Kundensessels. Die Taurer, eine dralle Person in den Vierzigern, lächelte mir aufmunternd zu. Der Januar war wahrscheinlich ihre beste Saison. Die Reiselustigen geben sich die Klinke in die Hand, wenn es bei uns kalt und nass ist. Mit geübtem Blick versuchte sie Erfahrungen, Bedürfnisse und wirtschaftliche Gegebenheiten ihrer neuen Kundin einzuschätzen. Mit meinem ebenso geübten Widerstand gegen solche Verführungskünste konnte sie nicht rechnen. Ich wusste, die nimmt mich nicht für voll, und begann mein Spiel.

Mein linkes Auge zwinkerte, ich hab da leider so einen Tick, wenn ich angespannt bin. »Also, ich bin die Eichner-Walburga«, sagte ich und hörte vergnügt meine gepresste Stimme. Wie ich es gewohnt war, stellte ich mich absichtlich beschränkt dar und tat, als könne ich nicht bis drei zählen. »Ja, und ich komm heut her zu Ihnen, weil ich unbedingt nach Santiago muss. Also, nach San-ti-ago, das ist in Spanien. Da bin ich doch richtig bei Ihnen?« Ich rieb mir die vom Wind geröteten Augen und schnäuzte mich nochmals, bevor ich weitersprach. »Also, ich muss nach Santiago von Compostela. Also, müssen tu ich vielleicht nicht, aber ich will, also, ich möcht mal verreisen. Nach Compostela. Und zwar schon bald. Über Ostern.«

Sie wollte wissen, ob es eine Touristenreise sein sollte oder eine Wandertour mit Pilgerausweis. Ich hob entsetzt meine Hände. »Um Himmels willen! Also, pilgern möcht ich schon, pilgern ja, aber doch nicht zu Fuß. Ich bitt Sie, in meinem Alter! Eine Wallfahrt soll es trotzdem sein. Also, für den Ablass, hab ich gehört, da macht’s ja keinen Unterschied, wie man dort ankommt. Doch eine Bedingung hätt ich schon: Mit einer ganz bestimmten Gruppe zusammen will ich fahren. Also, die haben bei Ihnen reserviert. Also, da sind Bekannte von mir dabei, das ist das Wichtigste. Also, allein schaff ich das nicht mehr.«

Ablass ist der Nachlass zeitlicher Strafe vor Gott für Sünden, deren Schuld schon getilgt ist; ihn erlangt der entsprechend disponierte Gläubige unter bestimmten festgelegten Voraussetzungen durch die Hilfe der Kirche, die im Dienst an der Erlösung den Schatz der Sühneleistungen Christi und der Heiligen autoritativ verwaltet und zuwendet.

Codex Iuris Canonici, 1983

»Na, dann erzählen Sie mal, was Ihre Bekannten gebucht haben.«

»Ach bittschön, liebe Frau«, säuselte ich, »das müssten Sie mir sagen. Nämlich, das hab ich jetzt leider nicht mehr im Kopf, bin nämlich ganz durcheinander, mein Gott, das Alter. Ich weiß nur, dass die zwei hier bei Ihnen waren, um die Anzahlung zu leisten.«

Mir wurde heiß. Ich musste alles riskieren, und nur zur Not würde ich ihr sagen, was auf meinem Zettel stand. Ich lockerte mein wollenes Halstuch, während ich auf diese unverfrorene Weise darauf bestand, einer anderen Person überflüssige Arbeit zu machen. Aber es musste sein, meine einzige Chance.

An diesem Vormittag wagte ich den Sprung ins kalte Wasser und schwamm um mein Leben. Ich holte tief Luft um zu gestehen: »Meine Bekannten, das sind nämlich die Zwillinge, Sie wissen schon, die beiden Fräuleins Stadlmayer, Alma und Cora Stadlmayer.«

»Ach Gott, die Zwillinge, ja natürlich! Die haben beim Bayerischen Pilgerbüro gebucht. Ich glaube, das war eine Busreise. Ich habe es nur vermittelt.«

Ich stellte meine Handtasche wieder auf den Boden. Mein Zeigefinger fuhr zum rechten Augenlid und hielt es hinter der Brille sekundenlang fest, während Frau Taurer auf den Monitor schaute und flink die Tastatur des Computers bediente. Das leidige Nervenzucken quälte mich. Aber der Gedanke an meine zwei Lieblinge war tröstend.

Jeder Einheimische kennt die Zwillinge, aber ich, ich kenne sie besser als alle anderen Menschen auf der Welt. Sie gehören zum Stadtbild wie die Giebelhäuser oder die Barockkirche. Selten läuft eine von ihnen allein durch die Straßen auf dem Weg nach Hause, wo die Schwester wartet. Sie haben ja auch denselben Weg zur Arbeit, machen gemeinsam ihre Einkäufe und ertragen unverdrossen, dass man ihnen gerührt lächelnd oder spöttisch nachschaut, wie sie Hand in Hand den langgestreckten Marktplatz entlangschlendern oder die Geschäfte betreten.

»Oh, da haben wir sie ja schon«, bemerkte Frau Taurer in einem Ton, als spräche sie zu einem Kleinkind. »Man muss eben nur wissen, wie, stimmt’s? Außerdem, unter uns gesagt, die zwei vergisst man nicht so schnell. Die sind wirklich lustig anzuschauen, wie sie so absolut gleich daherkommen. Und immer Hand in Hand. Also, die Damen Stadlmayer reisen am Montag den 17. April. Anzahlung war am 12. November. Aber –« Sie hielt inne und machte ihr übertrieben bestürztes Gesicht, eine Miene, die sie wahrscheinlich für begriffsstutzige Senioren reservierte. »Da können Sie leider, leider nicht mehr mitfahren, Frau Eichner, der Bus ist längst voll. Tut mir schrecklich leid.«

Ich bemerkte, wie das Blut mir aus dem Gesicht wich und das Herz einen Moment aussetzte. Meine Hand fuhr vor den halboffenen Mund, und ich erstarrte. Damit hatte ich nun wirklich nicht gerechnet! Mir entwich ein Ächzen. Diesmal war es echt, das kannst du mir glauben. Noch fast drei Monate bis zum Abreisetermin! So früh schon alle Plätze vergeben? Heilige Walburga! Was sollte aus meinem Plan werden? Du musst wissen, Vinzenz, dass ich mir alles ganz...

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