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Die sexuelle Krise

Vollständige Ausgabe

AutorGrete Meisel-Heß
VerlagJazzybee Verlag
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl362 Seiten
ISBN9783849631512
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis0,99 EUR
Eine im Jahr 1909 erschienene sozialpsychologische Untersuchung mit dem Titel 'Die sexuelle Krise'. Hierin vertiefte die Autorin ihren theoretischen Ansatz, indem sie als notwendige Voraussetzung für die sexuelle Befreiung der Frau eine Veränderung der Wirtschafts- und Sozialform forderte.

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Leseprobe

II. Kapitel


 


Die Ehe und die Formen und Folgen ihrer Umgehung innerhalb der gegenwärtigen Sexualordnung

 

  »Es ist besser zu heiraten, als zu brennen.«

 

 (Apostel Paulus)

 

 

1. Das legitime Moment der Ehe / Analyse des Begriffkomplexes »Ehe« / Die inneren Gefahren des illegitimen erotischen Verhältnisses /»Liebesverdrossenheit«.

 

Unter dem legitimen Moment der Ehe verstehen wir die unlösbare oder schwerlösbare Verkettung eines Paares durch Gesetze, Sitte und wirtschaftliche Gemeinschaft. Das Prinzip, welches der legitimen Ehe zugrunde liegt, wonach erst das Nest komplett eingerichtet sein muß zur Aufziehung der Jungen und der Vater zur Stelle ist zu ihrer lebenslänglichen Beschützung, andernfalls an Fortpflanzung nicht geschritten, also nicht geheiratet werden soll, dieses Prinzip, welches der legitimen Ehe zugrunde liegt und die Ursache ist aller Schwierigkeiten ihres Zustandekommens, wäre ein ausgezeichnetes, wenn nicht, wie die Erfahrung zeigt, oft, ja meist, wertvolle biologische Elemente dadurch von der Fortpflanzung ausgeschlossen wären. Die Zuchtwahl, wie sie heute spielt, bringt vorwiegend die wirtschaftlich Tüchtigen, welche mit den biologisch und geistig Edlen durchaus nicht identisch sein müssen, einerseits, und den gegen seinen Willen sich übermäßig vermehrenden Proletarier andererseits zur Fortpflanzung. Wir brauchen nur um uns zu sehen, um den Wert dieser »Auslese«, wie sie sich durch die heutige Eheform ergibt, veranschaulicht zu finden. Kaum ein Individuum unter hundert, das der Idee »Mensch« entspräche, das nicht irgendeinen dunklen unberechenbaren Punkt in sich trüge, aus dem alle antisoziale Wucherung krebsartig herauswüchse und das Gemeinschaftsprinzip erschweren würde. Wenn wir in einer Tramway, in einer Versammlung, in einem Konzertsaal oder auf der Straße sind und die Anwesenden ansehen, so faßt uns Verzweiflung über diese Fülle von Häßlichkeit und Stumpfheit, die aus diesen Erscheinungen spricht. Am deutlichsten tritt das in einer Tramway oder in einer Bahn vor Augen, wo man nicht selten staunt, daß unter den zwanzig Personen, die man sich auf ihre Beschaffenheit ansieht, keine ist, die nicht die Merkmale beeinträchtigter oder verbildeter Entwicklung an sich trüge, / keine, die nicht antipathisch wirken müßte durch ihre bloße Existenz. Die tiefste und fruchtbarste Freude aber kann dem Menschen nur wieder durch den Menschen kommen. Diese Möglichkeit wird / bis auf ein Minimum, das ein gnädiger Zufall übrig läßt / durch fortgesetzte Übervermehrung der Minderen, durch fortgesetzte schlechte Zeugung, durch fortgesetzte Verringerung der Möglichkeiten freier Auslese in beschleunigtem Tempo reduziert.

 

Das Gehege, das die Institution der legitimen Ehe darstellt, bietet seinem Prinzipe nach so viel des Verlockenden, enthält so zahlreiche günstige Momente, daß wir die Abhängigkeit dieses Prinzips von hunderterlei wirtschaftlich-sozialen Faktoren, die seine Erfüllung erschweren, beklagen müssen. Neben der Beschützung der Jungen und teilweise auch der Frau, die durch die dauernde Verbindung des Mannes mit ihr und den Kindern wenn nicht gewährleistet, so doch angebahnt ist und die einzige Form von Mutter- und Kinderschutz bildet, die die Gesellschaft bis heute kennt, / neben diesem Schutz, den lediglich die legitime Ehe heute für Mutter und Kinder bietet und der sie daher unentbehrlich macht, solange nicht eine höhere, festere, verläßlichere Schutzinstanz zur Beschirmung der Generation gefunden ist, / bietet die Ehe innerhalb der heutigen sozialen Konstellation auch die verläßlichste Form zur Herstellung eines Zustandes, der dem Individuum selbst zugute kommt, weil er die Voraussetzung gesunder Entwicklung bedeutet. Dieser Zustand, der heute unter allen Formen des Geschlechtslebens am stärksten durch die Ehe garantiert ist, ist der der »sexualen Versorgung«. Der Ausdruck stammt von Professor Freud. Christian von Ehrenfels, Professor der Philosophie in Prag, auf dessen Vorschläge einer Sexualreform wir später ausführlich eingehen werden, definiert diesen Zustand als »die Zusicherung eines regelmäßigen mühelosen ...... allen Kraftaufwandes des Suchens und Wechselns enthobenen Sinnengenusses, ausgehend von einer sympathischen und befreundeten Persönlichkeit«. Und er schüttet das volle Maß seiner Verachtung über die Anhänger dieses Zustandes aus. Dieser Zustand hat den nicht zu unterschätzenden Vorteil, daß er die Kräfte des Individuums für dessen soziale Leistungen spart, ohne es der Entbehrung genereller Notwendigkeiten auszusetzen. Muß das Individuum / Mann oder Weib / den notwendigen »Sinnengenuß« oder besser gesagt die Auslösung geschlechtlicher Spannung jedesmal neu »erobern« oder gar suchen / so verbraucht es ein starkes Maß seiner Energien auf diese Leistung / die seinem sozialen Werk entzogen werden. Entsagt es dieser Auslösung ganz, so sündigt es gegen die Gesetze seines Stoffes, und die unausgelösten Spannungen erdrücken seine Schaffenskraft.

 

Außerhalb der Ehe gelangen die Menschen / heute /nur schwer zu normalem geschlechtlichen Leben, nur unter sozialer, hygienischer und psychischer Gefährdung und unter oft peinlichen Begleitumständen; außerdem trägt dieser Verkehr das Merkzeichen des Episodischen, Unregelmäßigen an sich und ist von tausend Stimmungen und Milieuschwierigkeiten bedroht. Das geregelteste und relativ gefahrloseste sexuelle Leben bietet heute noch die Ehe. / Der europäische Mann lebt, außerhalb der Ehe / zwischen zeitweiligen Exzessen einerseits und im Zustand der erotischen Unlust andererseits. »Liebesverdrossenheit« hat Oskar H. Schmitz diesen Zustand genannt. An die Arbeitskraft des Mannes der Kulturwelt werden hohe Ansprüche gestellt, er hat Sorgen, Probleme, Aufgaben und Befürchtungen aller Art, dazu Zeitmangel. Außerhalb der Ehe, die seinem Verkehr mit dem Weibe ein günstiges Milieu bietet, hat er kaum zu irgendeiner anderen Form des sexuellen Lebens Zeit, Muße und Hinneigung als zu der des ungeregeltesten »Besuches«. Für die ärgste Bedrängnis der Sinne hat er den Notausgang der Prostitution. Schon das »Verhältnis« mit dem kleinen, mit seinem Gemüte beteiligten Bürgermädchen wird ihm bald unbequem und die ebenbürtige Geliebte / das Weib, das sich ihm in freier Selbstbehauptung hingibt / fürchtet der moderne Mann geradezu als eine Gefahr. So sonderbar diese Behauptung klingt / so wahr ist sie. Viel eher bringt er es noch mit der »Maitresse« zu einem Dauerverhältnis als mit der Geliebten. Denn die Tatsache, daß er materielle Opfer bringen muß, daß er in eine bestimmte Frau Kapital »investiert« hat, macht sie ihm wertvoll und läßt dem modernen Mann / suggestibel wie er in hohem Grade ist / diese Beziehung als etwas, das man sich zu erhalten suchen muß, erscheinen.

 

Wenn wir aber auch von dem gemeinen Mannestyp absehen und den höheren ins Auge fassen, so beobachten wir an ihm das Phänomen, daß er die Liebe, d.h. die Sexualbeziehung zum Weibe, die vorwiegend auf tiefe erotische Erlebnisse und dabei nicht auf soziale Gemeinschaft, soziale gegenseitige Förderung, wie sie heute nur die Legitimität bietet / gestellt ist, als eine Gefahr fürchtet, der er entflieht, sobald er sich dazu stark genug fühlt / auch wenn er mit aller Leidenschaftlichkeit dieses Erlebnis suchte. Völlige Enthaltung vom Weibe wäre aber unsozial und unhygienisch, auch bedarf er der Nachkommenschaft und des häuslichen Milieus. Infolgedessen wünscht er die Ehe / eine Gemeinschaft, die ihn erotisch nicht absorbiert, ihm aber den notwendigen Lebenskontakt mit dem Weibe bietet. Aus diesem Punkt ist vielleicht zu verstehen, warum der Mann die »Geliebte«, wenn auch echtes Gefühl ihn mit ihr verband, nach kurzer Zeit meist verläßt. Warum die Geliebte der Gattin gegenüber fast immer auf einem verlorenen Posten steht. Warum der Mann / mehr noch als die Frau / das Heim und die soziale Gemeinschaft mit dem Weibe braucht, um seine Spannkraft nicht gefährdet zu glauben. Darum diese den Männern fast unbewußte Angst vor dem Liebesverhältnis, das sie selbst suchten und knüpften. Darum vielleicht die brutale Abwehr, die Verstoßung der Geliebten. Ein Liebesverhältnis muß heute entweder in Ehe übergehen oder / untergehen. Denn der ganze, der starke Mann, der, der die Liebe ohne Gefahr in seinen Lebenskomplex mit aufnehmen und festhalten kann, ist nicht von heute.

 

Die Unwilligkeit und Unfähigkeit des heutigen Mannes zur Liebe ist die Tragödie der heutigen Frau, gegen die es nur ein Mittel gibt: ebenfalls in der sozialen Tat (und in der Mutterschaft) Ziele zu finden und die Lebensspannkraft nicht nur von dem Erlebnis mit dem Mann zu nähren.

 

In früheren Zeiten, besonders in denen des Rittertums, war die Gunst der Frau der Mühe Preis. Die Devise »ich dien« des Ritters galt / nächst Gott / dem Weibe. Dem heutigen überhetzten Geschlecht wird Minnedienst zu Minnefron. Von dem hohen Ideal der Ritterlichkeit war der Mann nie ferner als heute. Darum bedurfte auch die Liebe niemals so sehr des »Geheges« / der von äußeren Mächten abgesteckten Grenzen / als gerade heute. Das soll an dieser Stelle, an der der Jammer dieser Notwendigkeit ins volle Licht gerückt wird, durchaus nicht verschwiegen oder durch Idealisierung der...

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