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Die Situation von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund im deutschen Schulsystem

Befunde, Erklärungsansätze und Maßnahmen gegen die Bildungsbenachteiligung

AutorAlexander Zerfaß
VerlagStudylab
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl90 Seiten
ISBN9783668482432
FormatPDF/ePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis34,99 EUR
Im Jahr 2006 inspizierte Vernor Muñoz, der UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Bildung, das deutsche Schulsystem. In seinem Abschlussbericht kritisierte er das deutsche Bildungssystem als selektiv, diskriminierend und undemokratisch. Gerade Kinder aus Zuwandererfamilien würden systematisch benachteiligt. Sind diese Anschuldigungen tatsächlich Realität? Um diese Frage zu beantworten soll hier die vorgebrachte Kritik genauer analysiert werden. Nachdem der Begriff Migrationshintergrund kurz definiert wird, erfolgt anhand von Zahlen und Fakten eine Darstellung der aktuellen Situation von Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland. In diesem Zusammenhang sollen auch Ergebnisse der Untersuchungen zu Migrantenmilieus vorgestellt werden. Im speziellen wird die Situation von Kindern und Jugendlichen an allgemeinbildenden Schulen untersucht. Zudem wird untersucht, warum eine solche Benachteiligung überhaupt besteht. Dabei werden inner- und außerschulische Ursachen und Erklärungsansätze für die Benachteiligung von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund vorgestellt. Zum Schluss folgt eine Veranschaulichung der bereits bundesweit eingeleiteten Maßnahmen zur Bekämpfung der Bildungsbenachteiligung, wobei auch persönliche Kritik und eigene Vorschläge des Autors mit einfließen werden. Aus dem Inhalt: - Migrationshintergrund; - Bildungsbenachteiligung; - institutionelle Diskriminierung; - Schulleistungen; - Schulsystem

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Leseprobe

3 Die Situation an allgemeinbildenden Schulen – Befunde zur Bildungsbenachteiligung


 

Nachdem die allgemeine Situation von Personen mit Migrationshintergrund vorgestellt worden ist, soll nun besonders auf die Situation der Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund an allgemeinbildenden Schulen eingegangen werden. Hierbei werden erneut wichtige Zahlen und Fakten vorgelegt. Bedeutende Bereiche sind dabei die Verteilung der Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund auf die verschiedenen Schulformen der Sekundarstufe I, die erreichten Schulabschlüsse und die allgemeinen Schulleistungen dieser Schülerinnen und Schüler, verglichen mit Kindern und Jugendlichen ohne Migrationshintergrund. Anhand der daraus gewonnenen Erkenntnisse soll der Frage nachgegangen werden, ob eine Bildungsbenachteiligung bzw. Chancenungleichheit von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund im deutschen Schulsystem tatsächlich vorherrscht. Für den weiteren Verlauf muss jedoch zunächst kurz geklärt werden, was genau der Begriff der Bildungsbenachteiligung im Allgemeinen beinhaltet und wann offiziell von einer Bildungsungleichheit gesprochen werden kann.

 

3.1 Bildungsungleichheit – Definition


 

In der Literatur wird Bildungsungleichheit als das „Resultat aufeinanderfolgender Bildungsentscheidungen“ verstanden.[26] Die Bildungsforschung zeigt, dass die Übergänge und Schnittstellen in einem Bildungssystem Selektionsschwellen darstellen, die enormen Einfluss auf den weiteren Bildungsverlauf haben. Diese Schnittstellen strukturieren den Bildungsverlauf nicht nur, sondern sind außerdem auch schwer zu revidieren.[27] Als eine der wichtigsten Selektionsschwellen ist hier der Übergang von der Grundschule in die Sekundarstufe I zu nennen, bei dem die teils verbindlichen Lehrerempfehlungen massiv über den weiteren Bildungsverlauf der Kinder entscheiden. Bildungsungleichheit bezieht sich außerdem auch auf die sozialen Bedingungen und familiären Kontexte von Schülerinnen und Schülern und beschreibt den Zusammenhang zwischen dem sozioökonomischen Stand der Eltern und dem damit verbundenen Bildungserfolg der Kinder.[28] Wenn es um die Einschätzung der persönlichen Bildungschancen geht, wird der sozialen Herkunft also eine große Rolle zugeschrieben. Eine Bildungsbenachteiligung findet demzufolge dann statt, wenn einzelne Individuen oder ganze Gruppen von Menschen systematisch weniger Möglichkeiten haben, ein bestimmtes Bildungsziel zu verwirklichen. Solch eine Chancenungleichheit liegt in einer Vielzahl von Faktoren begründet. Mögliche Ursachen wären die bereits genannte soziale Herkunft eines Individuums, vorsätzliche oder bewusste institutionelle Diskriminierung oder die Herkunft bzw. ein Migrationshintergrund, der vielerlei anderer möglicher Ursachen für die Entstehung von Chancenungleichheit im Schulsystem mit sich bringt. Auf die einzelnen genannten Ursachen soll im weiteren Verlauf der Arbeit speziell eingegangen werden.

 

3.2 Verteilung auf die Schulformen


 

Laut der Kultusministerkonferenz lag die Anzahl der Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund an allgemeinbildenden Schulen im Schuljahr 2003/04 bei 10%. Bildungsstatistiken sprechen von 951.314 Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund für das Jahr 2004.[29] In beiden Fällen wird jedoch speziell von ausländischen Schülerinnen und Schülern gesprochen, also von denen, die eine nichtdeutsche Staatsangehörigkeit besitzen. Hinzu kommen Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund, die eine deutsche Staatsangehörigkeit besitzen. Die Zahl dieser ist jedoch unbekannt, da sie in den amtlichen Bildungsstatistiken nicht auffindbar ist.[30] Die in Deutschland geborenen Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund durchlaufen, theoretisch gesehen, die für das schulische Lernen ausschlaggebenden Sozialisationsprozesse. Nichtsdestotrotz zeigen PISA-Untersuchungen, dass diese Schülerinnen und Schüler in den höheren Bildungsgängen deutlich unterrepräsentiert sind.[31] Schaut man sich speziell die 15-Jährigen an den allgemeinbildenden Schulen an, so zeigt die folgende Abbildung aus der PISA-Studie 2000, welche die Verteilung der 15-jährigen Jugendlichen auf die verschiedenen Schulformen der Sekundarstufe I differenziert nach dem Migrationsstatus der Familie darstellt, dass ein deutlicher struktureller Unterschied bei der Bildungsbeteiligung zwischen Jugendlichen mit Migrationshintergrund, deren beide Elternteile nach Deutschland zugewandert sind, Jugendlichen aus Familien, in denen beide Eltern in Deutschland geboren sind und aus Familien mit einem gemischten Migrationsstatus, besteht.[32] Aus der Grafik wird ersichtlich, dass nahezu 50% der Schülerinnen und Schüler, deren Eltern nicht in Deutschland geboren wurden, die Hauptschule besuchen. Nur ein geringer Anteil, etwa 15%, gehen dagegen auf das Gymnasium. Mit ca. 24% besuchen nur halb so viele Kinder von Eltern, die beide in Deutschland geboren wurden die Hauptschule und etwa 31% dieser Jugendlichen haben es auf ein Gymnasium geschafft, was folglich mehr als das Doppelte ist, verglichen mit Schülerinnen und Schülern, deren beide Elternteile nicht in Deutschland geboren worden sind.

 

 

Abbildung A: 15-Jährige nach Migrationshintergrund der Familie und Bildungsgang ohne Sonderschüler (in %). aus: Baumert, Jürgen. PISA 2000: Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern Im internationalen Vergleich. Opladen: Leske + Budrich, 2001. S. 373.

 

Jugendliche aus Familien mit nur einem in Deutschland geborenen Elternteil weisen einen ähnlich hohen Prozentsatz an Gymnasiasten auf, wie Kinder von in Deutschland geborenen Paaren. Der Besuch einer Hauptschule ist in diesem Vergleich jedoch um 7% höher wenn ein Elternteil zugewandert ist. Bezogen darauf, ergaben die Untersuchungen von PISA außerdem, dass, im Vergleich zu Jugendlichen aus Zuwanderungsfamilien, Jugendliche weitaus bessere Chancen haben, eine andere weiterführende Schule zu besuchen, anstatt eine Hauptschule, wenn ihre Eltern beide in Deutschland geboren worden sind. Dabei waren die Chancen eine Gesamtschule zu besuchen doppelt so hoch. Ein Realschulbesuch war 2,6-mal öfter zu beobachten und der Besuch eines Gymnasiums um das 4,4-fache höher.[33] Bereits hier werden die ersten Anzeichen von Chancenungleichheit, bezogen auf die Herkunft bzw. den Migrationsstatus, sichtbar.

 

Für den Vergleich der Verteilung einzelner Nationalitäten auf die jeweiligen Schulformen sind nur wenige Daten verfügbar. Bekannt ist jedoch, dass Schüler mit mindestens einem aus der Türkei oder der ehemaligen Sowjetunion stammenden Elternteil vorwiegend Haupt- und Realschulen besuchen. Fast jeder zweite Schüler türkischer Herkunft ist an einer Hauptschule anzutreffen, jedoch nur jeder achte an einem Gymnasium.[34]

 

Ein weiterer und besonders nennenswerter Fakt, bezogen auf die Gleichheit der Bildungschancen, wird deutlich, wenn man sich die Zahl der Kinder anschaut, die eine vorschulische Einrichtung besuchen. Daten auf Grundlage des Mikrozensus belegen, dass ca. 88% der ausländischen und rund 92% der deutschen Kinder eine vorschulische Einrichtung wie den Kindergarten besuchen.[35] Der Besuch eines Kindergartens ist für die Leistungen in der Grundschule von großer Bedeutung und hat vor allem einen positiven Effekt auf die Schulleistungen von sozial benachteiligten Schülerinnen und Schülern ohne, aber natürlich auch mit Migrationshintergrund. Letztere profitieren in großem Maße von dem Besuch einer vorschulischen Einrichtung. Berechnungen nach, erhöht dieser die Wahrscheinlichkeit ein Gymnasium zu besuchen deutlich.[36]

 

Was die Quoten an Sonderschulen angeht, so lässt sich feststellen, dass Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund überdurchschnittlich häufig Sonderschulen für Lernbehinderte besuchen. Berechnungen zufolge, werden ausländische Kinder und Jugendliche im Vergleich zu ihren deutschen Mitschülern ca. zu einem Drittel häufiger (68,9%) auf Sonderschulen mit dem Förderschwerpunkt Lernen überwiesen. Es ist zu vermuten, dass die Überweisung in den meisten Fällen aufgrund mangelnder deutscher Sprachkenntnisse erfolgt. Aussagekräftige Untersuchungen zur Überweisungspraxis liegen jedoch nicht vor.[37]

 

3.3 Bildungsabschlüsse


 

Nimmt man nun die Bildungsabschlüsse von Jugendlichen mit Migrationshintergrund genauer unter die Lupe, zeigt sich, dass ein starker Zusammenhang zwischen der besuchten Schulform und dem erreichten Schulabschluss besteht. Die Mehrheit der ausländischen Schülerinnen und Schüler besucht die Hauptschule und erreicht dort auch den Abschluss. Nur eine Minderheit erwirbt dagegen das Abitur an einem Gymnasium.[38] Besonders auffällig ist die hohe Anzahl Jugendlicher ohne Schulabschluss, im Vergleich zu deutschen Schülerinnen und Schülern. Von 1998 bis zum Jahr 2003 lag die Quote der ausländischen Jugendlichen, die keinen Schulabschluss erwerben konnten, konstant bei rund 20%. Diese Zahl war mehr als doppelt so hoch, verglichen mit Jugendlichen deutscher Herkunft. Der Mikrozensus 2005 belegte außerdem, dass mehr als die Hälfte der Jugendlichen türkischer Herkunft keinen allgemeinen Schulabschluss und keinen...

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