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E-Book

Die Sprache der Menschlichkeit

Wie wir Kranke wieder als Menschen wahrnehmen und nicht als Patienten

AutorChristie Watson
VerlagGoldmann
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl384 Seiten
ISBN9783641217082
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR
Mit ganzem Herzen im Einsatz fürs Leben
Sie ist hellwach und ihre Hände sind ruhig, auch wenn das Geschehen um sie herum ihr oft genug das Herz zerreißt. Christie Watson war über zwei Jahrzehnte als Pflegfachkraft im Einsatz und erzählt in bewegenden Geschichten von Neuanfang, Hoffen und Abschied im Krankenhaus. Sie nimmt uns mit in die flirrende Atmosphäre der Notaufnahme, wo Schwerverletzte hinter dünnen Vorhängen erstversorgt werden, wo Drogensüchtige im Delirium warten neben Patienten wie der Witwe Betty, die leise über Brustschmerzen klagt und Zuwendung braucht. Auf der Kinder-Intensivstation kämpft sich der kleine Emanuel trotzig ins Leben. Und was auf der Krebsstation am Ende wirklich zählt, begreift Christie, als ihr Vater im Sterben liegt. Jeder von uns erkrankt irgendwann einmal im Leben. Und jeder wünscht sich, dann nicht nur richtig, sondern gut behandelt zu werden. Christie Watson erinnert daran, was uns alle verbindet: Die universelle Sprache der Menschlichkeit.

Christie Watson war zwanzig Jahre als examinierte Krankenschwester tätig, bevor sie nach einem Studium ihre zweite Leidenschaft zum Beruf erhob: das Schreiben. Für ihr Debüt »Tiny Sunbirds Far Away« wurde sie 2011 mit dem Costa Award, einem der begehrtesten britischen Literaturpreise, ausgezeichnet, 2015 folgte der international ebenfalls vielbeachtete Roman »Where Women are Kings«. Ihre Bücher wurden in 22 Sprachen übersetzt. Christie Watson lebt in London.

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Leseprobe

Vorwort
Einsatz fürs Leben

Krankenpflege wurde denjenigen überlassen, die »zu alt, zu schwach, zu betrunken, zu schmutzig, zu dumm oder zu ungeeignet für irgendetwas anderes waren«.

Florence Nightingale

Ich wollte nicht von Anfang an Krankenschwester werden. Eine Vielzahl von Berufsmöglichkeiten kam in Frage, obwohl ich den Berufsberater an unserer Schule mit meinen schlechten Leistungen immer wieder zur Verzweiflung brachte. Meeresbiologin war eine Möglichkeit, die ich in Erwägung zog – ich träumte davon, in sonnigen Gefilden den ganzen Tag im Badeanzug herumzulaufen und mit Delfinen zu schwimmen. Als ich entdeckte, dass ein Großteil der Arbeit einer Meeresbiologin darin bestand, zu den walisischen Küsten getriebenes Plankton unters Mikroskop zu legen, überlegte ich es mir anders. Eines Sommers sah ich in Swansea meiner Urgroßtante eine Weile dabei zu, wie sie in der großen Küchenspüle Seewölfe ausnahm, und einmal fuhr ich im Boot von rauen, kräftigen Männern mit Stoppelbart und gelben Stiefeln, die ins Wasser pinkelten und unablässig fluchten, aufs Meer hinaus. Außerdem hatte ich Herzmuscheln und Laverbread zum Frühstück probiert. Damit war Meeresbiologie für mich gestorben.

»Jura«, antwortete ein Lehrer, als meine Eltern, die mittlerweile ebenfalls an mir verzweifelten, wissen wollten, wozu ich mich möglicherweise eignete. »Sie kann von morgens bis abends diskutieren.« Doch ich war nicht dafür gemacht, mich aufs Lernen zu konzentrieren. Stattdessen richtete ich mein Augenmerk auf Tiere und deren Schutz. Ich träumte davon, als Fotografin für National Geographic zu arbeiten, an heiße, exotische Orte zu reisen, wo den ganzen Tag die Sonne schien und ich doch noch im Badeanzug und mit Flip-Flops herumlaufen könnte. Ich beteiligte mich an Demos und Kampagnen gegen Tierversuche und verteilte im Zentrum von Stevenage mit seinen grauen Backsteinhäusern Flugblätter mit Bildern von gequälten Hunden und Kaninchen, die so lange für Kosmetiktests missbraucht wurden, bis sich ihre Augen rot färbten, oder blutenden, bis auf die Knochen abgemagerten Katzen. Ich trug billige politische Buttons, die aufgingen und mich piksten, sodass ich abends eine winzige Konstellation von rosa Stichen auf der Brust entdeckte. Ich weigerte mich, das Wohnzimmer zu betreten, nachdem meine Mutter ein ausgestopftes Huhn vom Flohmarkt angeschleppt und zu ihrem übrigen Klimbim gestellt hatte. Stattdessen nahm ich mein vegetarisches Abendessen aus Protest auf der Treppe ein und erklärte: »Entweder das Huhn oder ich. Mit Mord will ich nichts zu tun haben.«

Mum, die mir mit grenzenloser Geduld alle Teenager-Allüren verzieh, räumte das Huhn weg, machte mir noch ein Käsebrot und drückte mich an sich. Sie war es, die mir die Sprache des Mitgefühls beibrachte, auch wenn ich es damals noch nicht zu schätzen wusste. Am nächsten Tag entführte ich eine Ratte aus der Schule, um sie vor dem Seziermesser im Biologieraum zu retten. Ich nannte sie Furter und hoffte, dass sie sich mit meiner bereits existierenden Hausratte Frank vertragen würde, die mir auf der Schulter saß und ihren langen Schwanz wie eine Kette unmissverständlich um meinen Hals ringelte. Selbstredend hat Frank Furter gefressen.

Schwimmerin, Jazztrompeterin, Reisekauffrau, Sängerin, Wissenschaftlerin … Astronomie war eine Möglichkeit, bis ich mit zwölf dahinterkam, dass Dad, der mir die Namen sämtlicher Sternbilder beigebracht hatte, sie alle erfunden hatte. Trotzdem sagte ich nichts, sondern hörte weiter zu, wenn er nach oben zeigte und mir Märchen erzählte, während seine Begeisterung für Geschichten am Himmel explodierte. »Da, schau mal, ein Flusspferd … Siehst du es? Das ist Oriels Schulter. Und da drüben ist die Glockenblume. Erkennst du die Form? Die fast silberblaue Farbe dieser Sterne? Die Fischer glauben, dass sie einem die Geheimnisse der Erde zuflüstern, wenn man lange genug hinsieht. So wie man die Geheimnisse des Meeres im Innern einer Muschel hört. Wenn du dich darauf konzentrierst, kannst du alles und nichts hören – gleichzeitig.«

Ich verbrachte Stunden damit, die Sterne zu beobachten, um die Geheimnisse der Erde zu ergründen. Nachts zog ich eine Schachtel voller Schätze unter meinem Bett hervor: alte Briefe, einen zerbrochenen Schlüsselring, die Uhr meines verstorbenen Großvaters, eine einzelne Drachme-Münze; das Kaugummi, das ich unter einem Tisch abgekratzt hatte, weil es von einem Jungen stammte, in den ich verknallt war; Steine, die ich an diversen Orten gesammelt hatte, und eine große Muschel. Dann stand ich in meinem Zimmer, sah zu den Sternen hinauf und hielt die Muschel an mein Ohr.

Eines Nachts klauten Einbrecher Fleisch aus der Kühltruhe, die wir im Gartenschuppen stehen hatten. Damals kaufte man Fleisch en gros von Männern in blutverschmierten weißen Kitteln, die mit Lautsprechern auf riesigen Lieferwagen standen, und damals rückte die Polizei noch mitten in der Nacht an, um wegen des Diebstahls von ein paar tiefgefrorenen Hühnern zu ermitteln. So wurde meine Sternguckerei vom Geschrei der Polizisten unterbrochen. Das Universum hatte meinen Muschelruf erhört: Tierliebe fängt beim Essen an. Ich weiß nicht, welcher Anblick in jener Nacht ungewöhnlicher war: der der jungen Männer, die sich mit einem gefrorenen Huhn und einer Familienpackung Lammkoteletts vom Acker machten, oder der eines dünnen Teenagers in einem mondbeschienenen Schlafzimmer mit einer großen Muschel am Ohr.

Was ich machen und wer ich sein würde, beschäftigte mich auf eine Art, an die meine Freunde offensichtlich keinen Gedanken verschwendeten. Damals verstand ich noch nicht, dass ich viele Leben leben und unterschiedliche Lebensweisen ausprobieren wollte. Ich wusste noch nicht, dass ich genau das finden würde, wonach ich suchte (abgesehen von Badeanzug und Sonne): dass es sowohl bei der Krankenpflege als auch dem Schreiben darum geht, immer wieder in die Rolle des anderen zu schlüpfen.

Seit ich zwölf war, übernahm ich ständig irgendwelche Teilzeitjobs. Ich arbeitete in einem Café, wo ich die Herde putzte – ein ekelhafter Job, mit knausrigen Frauen, die aus einem Teebeutel drei Tassen Tee herausholen konnten. Ich trug in eisigen Wintern Milch aus, bis ich kein Gefühl mehr in den Fingern hatte. Auch Zeitungen trug ich aus, bis man mich dabei erwischte, dass ich sie in einer mit Hundehaufen übersäten Gasse entsorgte. In der Schule strengte ich mich nicht besonders an, machte auch nie Hausaufgaben. Meine Eltern versuchten, meinen Horizont zu erweitern, mir Arbeitsethik und eine Vorstellung dessen zu vermitteln, was ich tun könnte: »Bildung ist der Schlüssel zu allem. Du bist intelligent, machst aber nichts daraus.« Ich war schon immer aufgeweckt gewesen, doch trotz der Werkzeuge, die meine Eltern mir mit auf den Weg gaben, oder ihrer joie de vivre blieben meine Schulleistungen mäßig, und meine Flatterhaftigkeit hielt an. Seit ich klein war, hatten sie mich zum Lesen ermuntert, daher liebte ich die Philosophie und suchte in ihr Antworten auf unzählige Fragen: Sartre, Platon, Aristoteles, Camus – ich war süchtig. Die Liebe zur Literatur war das größte Geschenk, das sie mir machen konnten. Ich trieb mich gern herum, brauchte aber immer auch Lesestoff in meiner Nähe und hatte überall auf dem Grundstück Bücher versteckt: Betty und ihre Schwestern in der Black Alley, Dostojewski hinter Catweazels Eimern; Dickens unter Tinkers kaputtem Wagen.

Mit sechzehn schmiss ich die Schule hin und zog zu meinem Freund und seinen vier männlichen Mitbewohnern, alle um die zwanzig. Dort herrschte ein unglaubliches Chaos, aber ich war selig, nahm einen Job in einem Videoladen an und tauschte mit dem chinesischen Imbiss nebenan VHS-Videos gegen Chicken Chow Mein. Mein Faible für vegetarische Kost schwand allmählich; ich konzentrierte mich darauf, Pornofilme zu bestellen und meine Freunde in den Laden zu lotsen. Ich besuchte eine Landwirtschaftsschule, um Farmerin zu werden, doch die Begeisterung hielt gerade mal zwei Wochen an. Eine BTEC-Ausbildung in Reisen und Tourismus dauerte nur eine Woche. Mich als orientierungslos zu bezeichnen, war eine Untertreibung.

Als ich zu einem Vorstellungsgespräch zu spät kam und deswegen die Stelle einer Kinderanimateurin bei Pizza Hut nicht bekam, war ich am Boden zerstört. Als meine Beziehung in die Brüche ging, war ich schockiert, aber ich war erst sechzehn und völlig naiv. Aus reinem Stolz konnte ich unmöglich wieder nach Hause zurück. Kein Job, kein Zuhause. Ich arbeitete bei den Community Service Volunteers, dem einzigen Wohlfahrtsverband für Freiwillige damals, der Jugendliche unter achtzehn annahm und ihnen eine Unterkunft bot. Man schickte mich in ein Wohnheim, das von der Spastics Society (heute: Scope) geleitet wurde. Ich bekam 20 Pfund pro Woche und kümmerte mich um Erwachsene mit schweren körperlichen Behinderungen: Ich half ihnen beim Gang zur Toilette, beim Essen und Ankleiden. Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, etwas Nützliches zu tun, einen Sinn im Leben gefunden zu haben. Ich fing endgültig an, Fleisch zu essen; jetzt gab es höhere Ziele im Leben. Ich rasierte mir den Schädel, kaufte meine Kleider in Secondhandläden und verpulverte mein Taschengeld für Cider und Tabak. Ich besaß nichts, war aber trotzdem wunschlos glücklich. Und zum ersten Mal kam ich mit Pflegern in Kontakt. Ich beobachtete die qualifizierten Pflegekräfte so intensiv wie ein Kind seine Eltern, wenn es krank ist. Mein Blick folgte ihnen auf Schritt und Tritt. Aber ich hatte keine Sprache für das, was sie machten, oder für ihren Job.

»Du solltest dich für einen Pflegeberuf ausbilden lassen«, sagte eine. »Du bekommst ein Stipendium und hast ein Dach...

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