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E-Book

Die Sprache der Seele verstehen

Die Weisheit der Wüstenväter

AutorDaniel Hell
VerlagVerlag Herder GmbH
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl160 Seiten
ISBN9783451814723
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,99 EUR
Was ist heilsam für die Seele? Die eigene innere Wahrheit finden und so dem Grund der eigenen Existenz näher kommen: Das war der Weg der Wüstenväter. Dieses Wissen um die Kunst eines Lebens in Gelassenheit ist auch gegenwärtig noch aktuell. Anregungen zu einer Kunst des Lebens, erprobt vor fast zweitausend Jahren. Uraltes Wissen, fruchtbar gemacht für die Gegenwart durch einen erfahrenen Psychotherapeuten.

Daniel Hell war von 1991-2009 Professor für Klinische Psychiatrie und Klinikdirektor an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. Seit seiner Emeritierung als Ordinarius für Klinische Psychiatrie an der Universität Zürich führt er an der Privatklinik Hohenegg eine eigene psychiatrisch-psychotherapeutische Praxis und engagiert sich in der Stiftung Hohenegg sozialpsychiatrisch. Er ist Autor zahlreicher Fach- und Sachbücher.

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Leseprobe

KAPITEL 1
Seelische Einsichten ohne Psychologie


Das Experiment der Wüstenmönche


Die christlichen Eremiten oder Anachoreten (griech. Anachorese = sich von der Welt zurückziehen) waren oft ägyptische Bauern, die der Schrift nicht mächtig waren. Sie zogen sich in unbewohnte Gegenden und in die Wüste zurück, um sich in Einsamkeit und Stille ganz der inneren Wahrheit auszusetzen. Nichts sollte sie davon ablenken, auf das eigene Herz zu hören: kein Besitz, keine Gesellschaft, keine Abhängigkeit. Sie waren, um das Wort Anachoret salopp, aber nicht falsch zu übersetzen, „Aussteiger“.

Als das Christentum zu Beginn des 4. Jahrhunderts zur Staatsreligion wurde und sich alte Herrschaftsfamilien der Kirchenorganisation bemächtigten, fühlten sich offenbar immer mehr Menschen gedrängt, nach einer ursprünglicheren Form der religiösen Erfahrung zu suchen. Sie fanden sie nach dem Vorbild von Antonius – einem Sohn wohlhabender Eltern, der sich 20-jährig in die ägyptische Wüste zurückgezogen hatte – an wüstenähnlichen Orten. Fern von gesellschaftlichen und familiären Zwängen setzten sie sich ganz den eigenen Gedanken und Gefühlen aus, um das zu finden, was als Umfassendes hinter allen Vorstellungen und Emotionen steht und sie begründet. Zu Hunderten, schließlich zu Tausenden zogen Männer und vereinzelt auch Frauen in die Wüsten Ägyptens und Syriens, um den Urwunsch vieler Menschen wahr zu machen: „bei sich selber zu sein“. Die einen lebten als Einsiedler ganz auf sich gestellt, andere in kleinen Eremitenkolonien. Es bildete sich nach und nach eine Bewegung von Aussteigern und Einzelgängern, die als Mönche (Monachos, griech.: allein, in sich geeint) abgelegene Orte besiedelten und insbesondere an Sonntagen miteinander Kontakt pflegten und zusammen Eucharistie feierten. Dank dieser Bewegung waren die „Aussteiger“ nicht allein auf sich gestellt, sondern konnten sich gegenseitig beraten. So entwickelte sich eine gemeinsame Kultur der asketischen Lebensführung. Auch wenn später – nach der ersten Klosterbildung durch Pachomius im Jahr 323 n. Chr. – die gemeinschaftliche Organisation immer mehr in den Vordergrund rückte, war für die ersten Wüstenmönche weniger die Gemeinschaftserfahrung wichtig als das Erleben in der Abgeschiedenheit. Um das außerordentlich harte Wüstenleben zu überstehen und das Ziel des Mit-sich-selbst-Einsseins anzustreben, setzten sie das Mittel der Askese ein. Durch Verzicht selbst auf geringste Konsum- und Besitzgüter sollte alles fern gehalten werden, was der Grund- oder Gotterfahrung entgegensteht.

Im Brief des Paulus an die Hebräer (11, 37–38) werden alttestamentliche Eremiten auf eine Weise charakterisiert, die auch auf die Wüstenväter zutreffen dürfte: „Sie sind umher gegangen in Schafpelzen und Ziegenfellen, mit Mangel, mit Trübsal, mit Ungemach (deren die Welt nicht wert war), und sind im Elend umhergeirrt in den Wüsten, auf den Bergen und in den Klüften und Löchern der Erde.“ Dieses Zitat scheint insofern realistisch, als es aus einer Zeit stammt, die sich noch unmittelbar ein eigenes Bild von der Wirklichkeit des Eremitentums machen konnte.

„Allein-sein als ungezähmtes Abenteuer, Religion als elementare Begegnung mit dem Älteren, der im sokratischen Umgang mit sich selbst etwas mehr Erfahrung hat …“. So fasst Hans Conrad Zander 1 die frühe Bewegung der Wüstenmönche zusammen. Dass in dieser subkulturellen Bewegung auch „heilige Verbrecher“ (wie der frühere Räuberhauptmann Moses) und manche andere dissoziale Aussteiger eine Art Heimat fanden, wurde nicht nur durch den Abstand der in der Wüste verstreuten Mönchszellen voneinander erleichtert. Auch das anarchische Ideal der Wüstenmönche trug dazu bei, dass sich der Kreis der Wüstenmönche zu einem sehr bunten Völkchen entwickelte, in dem unterschiedlichste Charaktere Platz fanden.

Hans Conrad Zander hat in anregender und unterhaltender Weise eine Geschichte der Wüstenväter geschrieben. Darin wird mit Hinweisen auf finanzielle, rechtliche und familiäre Gründe nicht gespart, die spätere Wüstenmönche veranlasst haben, sich dem Zugriff der Gesellschaft zu entziehen. Die Anziehungskraft der Wüstenväter erschöpft sich aber nicht in der mönchischen Gegenbewegung gegen eine verpflichtende Gesellschaft. „Ich und du und alle Menschen, wir sind einander verbunden durch die denkbar stärksten Bande menschlicher Gesellschaft und Gemeinschaft – am stärksten aber verbindet uns, paradoxerweise, das gemeinsame Empfinden, dass in jedem von uns etwas ist, was nicht gesellschaftlich, sondern göttlich, einzigartig und unantastbar ist …“2 Diesem Erleben gilt das Experiment der ersten christlichen Eremiten, die sich in die Wüste zurückzogen, um ganz zu sich zu kommen. So beginnt denn auch der Bericht über Antonius, der zwar nicht als erster, aber als berühmtester Wüstenmönch Abschied von der häuslichen Gemeinschaft genommen hat und dessen Biographie, von Athanasius erzählt, zum größten Bestseller der Spätantike geworden ist – vergleichbar dem abenteuerlichen Bericht von Daniel Defoe über den schiffbrüchigen Inselbewohner Robinson Crusoe in der Moderne:

Um das Jahr 200 n. C. verkaufte der 20-jährige Antonius sein Erbe und zog an den Rand der Wüste, nachdem er das bekannte Wort Jesu gehört hatte: „Geh, verkaufe, was du hast, gib das Geld den Armen, und du wirst einen bleibenden Schatz im Himmel haben; dann komm und folge mir nach!“ (Mk 10, 21). Nachdem er sich in ein verlassenes Kastell eingeschlossen hat, ist er mit seinem Inneren konfrontiert. Die Leute, die am Kastell vorbeikommen, hören Antonius laut schreien. Sein Geschrei ist Ausdruck eines Kampfes mit dem, was ihm in Abgeschiedenheit in und außer sich begegnet. Als schließlich die Leute sein Kastell gewaltsam aufbrechen, da sie um Antonius fürchten, kommt ihnen ein ruhiger und innerlich gestärkt wirkender Mann entgegen. Athanasius hat ihn in seiner berühmten Lebensbeschreibung folgendermaßen charakterisiert: „Die Verfassung seines Innern war rein, denn weder war er durch den Missmut grämlich geworden noch in seiner Freude ausgelassen, auch hatte er nicht zu kämpfen mit Lachen oder Schüchternheit; denn der Anblick der großen Menge brachte ihn nicht in Verwirrung, man merkte aber auch nichts von Freude darüber, dass er von so vielen begrüßt wurde. Er war vielmehr ganz Ebenmaß, gleichsam geleitet von seiner Überlegung, und sicher in seiner eigentümlichen Art.“3

Nicht ohne Grund, ist das Ideal der Wüstenväter durch die Jahrtausende immer wieder neu entdeckt worden. Generationen von Malern, von Hieronymus Bosch bis hin zu Salvador Dalí, wurden von den Versuchungen des heiligen Antonius angezogen. Dichter wie Gustave Flaubert oder Rainer Maria Rilke waren von den überlieferten Aussagen der Wüstenmönche begeistert. Kirchliche und kulturelle Reformbewegungen haben in unterschiedlicher Weise auf die Wüstenväter Bezug genommen, so die cluniazensische Klosterreform im 10. und 11. Jahrhundert, aber auch der Reformator Martin Luther und im 20. Jahrhundert die New-Age-Bewegung.

Sind das Seelenverständnis der Wüstenväter und moderne Psychologie vereinbar?


Was aber ist aus den inneren Einsichten der Wüstenväter auf dem Gebiet der Psychologie und Psychiatrie geworden? Hat auch hier eine Rezeption stattgefunden oder ist dieser Schatz erst noch zu bergen?

Das anarchische Ideal der Wüste verträgt sich schlecht mit einer psychologischen Lehre, die das menschliche Verhalten und Erleben festlegen und erklären will. Die Einmaligkeit des Menschen, die Vorstellung einer göttlichen Seele widerstrebt der Einordnung in eine wissenschaftliche Typologie oder der Eingliederung in ein statistisches Durchschnittsmaß. Schon deshalb können die Wüstenväter nicht im heutigen Sinne als Psychologen bezeichnet werden. Noch ferner steht ihnen eine psychiatrische Krankheitslehre, wie unsere heutige, die auf dem Denken der Aufklärung basiert und seelische Probleme als Störungen des Hirnstoffwechsels interpretiert.

Trotzdem sind auch in Psychologie und Psychiatrie Spuren eines anarchischen Wüstenideals enthalten, jenes „reinigenden Feuers“, das auf die zentrale Bedeutung der individuellen Erfahrung nicht verzichten mag und der beobachtenden Perspektive von außen das Primat des eigenen Erlebens entgegensetzt. Solche Spuren lassen sich in tiefenpsychologischen und humanistischen Ansätzen erahnen und sind auch der Psychoanalyse nicht fremd. Sie sind immer da zu vermuten, wo die Widerständigkeit des Subjekts beachtet wird und die therapeutische Behandlung nicht darauf abzielt, die Persönlichkeit sozialen Zwängen unterzuordnen, sondern sie zu stärken.

Die Wüstenväter setzten sich der Wildnis und dem Alleinsein aus. Das erfordert Mut: Man tritt ungeschützt sich selbst gegenüber. Ein solcher Schritt setzt – bei aller vielleicht vorhandenen Not und Verzweiflung – ein Grund- oder Gottvertrauen voraus, mithin die Überzeugung, dass die menschliche Person auf einer tragenden Basis ruht. Dieser Mut ist Bedingung für das Erfahren einer eigenen Wirklichkeit und setzt voraus, dass man äußere Haltepunkte wie z. B. eine soziale Verankerung loslässt.

Das Eigentliche, das den Menschen ausmacht, ist schwer in Worte zu fassen. Aber es macht einen großen Unterschied, ob das Selbstverständnis eines Menschen von einer inneren seelischen Erfahrung ausgeht oder bloß auf äußeren Beobachtungen und sozialen Wertvorstellungen beruht. Der zweite Fall, mithin die Betonung der Außenperspektive, kann dazu führen, dass sich ein Mensch nur als Objekt sozialer und materieller...

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