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Die Stadt

Vom antiken Athen bis zu den Megacitys

AutorRainer Metzger
VerlagChristian Brandstätter Verlag
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl272 Seiten
ISBN9783850339278
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,99 EUR
Städte haben Konjunktur. Sie verkörpern die Maximalisierung des Lebens. In Städten entstehen die Trends, die Moden, die Stile und die Konzepte der Veränderung. Sie sind vielfältig und vielschichtig. Sie sind synonym mit Zivilisation. In zwölf Kapiteln heftet sich der Autor an die Fersen von ausgesuchten Städtern, die als Baedeker durch die jeweils ganz besondere Phase im Leben einer bestimmten Metropole führen. Die Reiseführer heißen u.a. Sokrates und Horaz, Augustinus und Dürer, Mascha Kaleko und Lina Bo Bardi; die Kultur- und Zivilisationsgeschichte führt von der Geburt der Demokratie in Athen über die Gottesstädte des Monotheismus der späten Antike zur Entstehung von Gotik und Universität im mittelalterlichen Paris und ins Katastrophenjahr 1666 nach London. Mozart scheitert an der feinen Gesellschaft in Wien um 1790 und Manet führt im Paris des zweiten Kaiserreichs vor, was Modernität meint; gegen Armut und Verelendung engagiert sich Jacob Riis in New York um 1900; Mascha Kaleko wiederum erlebt in Berlin um 1930 das Phänomen der Massenkultur. Anhand von Bodys Isek Kingelez' Kinshasa schließlich lässt sich das Prinzip der Mega-Städte begreifen, der Global und der Arrival City, die Landflucht und Ungebrochenheit der Hoffnung auf ein besseres Leben in der Stadt.

Rainer Metzger ist ein deutscher Kunsthistoriker, Autor, Kurator und Kritiker. Er lehrt seit 2004 Kunstgeschichte an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Karlsruhe. Bisher bei Brandstätter erschienene Titel: Der Tod bei der Arbeit (2003), Gustav Klimt - Das graphische Werk (2005), Berlin - Die 20er Jahre (2006), München - Die große Zeit um 1900 (2008), Swinging London - The Sixties. Leben und Kultur 1956-1970 (2012).

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Leseprobe

SOKRATES IM ATHEN DER ANTIKE


Ironie und Urbanität


„Glaubst du, daß die Schönheit nur im Menschen vorhanden ist oder auch in etwas anderem?“, fragt Sokrates den Kritobulos, der für diesmal seinen Gesprächspartner abgibt. Doch, meint dieser, das gibt es auch bei Tieren oder sogar bei Gegenständen, und zwar dann, wenn sie ihren Zweck erfüllen. Damit ist der Stier schon bei den Hörnern gepackt, und die Unterhaltung gerät auf ihr eigentliches Feld. „Weißt du auch, wofür wir Augen brauchen?“, hakt Sokrates nach. „Offenbar zum Sehen“, sagt Kritobulos. „Dann dürften meine Augen schöner sein als deine. – Inwiefern? – Weil deine Augen nur in gerade Richtung sehen können, meine aber auch das Seitliche, da sie vorstehen.“ Kritobulos gibt sich geschlagen. Die frühe Form-follows-function-Ästhetik, die Sokrates da aufgebaut hat, macht aus den Glupschaugen, mit denen er geschlagen ist, Modelle an Wohlgestalt. Damit will Sokrates es allerdings noch nicht bewenden lassen. Auch seine Stülpnase wird ausgiebig in ihrer Schönheit gewürdigt, da sie nicht nur nach unten, sondern auch nach vorne riechen könne. Sokrates’ Mund mit den dicken Lippen sei zudem besser fürs Küssen geeignet, und insgesamt wäre sein Körper, der in seiner Gedrungenheit und dem Ansatz eines Bauches demjenigen eines Satyrs ähnlich sehe, ein Beleg für seine – zumindest annähernde – Göttlichkeit: „Hältst du nicht auch das für einen Beweis“, wendet sich Sokrates nochmal an Kritobulos, „daß ich schöner bin als du, daß auch die Najaden, obwohl sie Göttinnen sind, die Silenen zur Welt bringen, die eher mir als dir ähnlich sind?“1

Herrlich hat Sokrates in die Gedanken seines Gegenübers einen Knoten gewunden. Der Meister dieser Rede selbst hat nichts Geschriebenes hinterlassen. Sein Metier war die Mündlichkeit. Das gerade macht Sokrates zum Prototypen eines Städters. Mehr noch: Er ist der Archetyp des Städters, der Erste, dem dieses Prädikat verliehen werden kann. Entsprechend ist damit die Geschichte mit der Schönheit noch nicht zu Ende. Die beiden Herren standen nämlich nicht nur auf der Bühne, um zu debattieren, sondern auch, um sich taxieren zu lassen. Jungen und Mädchen, eine Art Publikum, stimmten ab, und so kam, gleichsam objektiv, doch noch zustande, was allen evident, aber dank Sokrates’ Fähigkeit, einem die Worte im Mund umzudrehen, für den Moment in Vergessenheit geraten war. Kritobulos setzte sich bei diesem Wettbewerb schließlich durch, es war eine Auseinandersetzung ganz nach dem Geschmack der Griechen, die den Wettstreit, das vitale Vis-à-vis von Kontrahenten liebten: nichts ohne Wettbewerb, kein

Sokrates selbst hat nichts Geschriebenes hinterlassen. Sein Metier war die Mündlichkeit. Das gerade macht ihn zum Prototypen eines Städters. Mehr noch: Er ist der Archetyp des Städters, der erste, dem dieses Prädikat verliehen werden kann.

Theater ohne Konkurrenz der Dramatiker, keine Spiele, bevorzugt in Olympia, ohne Sieger, und auch der Krieg, den sie in den Schlachtreihen der Phalanx führten, hatte seine sportive Seite – man prallte aufeinander, verkeilte sich ineinander und einigte sich schließlich miteinander, dass derjenige gewonnen hatte, der die Stellung hielt in Kämpfen, die oftmals nur wenige Stunden dauerten.

Sokrates war nicht der Schönste, äußerlich, und die Statuen, die von ihm erhalten sind, sprechen davon eine deutliche Sprache. Was er mit Kritobulos verhandelt hat, die hervortretenden Augen, die nach oben gezogene Nase, die die Griechen „sime“ nennen, die dicken Lippen und insgesamt die Ähnlichkeit mit Satyrn, Silenen und sonstigen Gott-Natur-Mischwesen aus dem Gefolge des Dionysos, zeigen auch die Porträtstelen. Man teilt sie in zwei Typen, knapp vierzig davon lassen sich aufzählen, und wohl allesamt sind sie postum: Als Steinbildwerke sind sie ohnedies römische Kopien, die Griechen arbeiteten meist in jener Bronze, die sich in späterer Zeit so leicht für Kanonen verwenden ließ; postum sind sie auch deswegen, weil sie für eine Art Rehabilitierung stehen, für eine nachträgliche, aus einem deutlich schlechten Gewissen resultierende Hommage an den Denker und Paradebewohner der Stadt, den die Athener im Jahr 399 in den Tod getrieben haben. So jedenfalls berichtet es Diogenes Laertios in seinen Mitteilungen über Leben und Werk der alten Philosophen, die noch viel später, im 3. Jahrhundert unserer Zeitrechnung, verfasst worden sind. Auch die Episode, die vom Schönheitswettbewerb zwischen Sokrates und Kritobulos erzählt, ist nach dem Tod ihres Helden geschrieben worden.

Sie stammt von Xenophon, aus einer Schrift mit dem Titel „Symposion“, für den auch ein anderer Autor in Zusammenhang mit Sokrates Verwendung finden wird, und sie kann immerhin für sich in Anspruch nehmen, dass sie von einem Bekannten des Beschriebenen erzählt wird. Xenophon war Athener, gut eine Generation jünger als Sokrates, und tat sich hervor mit Erinnerungen speziell an seine Heimatstadt, die er im Exil verfasste. Auf Raffaels groß angelegter Revue der antiken Athleten des Denkens, ehrfürchtig „Die Schule von Athen“ genannt, entstanden 1512, beheimatet im Vatikan, ist Sokrates mit den charakteristischen Ausstattungsstücken seines Äußeren zu sehen, im Profil, damit die Nase gut zur Geltung kommt, und er unterhält sich Finger und damit Argumente zählend mit Xenophon. Im Mittelpunkt der monumentalen Komposition, weltberühmt, die beiden Meisterdenker des Zeitalters schlechthin: Platon und Aristoteles. Beide haben sie von Sokrates berichtet. Aristoteles indes ist fast ein Jahrhundert jünger, und auch Platon, Fokus allen philosophischen Bemühens, zu dem die Nachfolger dann nur noch Fußnoten setzen konnten, verfasste einen Großteil der Texte – die sich bis auf die eine Ausnahme des spätesten, wahrscheinlich unfertigen, allesamt um Sokrates ranken – nach dessen Tod; immerhin hatte er seinen Meister im Jahre 408 noch kennenlernen können. Einzig die vierte seriösere Quelle, die Komödie „Die Wolken“ des Aristophanes, schöpft aus dem Vollen unmittelbarer Zeitgenossenschaft.

Sokrates war Athener, durch und durch. Geboren ist er um 470 – das lässt sich Platons „Apologie des Sokrates“ entnehmen, einer von vier Schriften, die seine Inhaftierung und Hinrichtung schildern. Er stammte aus einfachem Haus, sein Vater war Steinmetz, und dieses Handwerk hat der Sohn übernommen, wenn auch, in der zweiten Hälfte seines Lebens jedenfalls, nicht mehr ausgeübt. Der Stoff zum Formen waren ihm dann die Menschen selbst, die Passanten, die Stadtbewohner, auf deren Beeinflussbarkeit und daraus resultierend auf deren Einsicht er unverdrossen setzte. Diogenes Laertios zitiert diesbezüglich ein Spottgedicht eines gewissen Timon von Phleius: „Steinmetz war er sodann und weltverbessernder Schwätzer, Zauberfürst der Hellenen, spitzfindiger Rede Erfinder, Naserümpfer, Rhetorenverspotter, halbattischer Heuchler.“2 Die Erwartungen, die er an seine – und hier passt das heutzutage inflationär gebrauchte Wort – Mitbürger hatte, erfüllte er selbst. Er verstand sich als gesellschaftlich zuständig, als Koautor eines Gemeinwesens, das sich in der Zuträgerschaft aller jeweils ad hoc, jeweils neu und jeweils in der unmittelbaren Aktion und Reaktion auf das, was gerade aktuell war, ständig konstruierte.

Eines der berühmtesten Werke eines der berühmtesten Maler der Kunstgeschichte: Raffaels „Schule von Athen“, inszeniert für die sogenannten „Stanzen“ des Vatikan, zeigt eine Idealversammlung antiker Philosophen – Geistesgrößen über ein knappes Jahrtausend hinweg; der Glatzkopf im Profil und grünen Gewand ist, unverkennbar, Sokrates.

Athen und das Experiment Demokratie


In Athen ist die Demokratie entwickelt worden, und das in aller Radikalität. Die Erfahrung, die in den ersten Jahren nach der Französischen Revolution überall gemacht wurde, eine Erfahrung, die politisch erst gemeistert werden musste und die darin bestand, dass mit einfachen Mehrheiten permanent der soeben erst errungene Status quo aus den Angeln gehoben werden konnte, sie hatte ihren Präzedenzfall in Athen. Was in dieser frühen Gesellschaft waltete, war das unermüdliche Experiment, und ein Großteil derer, die als Bürger galten – den historischen Umständen gemäß nur Männer, nur Freie und nur im Territorium Geborene –, war verstrickt in dieses Experiment: als Träger von Ämtern, als Träger von Waffen, als Träger von Verantwortung. So entstand in der Stadt, deren repräsentative Sphäre den Namen Polis trug, jener Kompetenzbereich, den man seither Politik nennt.

Athen wird sich in den aufregenden, emphatischen, weltbewegenden Jahrzehnten, die Sokrates erlebte, dann gehörig verzetteln. In seiner Jugend wurde er Zeuge des...

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