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Die Steinzeit steckt uns in den Knochen

Gesundheit als Erbe der Evolution

AutorDetlev Ganten, Thilo Spahl, Thomas Deichmann
VerlagPiper Verlag
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl336 Seiten
ISBN9783492969482
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Unsere Körper sind Meisterwerke der Natur. Aber sie sind nicht perfekt. Wir sind der lebende Kompromiss aus unseren evolutionären Vorgängern, den Affen, Amphibien, Fischen. Seit der Steinzeit hat sich unser Körper kaum mehr verändert und passt nun nicht mehr so recht zum modernen Leben. Die Folge sind Einschränkungen und Krankheit. Der Arzt und langjährige Charité-Chef Detlev Ganten hat mit Thilo Spahl und Thomas Deichmann ein spannendes Buch über einen der wichtigsten neuen Ansätze für gesunde Lebensführung geschrieben: die evolutionäre Medizin.

Detlev Ganten ist Arzt, Professor für Pharmakologie und Molekulare Medizin und Vorsitzender des Stiftungsrates der Stiftung Charité in Berlin. Er zählt zu den herausragenden Persönlichkeiten der europäischen Forschulgslandschaft.

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Leseprobe

Gesundheit als Erbe der Evolution


Den menschlichen Körper kennen wir ziemlich gut. Er ist bis in kleinste Details beschrieben. Sein Genom ist Buchstabe für Buchstabe gelesen. Seinem Wohl und Wehe ist eine ganze Wissenschaft gewidmet: die Medizin. Aber dennoch ist eine wichtige Frage noch nicht umfassend beantwortet: Warum ist unser Körper so, wie er ist?

Unser Körper ist ganz und gar das Produkt seiner Entstehungsgeschichte, seiner Evolution. Und diese Geschichte ist die des Lebens. Sie reicht fast vier Milliarden Jahre zurück. Wir tragen das Erbe unserer Vorfahren mit unseren Erbanlagen in uns.

Stellen Sie sich zwei Situationen vor. Die erste: Sie sind auf Safari in Kenia, plötzlich springt ein Löwe aus dem Busch auf Ihr offenes Auto zu. Die zweite: Auf dem Parkplatz sehen Sie einen faulenden Tierkadaver. Wie ist Ihr Gesichtsausdruck? Im ersten Fall öffnen Sie die Augen weit und wahrscheinlich ebenso Mund und Nasenlöcher. Im zweiten Fall rümpfen Sie sehr wahrscheinlich die Nase, ziehen die Augenbrauen zusammen und wenden den Blick mit zusammengekniffenen Augen ab. Stimmt’s? Bei fast allen Menschen ist es so. Der beschriebene Gesichtsausdruck ist universell. Haben Sie sich schon mal gefragt, warum? Es ist kein Zufall. Es ist ein Ergebnis der Evolution. Ihr Gesichtsausdruck hilft Ihnen beim Überleben.

Ein verwesendes Tier ruft Ekel hervor. Der damit verbundene Gesichtsausdruck ist nicht beliebig. Wir schließen Mund und Nase und wenden uns ab, weil wir damit das Risiko verringern, Krankheitserreger aufzunehmen. Anders beim Anblick des Löwen. Der entsprechende Gesichtsausdruck ermöglicht erhöhte Aufmerksamkeit, verbesserte Informationsaufnahme und schnellere Reaktion. Charles Darwin, der sich sehr intensiv mit Gesichtsausdrücken beschäftigte, schrieb: »Furcht geht oft Überraschung voraus und ist ihr insofern ähnlich, als beide dazu führen, dass der Gesichtssinn sowie das Gehör augenblicklich verstärkt werden. In beiden Fällen sind Augen und Mund weit geöffnet und die Augenbrauen hochgezogen.«1 Durch die aufgerissenen Augen sehen wir mehr, insbesondere am Rande des Gesichtsfelds, und wir können die Pupillen schneller bewegen. Durch die geöffnete Nase können wir mehr Geruchsmoleküle aufnehmen. Der geöffnete Mund lässt uns Geräusche besser im Raum verorten. All das ist nützlich.2 Denn wir wollen uns retten und der Gefahr erwehren.

»Augen auf! Ohren auf!«

Gute Reflexe schützen uns: Wer erschrickt, sieht und hört mehr.

Nicht nur Gesichtsausdrücke, sondern alles, was unser Körper tut, lässt sich im Lichte der Evolution besser verstehen. Das ist der Grundgedanke, dieses Buches. Warum schmecken und lieben wir Süßes? Weil seit Urzeiten Zucker der Stoff ist, aus dem Tiere ihre Energie beziehen. Wesen, die nicht auf Zucker standen, wurden von ihren Genen schon vor mehr als einer Milliarde Jahre in eine Sackgasse gefahren.

Jedem von uns liegt die eigene Gesundheit am Herzen. Tipps, Informationen, Rezepte, auch Ermahnungen, für ein gesundes Leben sind allgegenwärtig. Wir werden damit geradezu überschüttet. Aber es prasseln dabei auch viele Halbwahrheiten, Irrtümer und vor allem Widersprüche auf uns herab. Es fehlt der feste Rahmen, in dem der Unsinn aussortiert und die einzelnen Puzzleteile zu einem Bild geordnet werden.

Warum werden wir krank? Wie können wir gesund bleiben? Wir finden Antworten, indem wir die Naturgeschichte des menschlichen Körpers genauer betrachten. Unser Körper ist das Ergebnis einer natürlichen Auslese. Alle Lebewesen, die heute leben, sind vorläufige Endpunkte einer langen, ununterbrochenen Reihe von Anpassungen an die jeweilige Umwelt. So auch wir. Wenn wir verstehen wollen, wie unser Körper funktioniert, wofür er gemacht oder nicht gemacht ist, müssen wir immer wieder in die Vergangenheit zurückgehen. Manchmal nur Jahrhunderte, manchmal Hunderte Millionen Jahre.

Im Zentrum steht das Gen


Warum ist unser Körper so, wie er ist? Die einfache Antwort lautet: Weil unser Erbgut so ist, wie es ist. Das Genom enthält bekanntlich die Bauanleitung. Und es ist auch so etwas wie der Hauptprozessor unseres Körpers. In ständigem und unauflöslichem Zusammenspiel mit der Umwelt sorgt es dafür, dass unser Körper im Laufe des Lebens bestimmte Merkmale entwickelt – und gegebenenfalls wieder verliert: Geschicklichkeit, ein verführerisches Lächeln, Heuschnupfen, Bluthochdruck, Freude am Sport, Magengeschwüre, eine Blinddarmentzündung, Sommersprossen.

Unser Genom besteht aus 20 000 bis 25 000 Genen. Wir haben sie von unseren Eltern. Die haben sie von ihren – und so weiter. Sie sind uralt. Und alle Menschen haben grundsätzlich die gleichen Gene. Man kann sich nicht irgendwo neue besorgen. Jeder Mensch unterscheidet sich von einem anderen durch rund drei Millionen Punktmutationen, bei denen jeweils nur ein Buchstabe des über 3,2 Milliarden Buchstaben umfassenden genomischen »Textes« ausgetauscht ist. Solche Mutationen entstehen, weil sich beim Kopieren der Gene Fehler einschleichen. Selbst eineiige Zwillinge sind einander zwar sehr ähnlich, aber in ihren Genen nicht absolut identisch. Im Verlauf der Evolution kommt es aber auch zu größeren Veränderungen, wenn etwa ganze Teile des Genoms dupliziert oder vervielfacht werden oder gar verloren gehen. Zudem werden jeweils zwei Sätze des Genoms, nämlich der Satz des Vaters und der der Mutter, bei jeder Verschmelzung von Ei und Samenzelle neu zusammengewürfelt. Die neu entstandene Mischung bildet dann die einzigartige genetische Ausstattung eines neuen Erdenbürgers. Wie man an eineiigen Zwillingen sieht, ist damit die äußere Erscheinung schon ziemlich genau festgelegt.

Viele Merkmale des Körpers und der Körpervorgänge hängen jedoch auch noch davon ab, wie sich im Verlauf des Lebens die Genaktivität in den verschiedenen Organen in Abhängigkeit von Umwelteinflüssen verändert. Dass wir Menschen trotz des ständigen Auftauchens neuer Genvarianten auch sehr viele Gemeinsamkeiten haben, liegt daran, dass aufgrund natürlicher Auslese permanent bestimmte Genvarianten auch wieder verschwinden, meist weil sich diese als nachteilig für Überleben und Fortpflanzung erwiesen haben.

Die Genvarianten sorgen nicht nur dafür, dass jeder von uns ein unverwechselbares Individuum ist. Sie bewirken auch, dass sich äußere Gestalt und ebenso das Innenleben einer Spezies über lange Zeiträume verändern. Stellen Sie sich vor, Sie hielten Ihre Mutter an der Hand, diese wieder ihre eigene Mutter und so weiter. Es würde sich eine lange Menschenkette ergeben. Doch schon nach weniger als zehn Kilometern würde die Reihe in Menschen übergehen, die nicht mehr zu unserer Art, dem Homo sapiens, gehören, nach hundert Kilometern würden Vorfahren auftauchen, die nicht mehr zur Gattung Mensch (Homo) zählen, und nach 300 bis 400 Kilometern würde die Kette in die Baumwipfel führen, und es wären dann eindeutig Affen, die sich an der Hand hielten. Das wäre aber noch lange nicht das Ende der Kette. Einige Tausend Kilometer weiter würden die Hände verschwinden, würden Klauen und Flossen ihren Platz einnehmen. Irgendwann führte alles ins Meer, würde schrumpfen und schrumpeln, bis nur noch Einzeller blieben.

Es sind also die Gene, die, von den Eltern an die Kinder weitergegeben, das Rohmaterial der Evolution darstellen. Sie verändern sich, und mit ihnen verändern sich ihre Träger. Das heißt keineswegs, dass auch für die Medizin die Gene im Zentrum stehen müssen. Unsere Kenntnis der Erbanlagen hilft uns enorm, die Evolution besser zu verstehen. Sie sind aber nicht alles. Um die Vorgänge im Körper zu begreifen und Krankheiten zu heilen, müssen wir ein komplexes Wechselspiel mit vielen Akteuren durchschauen. Die Proteine, die Stoffwechselprodukte, die Zellen, das Zusammenwirken der Körperorgane und die Einflüsse von außen hängen eng miteinander zusammen, und sie sind so kompliziert, dass wir heute noch weit davon entfernt sind, ein komplettes Verständnis davon zu haben. Die Zahl der untersuchten Mosaiksteinchen, die zu diesem Bild beitragen, ist jedoch in den letzten beiden Jahrzehnten so schnell gewachsen, dass es sich lohnt, darüber zu berichten und nachzudenken.

Die feinen Unterschiede


Es sind sowohl die kleinen Beschädigungen und Kopierfehler als auch ganze Verdopplungen des Genoms, die diesen Wandel vom Einzeller zum Menschen bewirkt haben. Sie sind es aber nicht allein. Nicht der bloße Zufall hat den Weg von der Amöbe zum Mensch gebahnt. Der entscheidende Mechanismus der Evolution ist die sogenannte natürliche Auslese. Dabei geschieht Folgendes: Eine Genvariante schafft es – wie auch immer – die Körper, zu deren Entstehen und Funktionieren sie beiträgt, einen Tick besser zu machen. Besser heißt hier: erfolgreicher als die der anderen Individuen derselben Art bei der Fortpflanzung in der jeweiligen Umwelt. Dann wird die Genvariante im Vergleich zu anderen Varianten des gleichen Gens einen Tick häufiger vererbt. Wenn zum Beispiel 100 Individuen, die Träger von Genvariante A sind, insgesamt 250 Nachkommen hervorbringen, während 100 andere, die Variante B haben, nur 220 Kinder bekommen, dann führt das über viele Generationen wie beim Zinseszins dazu, dass die Genvariante A im Vergleich zur Variante B erheblich häufiger vorkommt. Weshalb sich die Träger von Variante A besser vermehren, kann viele Gründe haben – weil sie schneller...

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