Die unerforschte Parallelgesellschaft
Und es handelt sich in der Tat um eine veritable Parallelgesellschaft. Eine richtige, für die sonstige Gesellschaft unangenehme Parallelgesellschaft liegt schließlich nicht bereits dann vor, wenn verschiedene Bevölkerungsgruppen mit unterschiedlichen Interessen und Werten nebeneinander herleben. Sonst würde es sich bereits bei den Fans des BVB und von Bayern München um zwei Parallelgesellschaften handeln. Die unangenehmen und gesellschaftlich gefährlichen Parallelgesellschaften zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich in Ablehnung der allgemeinen gesellschaftlichen Regeln hermetisch von der sonstigen Gesellschaft abschotten.
Den Begriff der Parallelgesellschaft kennen wir eigentlich nur aus der Integrationsdebatte. Wenn ein solcher Begriff aber nicht nur als Schlagwort und politischer Kampfbegriff genutzt werden soll, wenn man diesen Begriff ernst nehmen will, dann sollte man ihn auf alle seiner Definition entsprechenden Parallelgesellschaften anwenden. Und schon eine simple Definition, etwa von Wikipedia, ist für die vorliegende Frage durchaus fruchtbar: »Parallelgesellschaft ist ein politischer Begriff, der eine nicht den wahrgenommenen Regeln und Moralvorstellungen der Mehrheitsgesellschaft entsprechende, von dieser mitunter als ablehnend empfundene gesellschaftliche Selbstorganisation einer Minderheit beschreibt.«[2] Im Folgenden wird sich erweisen, dass sich bei Angehörigen der Gruppe der Superreichen und bei einer zunehmenden Zahl international operierender Großkonzerne, zunächst in den USA, jetzt aber auch in Deutschland, tatsächlich parallelgesellschaftliche Strukturen herausbilden: Man baut sich entgegen dem von der Mehrheitsgesellschaft vorgesehenen Zweck dieser Systeme eigene steuerliche und rechtliche Regeln, und die Selbstorganisation wird sogar delegiert und professionell erledigt von einer Steuervermeidungsindustrie. Das Gefühl der Zugehörigkeit zur Gesamtgesellschaft ist diesen Steuervermeidern in merklichem Umfang verloren gegangen.
Nun kann man Recht natürlich nicht mit Moral gleichsetzen. Noch nicht einmal kann man Rechtsnormen schlicht anhand moralischer Normen überprüfen. Aber: Moralische Vorstellungen stützen das Recht, sie erzeugen Akzeptanz und helfen dabei, es zu verstehen. Es gilt das Diktum des großen Verfassungsrechtlers Ernst-Wolfgang Böckenförde: »Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Anderseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots zu garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und – auf säkularisierter Ebene – in jenen Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen herausgeführt hat.«[3]
Wir alle tragen also eine Verantwortung für das Wirksamwerden der moralischen Substanz des Einzelnen und die Homogenität, den Zusammenhalt der Gesellschaft. Und umgekehrt speist sich daraus das Steuerrecht, moralische Werte gehen in es ein, die noch weiter zu erwähnen sein werden: Belastungsgerechtigkeit (die Stärkeren müssen mehr tragen als die Schwächeren), Regelgerechtigkeit (dieselben steuerlichen Regeln müssen für alle gelten), Chancengerechtigkeit (vorwiegend zu verstehen als Zweck des Steuerrechts, in staatlich finanzierten Systemen, insbesondere im Bildungssystem, die gleichen Chancen aller zu gewährleisten).
Machen wir doch einmal die Probe aufs Exempel – gedanklich: Wer kapselt sich reflexartig ab? Und wer nicht?
Wer meint, dass es sich bei allen Familien mit Kopftuchträgerinnen um Angehörige einer Parallelgesellschaft handelt, soll doch nur einmal seinen türkischstämmigen Nachbarn von dem Wohlgeschmack von içli köfte (Fleischbällchen gefüllt mit Reis) oder imam bay?ldi (gefüllte Auberginen, übersetzt: Der Imam fiel in Ohnmacht) fachkundig und interessiert vorschwärmen. Die Chance ist groß, dass er demnächst von seinen Nachbarn zum Essen eingeladen wird. Angesichts der besonderen Rücksichtnahme auf schwangere Frauen in diesem Kulturkreis wird es für die werdende Mutter bereits ausreichen, mit geweiteten Nasenflügeln und verträumtem Blick vor der Tür ihrer türkischstämmigen Nachbarn zu stehen. Es ist dann religiöse Pflicht, ihr von dem köstlichen Essen eine satte Portion in ihre Wohnung zu bringen. Eine Parallelgesellschaft, die sich hermetisch abschirmt? Wohl kaum. Dafür sprechen auch die Erfahrungen von sozialen Helfern in typischen sozialen Brennpunkten. Demnach repräsentieren dort nämlich häufig die Türkischstämmigen die Mitte der Gesellschaft, der Rest die Parallelgesellschaft. Wenn sich dort noch Eltern in der Schule engagieren, Interesse an Bildung zeigen oder zu Hause ein geordnetes Familienleben führen, dann sind das solche mit Migrationshintergrund. Eine Ablehnung gesellschaftlich geteilter Moralvorstellungen und eine durchgängig abgrenzende Selbstorganisation sind da nur in Ausnahmefällen zu entdecken.
In Statistiken zu Steuerlast und Einkommensverteilung beginnt die Gruppe der Höchstverdiener bei einem zu versteuernden Einkommen von über 200000 Euro im Jahr. Nehmen wir also einen solchen Ü200er im unteren Bereich: den Zahnarzt oder den Notar in einer kleinen Großstadt. Letzterer wird sich kaum einer Einladung zum Grillen in der Nachbarschaft verweigern, und zwar ganz ohne auf den sozialen Status der Gastgeber zu schauen. Dies allein deshalb, weil sich so mancher derartige Notar in der einen oder anderen Weise in die Kommunalpolitik einbringt. Wer seinem Zahnarzt oder – wie ich es einmal gemacht habe – seinem Mandanten, der auch zu den unteren Ü200ern gehörte, fachkundig von der open-deck-Bauweise des Motors oder den Monoblock-Festsattelbremsen eines Porsche erzählt, mag ohne weiteres zu einer Spritztour im 911er Cabrio oder im Turbo eingeladen werden. Versuchen Sie das aber einmal bei einem Ü2Mioner. Da können Sie vermutlich lange von den Unterschieden zwischen einem Volvo-Penta-Motor und einem Cummins-MerCruiser-Antrieb fachsimpeln, Ihre Bootstouren werden sich auch in diesem Sommer auf die Leihruderboote am Baggersee beschränken. Auch in die Politik, in unsere gemeinsame, meist ehrenamtliche Gestaltung der Gesellschaft, bringen sich solche Leute nicht ein.[4] Mir persönlich jedenfalls ist in langjähriger politischer ehrenamtlicher Tätigkeit noch kein Ü2Mioner in Kommunal-, Landes- oder Bundespolitik untergekommen. Bestenfalls spendet er oder sie einmal. Zur Sicherheit an mehrere Parteien. Gerne auch gestückelt, um die meldepflichtigen Grenzen zu unterschreiten.
Der einzige öffentlich diskutierte Fall eines sehr gut verdienenden Politikers ist die Causa Peer Steinbrück. Da seine Nebeneinkünfte 2009 bis Ende 2012 2 Millionen Euro betragen haben sollen,[5] wird er zusammen mit seinen Einnahmen aus der Politik vielleicht in einzelnen guten Jahren an die Millionengrenze herangekommen sein. Die Debatte war insofern äußerst unvollständig, als sich die Diskussion an den Einkünften als solchen entzündet hat. Dabei ist es schon äußerst fraglich, ob man aus hohen Einkünften per se einem Politiker einen Vorwurf machen kann bzw. ob man dies überhaupt zum Thema erheben sollte. Interessanter zu wissen wäre doch gewesen, welche Steuern Peer Steinbrück auf die Einkünfte gezahlt hat. Hätte er kräftig Steuern gezahlt, hätte die Allgemeinheit angemessen von seiner Selbstvermarktung profitiert. Im umgekehrten Falle erst wäre die Sache in die Nähe eines Skandals gerückt. Es ist schon merkwürdig, dass der an sich neutrale Umstand der Einkommenshöhe von solchem Interesse ist, die politisch viel wichtigere Frage nach dem steuerlichen Verhalten dagegen in eine Tabuzone fällt. Da kann auch die Haltung des Bundestages nicht überzeugen, Nebeneinkünfte in zehn Stufen offenzulegen, nicht aber deren Versteuerung.[6] Und unbefriedigend ist es auch, die Stufenleiter bei »über 250000 Euro« enden zu lassen. Die Politik sollte mit gutem Beispiel vorangehen, die gezahlte Steuerquote offenlegen und zeigen, dass primär dies die Allgemeinheit interessieren sollte.
Zur gleichen Zeit wie die Steinbrück-Debatte ist man in den USA viel sinnvoller mit der Sache umgegangen. Nachdem im letzten Präsidentschaftswahlkampf Obama vs. Romney Letzterer mit einer seiner vielen ungeschickten Bemerkungen die Vorlage dazu gegeben hatte, hat er seine Einkünfte für 2010 und 2011 offengelegt, nebst darauf entfallender Steuerquote.[7] In den USA gehen auch die Reichen in die Politik: Romney verdiente 2010 bzw. 2011 etwa 21 Millionen Dollar bzw. 13,7 Millionen Dollar und zahlte 13,9 % bzw. 14,1 % Steuern darauf. Obama im Übrigen verdiente 2011 etwa 790000 Dollar und zahlte 20,5 % Steuern.[8] Zur Einschätzung der Zahlen muss man wissen, dass die Einkommenssteuerbelastung in den USA niedriger als in Deutschland ist, mit einem Spitzensteuersatz von 35 % und...