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Die stille Revolution

Wie Algorithmen Wissen, Arbeit, Öffentlichkeit und Politik verändern, ohne dabei viel Lärm zu machen

AutorMercedes Bunz
VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl169 Seiten
ISBN9783518760604
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
Dass sich vor unser aller Augen eine dramatische Veränderung vollzieht, zeigen schon die Anglizismen, die sich in unserer Sprache eingenistet haben: Wir mailen, googeln, skypen und twittern. Die digitale Revolution, so die These von Mercedes Bunz, könnte ebenso dramatische Folgen haben wie die industrielle im 19. Jahrhundert. Die Software »Pudding« beispielsweise ist in der Lage, mittels Spracherkennung während eines Telefongesprächs Hintergrundinformationen zu liefern. Das Programm »Stats Monkey« verfasst bereits selbständig Sportreportagen. So wie die Maschinen damals die Tätigkeit der Arbeiter veränderten, verändern nun die Algorithmen den professionellen Alltag der Mittelschicht.

<p>Mercedes Bunz promovierte bei Joseph Vogl über die Geschichte des Internets und gilt als Vordenkerin der Digitalisierung. Sie war Chefredakteurin von <em>Tagesspiegel Online</em> und Technologiereporterin des <em>Guardian</em>. 2010 wurde sie mit dem Deutschen Fachjournalistenpreis ausgezeichnet. </p>

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Leseprobe

Wem vertraut man als Erstes sein Krankheitssymptom an,
dem Arzt oder dem Internet? Ist es im Beruf besser,
auf dem neuesten Entwicklungsstand zu sein, oder wichtiger,
kommende Veränderungen abschätzen zu können?
Und kann man seinen Job heute überhaupt noch »meistern«?

2 Ersetzt die Automatisierung des Wissens den Experten?

Wissen und Informationen sind die entscheidenden Produktionsfaktoren in der postindustriellen Gesellschaft: Ob nun Universitätsprofessoren oder Geschäftsführer, Küchenchefs oder Automechaniker, Journalisten oder Politiker, Wissenschaftler oder Kriminelle – wir alle begreifen uns als Experten, als Kenner, die über ein bestimmtes Wissen verfügen, das uns von anderen unterscheidet. Gefährdet die Digitalisierung des Wissens diese Rolle? Werden wir uns in Zukunft nicht mehr über unser spezielles Wissen definieren können? Und wenn dem so sein sollte, was machen wir dann? Schließlich ist die Expertenrolle die einzige, die uns die Industrialisierung gelassen hat: Wie die gut informierten, poetischen Dokumentarfilme Harun Farockis zeigen, hat der technische Fortschritt die Industrieanlagen von Menschen bereinigt und die Arbeiter haben die Fabriken verlassen. Jetzt erleiden die Maschinen den Lärm, die Monotonie, die Hitze und all die anderen ungesunden Arbeitsbedingungen. Physische Arbeitskraft, das Beherrschen bestimmter Handgriffe und Arbeitsabläufe, die Handarbeit oder auch der letzte Feinschliff, all das ist zwar nicht vollkommen vom Arbeitsplatz verschwunden, aber nicht mehr von zentraler Bedeutung. Die meisten Produktionsabläufe vollziehen sich ohne menschliche Eingriffe. Auf den Fließbändern tanzen die Objekte nun alleine und werden nur ab und an von menschlichen Besuchern gestört, die einen prüfenden Blick auf sie werfen, um nachzusehen, ob auch alles seine Ordnung hat. Wir Menschen sind aus den Industrieanlagen ausgewandert. Während die Maschinen die Produktion übernommen haben, arbeiten wir im Informations- oder Dienstleistungssektor. Wir konzentrieren uns auf Bereiche wie Tourismus und Transport, Erziehung und Gesundheit, Technologie und Biowissenschaften, Banken- und Finanzwesen, Verkauf und Vertrieb, auf das Recht, den Kulturbetrieb oder die Unterhaltungsbranche. Mit anderen Worten: Wir produzieren immaterielle Güter. Dabei ist unsere Arbeit oft nicht mehr auf ein konkretes Endprodukt ausgerichtet, vielmehr handelt es sich um Prozesse oder Projekte. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts liegt der Anteil der Arbeitsplätze in der immateriellen Produktion bei 70 Prozent, während der industrielle Sektor nur noch ein Viertel ausmacht. Nachdem die Roboter das einstige Zugpferd der modernen Wirtschaft übernommen haben, formiert diese sich nun um eine andere Art von Gütern, eine, die auf Wissen basiert: Dienstleistungen. In der Soziologie beginnt man Anfang der siebziger Jahre – Daniel Bells Buch The Coming of Post-Industrial Society1 erscheint 1973 – von der postindustriellen Gesellschaft zu sprechen, und postindustriell ist sie bis heute geblieben: Detaillierte Zahlen der Weltbank für 2008 zeigen, dass in Deutschland 68 Prozent der Arbeitsplätze im immateriellen Sektor zu finden sind, in Großbritannien sind es 77 Prozent, in den USA gar 86. In Schweden liegt der Anteil bei 76 Prozent, in unserem Nachbarland Frankreich bei 73 Prozent. Auch südeuropäische Länder wie Spanien haben mit 68 Prozent aufgeholt, und selbst in Russland sind 62 Prozent der arbeitenden Bevölkerung im Dienstleistungssektor tätig. Die Landwirtschaft ist dagegen mit zwei bis vier Prozent als Arbeitsplatzgenerator in all diesen Ländern weit abgeschlagen. Was man ehemals als tertiären Sektor bezeichnete, ist zum immateriellen Treibstoff der westlichen Ökonomien geworden: Anstatt ihrer physischen Arbeitskraft bringen die Angehörigen der gut ausgebildeten Mittelschicht heutzutage ihre Expertise mit an den Arbeitsplatz.

Diese neue Art der Arbeit verlangt neue Investitionen und neue Strukturen: Um uns unsere Expertise anzueignen, machen wir eine Ausbildung, für die wir vielleicht sogar bezahlen müssen. Viele von uns haben eine Lehre oder ein Studium mit wahrscheinlich gleich mehreren Praktika absolviert. Dabei haben wir einen Einblick in moderne Hierarchien und Arbeitsabläufe erhalten, während wir den Drucker oder den Kopierer bedienen mussten, die zeitgenössischen Äquivalente des Kaffeekochens und Aktenordnersortierens. Aber auch die Logik der Büroarbeit selbst hat sich grundlegend verändert: Es geht nicht länger darum, Routineprozeduren zu überwachen und im Kostümchen oder Anzug irgendwelche Daten möglichst effizient zu verwalten. Heute gilt es, auf kreative Weise das Kommunikationsnetzwerk zu managen: Input muss abgefragt und an den richtigen Stellen dynamisch durch eine komplexe Struktur von Teams, Projekten und Problemen geschleust werden. Trotzdem scheint die neue Kreativität, die in den rationalen Büroalltag Einzug hält, in den Augen vieler vor allem negative Folgen zu haben:
Im Zuge dieser Entwicklungen werden immer größere Teile unserer selbst und unserer Fähigkeiten zu Ressourcen für die Arbeitswelt. Zumindest schreiben Autoren aus aller Herren Länder – Richard Florida, Luc Boltanski, Ève Chiapello, Franco Berardi, Maurizio Lazzarato, Antonio Negri, Michael Hardt, Tiziana Terranova2 – über den »Aufstieg der kreativen Klasse« und kritisieren, dass heute die Seele zur Arbeit geschickt wird. Wir leben, sagen sie, von der immateriellen Arbeit, die wir als Wissensarbeiter verrichten: Unsere Wirtschaft basiert also nicht länger auf der physischen Arbeitskraft der Arbeiter, sondern auf den intellektuellen Fähigkeiten der neuen kreativen Klasse. Ähnlich wie die Arbeiter im Zeitalter der Industrialisierung durch die Automatisierung ihrer Arbeit ihre einzige Einkommensquelle gefährdet sahen, werden diese Qualifikationen und Rollen, die wir uns durch lange Ausbildungen und harte Arbeit angeeignet haben, nun durch Algorithmen infrage gestellt. Sie haben nicht nur gelernt, Zusammenfassungen zu schreiben, auch das Wissen, das früher als exklusives Gut bestimmten Personenkreisen und Schichten vorbehalten war, ist nun im Überfluss vorhanden und allen zugänglich. Beinahe überall lässt sich beinahe alles online abfragen, inklusive der fünf wichtigsten Tipps, wie man sich in Bürohierarchien verhalten sollte. In der digitalen Gesellschaft sind Experten also nicht mehr die Einzigen, die etwas besser wissen. Ihre Autorität wird angegriffen, sie droht, von einem vielstimmigen Chor überstimmt zu werden. Die Wertschätzung für den Experten beruhte auf einer Knappheit des Wissens, die noch aus dem Gutenberg-Zeitalter stammte. Heute leben wir hingegen unter den Bedingungen einer permanenten Informationsüberflutung: Wir Experten versinken unter der haushohen Welle an Informationen, die vom Beben der Digitalisierung ausgelöst wurde. Zwar gibt es nicht unbedingt mehr Wissen als früher, doch das Individuum hat heute einen wesentlich effizienteren Zugriff auf Informationen. Oder um es noch einmal anders zu sagen: Die Welt insgesamt ist keineswegs aufgeklärter als früher, doch stehen den einzelnen Menschen heute mehr Möglichkeiten offen, sich zu informieren und sich Wissen anzueignen. Allerdings sind sie ob dieser neuen Entwicklungen – das tun sie in unzähligen Podiumsdiskussionen, Fernsehkommentaren, Artikeln und Gesprächen kund – nicht unbedingt erfreut. Viele sehen ihre Stellung oder gleich ihre gesamte Berufssparte bedroht, andere wähnen in der neuen Verfügbarkeit von Wissen enorme Risiken verborgen.

Analysieren wir also noch einmal genauer die Veränderung des Wissens und seine digitale Neuordnung: Informationen überziehen, so haben wir im ersten Kapitel gesehen, unsere Welt; wo auch immer wir uns befinden, kann Wissen bei Bedarf aktiviert werden. Täuscht der Eindruck, oder beeinträchtigt das Überangebot allmählich wirklich die Nachfrage? Untergräbt die ständige Verfügbarkeit die Autorität des Experten? Kann Wissen im Zeitalter seines Überflusses überhaupt noch Macht sein? In den letzten Jahrhunderten wurde Wissen immer wieder mit Macht und Autorität in Verbindung gebracht. Mit seinen Studien hat uns Michel Foucault dabei geholfen, zu verstehen, auf welch vielfältigen, komplexen, erstaunlichen und alarmierenden Wegen Macht und Wissen ineinandergreifen und wie das Wissen die Macht stützt (und umgekehrt): Die Wissenschaften entscheiden bis heute mit über die Inklusion und Exklusion von Menschen; statistisches Wissen ermöglicht es Regierungen und Unternehmen, die Bevölkerung zu steuern; medizinisches Wissen bestimmt über Leben, Tod und Wahn, um nur einige Beispiele zu nennen.3 Wissen begründet soziale Hierarchien, allerdings lassen sich diese mit seiner Hilfe auch transformieren, kurz: Wissen befeuert die Macht des Diskurses. Diese Macht wird in unseren Gesellschaften von Experten ausgeübt, die ihre Autorität darauf gründen, die Fakten zu kennen und am Diskurs näher dran zu sein als andere – eine Form der Autorität, die natürlich ins Wanken gerät, weil das Internet nun Wissen und Expertise für alle...

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