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Die Strafjustiz in Mainz und Frankfurt/M. 1796 - 1803

Unter besonderer Berücksichtigung des Verfahrens gegen den Serienstraftäter Johannes Bückler, genannt Schinderhannes, 1802/03.

AutorDr. Dr. Mark Scheibe
VerlagStiftung Historische Kommission für die Rheinlande 1789 - 1815
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl334 Seiten
ISBN9783981783117
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis23,99 EUR
Am 21.11.1803 endete die kriminelle Karriere des berüchtigten Serien-straftäters Schinderhannes unter der Mainzer Guillotine. Von der Presse war er bald als deutscher Baron, bald als Freiheitskämpfer an der Spitze von 600 Aufständischen oder als Räuberhauptmann mit 1.000 Gefolgs-leuten tituliert. Das eigens zu seiner Verurteilung eingerichtete Tribunal criminel spécial konnte nichts von alledem feststellen: Vor sich hatte es 'nur' einen Dieb, Erpresser und Räuber. Selbst die heute so oft genannte Schinderhannes-Bande gab es nicht. In dem vorliegenden Buch wird zum einen die Strafakte Schinderhannes einer vollständigen Bearbeitung unterzogen ? erstmals seit dem Prozeß vor über 200 Jahren. Zum anderen dient der Fall der Aufarbeitung der Strafjustiz von Mainz und Frankfurt, als der Rhein zur Grenze zwischen dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation und dem revolutionären Frankreich wurde. Beide Städte waren zu dieser Zeit auch die Zentren, um die sich die Aktivitäten des bekannten Straftäters abspielten. Es werden die Strafgerichtsbarkeit in Aufbau und Verfahren detailliert beschrieben und die Praxis der Gerichte durch die Aufarbeitung aller 1.080 Aktenvorgänge beleuchtet. Damit entsteht nicht nur ein bisher unbekanntes Bild von der Kriminalität im Rhein-Main-Gebiet zur Zeit des Schinderhannes, sondern es werden auch die Unterschiede zwischen den Strafrechtssystemen der beiden Städte deutlich. So war in Frankfurt noch das alte deutsche Inquisitionsgericht tätig, währenddessen in Mainz bereits der reformierte Prozeß, Grundlage für unser heutiges deutsches Strafrecht, eingeführt worden war.

Mark Scheibe, Jahrgang 1972, promovierter Jurist mit den Forschungsschwerpunkten Unterschichtenkultur und Strafjustiz am Rhein zur Zeit der Französischen Revolution und Napoleons. Die gedruckten Akten zu dem bekanntesten rheinischen Gauner Johannes Bückler, genannt Schinderhannes, hatte Scheibe bereits für den gleichnamigen studentischen Spielfilm (1993-2000) verwertet. Seiner Dissertation 'Die Strafjustiz in Mainz und Frankfurt/Main 1796-1803 unter besonderer Berücksichtigung des Verfahrens gegen den Serienstraftäter Johannes Bückler, genannt Schinderhannes (1802/03), folgte die umfangreiche Biographie Bücklers 'Schinderhannes - Nichtsnutz, Pferdedieb, Räuberhauptmann?' (6. erweiterte Auflage 2015), laut Frankfurter Rundschau das 'Standardwerk' zu dieser Person. Scheibe ist ehrenamtlicher Treuhänder und Leiter der 2011 gegründeten Stiftung Historische Kommission für die Rheinlande 1789-1815.

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Leseprobe

I. Johannes Bückler, genannt Schinderhannes


Der heute so berüchtigte Räuber Schinderhannes ist unzweifelhaft der am besten dokumentierte Straftäter des Untersuchungszeitraums.26 Leider fehlte es bislang an einer Auswertung des vollständigen Quellenmaterials, so daß die tatsächliche Person und ihre Straftaten nur unzureichend aufgearbeitet worden waren.

In den folgenden beiden Abschnitten werden deshalb die Person, die kriminelle Karriere und der Mythos des Straftäters unter Berücksichtigung der heute bekannten zeitgenössischen Dokumente aufgearbeitet.

Es ist erstaunlich, daß die Strafakten trotz der Bekanntheit dieser Person seit ihrem Tod vor über 200 Jahren niemals von juristischer Seite aus begutachtet wurden. Ebenso fehlte es bislang auch an einer kritischen Betrachtung der Quellen, bei der man die zahlreichen, oft widersprüchlichen Angaben miteinander verglichen hätte. Eine entsprechende Untersuchung hat in der vorliegenden Arbeit stattgefunden. Dazu wurden aber nicht nur die bekannten Dokumente miteinbezogen, sondern auch bisher unbekannte historische Schriftbelege verwendet, die erst während dieser Untersuchung gefunden wurden. So konnte das Bild des Johannes Bückler wesentlich erweitert werden.

Bückler hat die Kriminalität des Untersuchungszeitraums keinesfalls dominiert.27 Fest steht jedoch, daß Presse und Politik seinen Namen insoweit in den Vordergrund gerückt haben, daß er bereits zu Lebzeiten von einem Mythos umgeben war, der bis heute Bestand hat. Dieser Mythos deckt sich zu einem großen Teil nicht mit der historischen Person des Räubers. Um diesbezüglich mehr Klarheit zu gewinnen, ist die Aufarbeitung dieses Mythos Gegenstand des zweiten Abschnitts dieses Kapitels. Schinderhannes’ Ruf ist aber auch im Rahmen dieser rechtsgeschichtlichen Untersuchung von Bedeutung, hat er doch offenbar wesentlich zur Errichtung des Sonderstrafgerichtes in Mainz beigetragen, durch dessen Urteil der Verbrecher unter die Guillotine geführt wurde.

Die in den folgenden Abschnitt 1 eingefügten Zusammenfassungen und Grafiken zu den Straftaten Bücklers entstammen den für diese Untersuchung erarbeiteten und im Anhang enthaltenen Listen (siehe ab S.261).

1. Lebenslauf und Straftaten


Johannes Bückler kam offenbar im Herbst 1779 bei Nastätten (Taunus) zur Welt.28 Sein Vater arbeitete als Scharfrichterknecht, Abdecker (Schinder), Feldschütz und zuletzt als Bauer29, womit dessen Familie im ständisch geprägten Deutschland auf der damals sozial niedrigsten Stufe innerhalb der sogenannten unehrlichen, also unsauberen bzw. unlauteren Berufe stand.30

Der junge Bückler verbrachte die ersten vier Lebensjahre in Miehlen bei Nastätten (Taunus), bis die Familie wegen eines Leinwanddiebstahls 1783 fliehen mußte31 und bettelnd32 bis nach Ölmütz in Mähren zog, wo sich der Vater als Soldat anwerben ließ.33 Als der Sohn neun Jahre alt war, desertierte der Vater und zog mit seiner Familie nach Merzweiler in den Hunsrück.34

In dieser Gegend verbrachte Johannes Bückler seine Jugend- und Lehrjahre. Hier lag auch wahrscheinlich der Beginn seiner kriminellen Karriere, die vermutlich kurz vor seinem 16. Geburtstag begann:35 Nachdem er wohl im Sommer 1795 mit einem Kameraden in Veitsrodt von dem dortigen Wirt Koch mit dem Auftrag, Branntwein zu holen, einen Louisd’or erhalten hatte, gaben die beiden Jungen das Geld für Essen und Trinken in Gasthäusern aus. Da „ich gerechte Züchtigung für diesen Fehler fürchtete, wagte ichs nicht nach Haus zurükzukehren.“ Auf seiner nun folgenden Wanderschaft lernte er zahlreiches „liederliches Gesindel“ kennen, „das ihnen mit der ihm eigenen Beredsamkeit und munteren Laune erzählte, wie leicht ihm sein Erwerb und sein Fortkommen werde. Ein solches Leben behagte ihnen (…).“36 „Ich irrte dann in der Gegend herum, und der gänzliche Mangel an Lebensmittel veranlaßte mich den ersten Raub37 zu begehen (…)“:38 Gemeinsam mit einem Kumpan stahl er ein Pferd aus einem Stall, das er anschließend verkaufte. Anschließend kehrte Bückler für kurze Zeit in das bürgerliche Leben zurück.39

Nach zwei begonnenen und abgebrochenen Lehrzeiten bei Wasenmeistern (zu deren Aufgaben im Untersuchungszeitraum die Beseitigung von Tierkadavern, die Heilung kranken Viehs und einfache Barbierdienste gehörten) erhielt der 16jährige Bückler zusammen mit einigen Kameraden die Aufgabe, Proviantwagen des französischen Militärs zu bewachen.40 Die Burschen verkauften jedoch die Lebensmittel an die Bauern der Umgebung. Das Militär entdeckte ihre Tat, so daß der junge Bückler in die Wälder fliehen mußte. Die kurz darauf begonnene Fortsetzung seiner Lehre wurde durch einen Arrest beendet. Es hatte sich herausgestellt, daß er mehrfach heimlich Viehdiebstähle unternommen hatte.41 Aus der Zeit zwischen 1796 und Anfang 1799 sind von Bückler alleine 38 Vieh- und Pferdediebstähle (und einige andere Warendiebstähle) bekannt, wobei er in Begleitung erfahrenerer Diebe in Ställe einstieg, ohne Kontakt zu den Hausbewohnern zu haben. Motivation seines Handelns war dabei unter anderem auch „die Aussicht auf ein frohes lustiges Leben, und die geringe Bedeutung von (Vieh-)diebstählen.“42 In der Folge dieser Diebstähle kam jedoch auch ein räuberischer Einbruch in Gemeinschaft mehrerer Mittäter. Zudem wurde er später als Teilnehmer oder Mittäter an dem Totschlag des Plackenklos sowie an dem Mord des Juden Seligmann überführt, die in diesen Zeitraum fielen.43 Abb.1a (folgende Seite) zeigt hier die deutliche Dominanz der Diebstähle gegenüber den übrigen Delikten, die er von Beginn seiner kriminellen Karriere 1795 bis zu seinem Gefängnisaufenthalt in Simmern 1799 beging.

Abb.1a: Verteilung der Straftaten Bücklers im Zeitraum 1795 bis zur Inhaftierung in Simmern, Februar 179944

Dieser Zeitabschnitt bis zu seiner Inhaftierung in Simmern war auch gekennzeichnet durch den Beginn der Einrichtung der französischen Verwaltung in den Frankreich zugesprochenen linksrheinischen Gebieten.45 Da Frankreich aber offenbar nicht genug Militär zur Verfügung hatte, um der steigenden Kriminalität durch Vagabunden Herr zu werden, beauftragte man zunächst 300 pfälzische Jäger mit der Räuberjagd.46 Die kurze Zeit darauf eingerichtete französische Nationalgendarmerie verzeichnete einen monatlichen Fang von durchschnittlich etwa 130 Vagabunden und gesuchten Straftätern je Departement.47 Die steigende Polizeipräsenz führte zu Bücklers Haft in Simmern, die von Februar bis August 1799 dauerte.48

Der Aufenthalt im Turm zu Simmern bedeutete einen Wendepunkt in seiner kriminellen Karriere. „Die Behandlung zu Simmern hatte ihn höchst erbittert, und bei ihm den Gedanken erregt, nicht mehr bloß Pferde zu stehlen, sondern größere Unternehmungen zu wagen, wo man ihm, im Fall man ihn auch bekommen, doch nicht ärger strafen könne.“49 Nach seiner Flucht50 „wandte (er) sich vom Pferdediebstahl ab, da die Konkurrenz zu groß wurde und der Gewinn schwand.“51 Bückler ging nun mehrheitlich zu Erpressungen, räuberischen Erpressungen, bewaffneten Raubüberfällen und räuberischen Einbrüchen über, die er zumeist in Gemeinschaft von durchschnittlich fünf, zumeist wechselnden Mittätern verübte. Bis zu seiner endgültigen Inhaftnahme Ende Mai 1802 beging Bückler mindestens 69 Straftaten dieser Art.52

Abb.1b verdeutlicht den Sinneswandel, den Bückler nach seiner Flucht aus Simmern durchlief.

Abb.1b: Verteilung der Straftaten Bücklers im Zeitraum November 1799 bis zu seiner letzten Gefangennahme, Mai 180253,54

Insgesamt sind heute 93 Mittäter des berüchtigten Räubers bekannt. Dessen Mittäter entstammten fast alle – wie er selbst – dem „unehrlichen“ Stand55 (zu dem Begriff siehe S.61 ff.). Diese Feststellung ist insofern von Interesse, da die in dieser Arbeit untersuchte Kriminalität unter besonderer Berücksichtigung des damaligen Gesellschaftssystems erfolgt (Kapitel II, S.44 ff.). Der starke Zusammenhalt und die Abgrenzung des unehrlichen Standes gegenüber den bürgerlichen Ständen waren sicherlich Gründe, warum die Justiz Bückler trotz seines steigenden Bekanntheitsgrades über eine Dauer von drei Jahren nicht habhaft werden konnte. Viele der Mittäter waren freiwillig oder erzwungenermaßen zu einem vagierenden Leben übergegangen. Einige von ihnen standen als Juden oder Zigeuner (zu dieser Bezeichnung siehe die Erläuterung auf Fn.380) von...

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