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Die Tour de France - Ein französischer Mythos?

Mythenelemente der Tour-de-France-Geschichte und ihre Überlebensfähigkeit trotz Doping

AutorMichael Pehle
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2010
Seitenanzahl82 Seiten
ISBN9783640644933
FormatePUB/PDF
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis24,99 EUR
Magisterarbeit aus dem Jahr 2008 im Fachbereich Romanistik - Französisch - Landeskunde / Kultur, Note: 1,0, Technische Universität Dresden (Fakultät Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften - Institut für Romanistik), Sprache: Deutsch, Abstract: Doping, Dopage! Jedes Jahr ein neuer Dopingskandal, doch die Tour de France lebt weiter. Warum? Weil sie ein Mythos ist! Die Fahrer sind Helden, die Streckenführung ist eine Bildungs- und Entdeckungsreise mit ständigen Verweisen auf die französische und europäische Geschichte. Die modernen Nationen bedürfen Mythen für ihre Identität, gerade die französische Republik nutzt diese seit ihren Anfängen. Die Tour de France bedient sich eben dieser Mythen und erschafft und vermarktet auf dieser Basis ihren eigenen Sportmythos, trotz immer neuer Skandale. Mit den Methoden der Mythenforscher Ernst Cassirer, Kurt Hübner und Roland Barthes enttarnt der Autor den Mythos Tour de France in der Erschaffung seiner eigenen Mythenelemente und der besonderen Entwicklungsmöglichkeit im 'mythophilen' Frankreich durch das Spielen mit dessen eigenen nationalen Mythen. Im Anschluss wird die Bedeutung der Tour innerhalb und außerhalb Frankreichs erörtert, die Entwicklung zu einem weltweiten Sportmythos untersucht und Thesen über dessen Zukunft im Hinblick auf immer neue Dopingvorwürfe aufgestellt.

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Leseprobe

3 Die Tour de France – ein Mythos


 

Nachdem im vorherigen Kapitel exemplarisch an den Gründungsmythen einzelne Mythostheorien und die Mythenfreudigkeit der französischen Gesellschaft belegt wurden, wird nun das größte Radrennen der Welt in den Vordergrund gerückt. Die Tour de France wird mit den Theorien von Cassirer, Hübner und Barthes auf ihren Charakter als Mythos hin untersucht. Hinter der gesamten Betrachtung steht die These, dass die Tour de France einen Mythos darstellt. Diese These soll anhand der im ersten Kapitel vorgestellten Theorien analog zu den Gründungsmythen belegt werden.

 

3.1 Gesellschaftliche Rahmenbedingungen für die Tour de France nach der Niederlage 1870


 


Die Tour de France entstand nicht ohne Vorgeschichte, sondern wurde von vielen Begleitumständen, vor allem der aufkommenden Industrialisierung und der Niederlagenstimmung in Frankreich nach dem Krieg 1870/71 begünstigt.

 

 Nach dem Zusammenbruch des zweiten Empire mit der Niederlage im Preußisch-Französischen Krieg und der unmittelbaren Gründung der dritten Republik unter Adolphe Thiers begann für Frankreich ein oft unterschätzter wirtschaftlicher Aufschwung. Die beginnende Industrialisierung, verbunden mit der Einrichtung von zahlreichen Grundschulen in den ländlichen Regionen, gab den Franzosen ein neues Selbstbewusstsein, das sie in den Weltausstellungen 1878, 1889 und 1900 stolz präsentierten. Der Eiffelturm, die Métro, die Eröffnung der Supermarktkette Bon Marché, sowie ein nationales Briefzustellsystem, ermöglicht durch ein umfassendes Eisenbahnnetz sind nur einige der Fortschrittsmerkmale. Mit der Einführung der Massenproduktion wurde eine Reduzierung der wöchentlichen Arbeitszeit möglich und zumindest Teile der Arbeiterklasse und der Angestellten konnten sich auch der bis dahin den Reichen vorbehaltenen Freizeitgestaltung zuwenden. Dabei bekam der Sport eine immer stärkere Bedeutung, sah man körperliche Ertüchtigung doch als Möglichkeit zur nationalen Regeneration, als Antwort auf die militärische Schwäche und demographische Stagnation. Und neben den aufsteigenden Sportarten Rugby, Fußball, Boxen und Tennis fesselte keine andere die Franzosen so wie das Radfahren.[50]

 

Eine Einführung in die Geschichte des Fahrrads, die eng mit der der Tour de France verknüpft ist, bietet Joachim Krause im Ausstellungskatalog Absolut modern sein, von 1986[51]. Nach den wegweisenden Vorerfindungen von de Sivrac 1791 und de Drais 1817 vollzogen Pierre und sein Sohn Ernest Michaux den entscheidenden Schritt vom Lauf- zum Fahrrad durch die Entwicklung der Tretkurbel. Mit der Präsentation seines nach und nach verbesserten Entwurfs 1867 auf der Weltausstellung in Paris begann eine Nachfrage, die Michaux alleine nicht mehr bewältigen konnte, so dass mehrere kleinere Firmen entstanden, auch wenn diese es in der Menge der produzierten Fahrräder nicht mit den Michaux’ aufnehmen konnten. Die neuen Methoden der Asphaltindustrie ab 1832 begünstigten zudem die Verbreitung und Begeisterung für das neuartige Gefährt vor allem in Paris. Im Frankreich außerhalb der Metropole hielt sich der Enthusiasmus jedoch noch stark in Grenzen.[52] Dies lag vor allem an den unterschiedlichen demographischen Verhältnissen. War die Landbevölkerung zumeist noch tief in Traditionen verwurzelt und stand neuer Technik eher ablehnend gegenüber, so war die reiche Oberschicht Paris’ ganz versessen darauf, ihre technologische Offenheit durch die Präsentation auf einem Fahrrad zu zeigen. Ein weiterer Faktor war der Preis eines Fahrrads. Erst ab 1890 mit der Einführung der Massenproduktion bot die Firma Hirondelle mehrere Modelle an, die von dem model démocratique für Arbeiter und Handwerker für den Preis von 185 Francs bis zu top-class Modellen für die Oberschicht reichten. Selbst arme Arbeiter, die weniger als 5 Francs am Tag verdienten konnten sich so ab 1909 gebrauchte Fahrräder für 50 Francs leisten.[53] Das Fahrrad wurde zum Inbegriff des Fortschritts.

 

 In Verbindung mit der größeren Freizeit der Arbeiter und Angestellten, sowie der wachsenden Begeisterung für die sportliche Betätigung entstanden die ersten Radrennen. Die erste Veranstaltung war eher eine Geschicklichkeitsübung, die course de lenteur 1896 in Thann, in dem der Gewinner 80 Meter so langsam wie möglich zurücklegen musste. Mit Paris-Rouen am 7. November 1869 startete nun erstmalig ein Geschwindigkeitsrennen, dessen Gewinner der Brite James Moore war. Die Prototypen der Radrennen verbanden Städte über Distanzen zwischen 30 und 500 Kilometern. Charles Terront war der erste Star des Radsports, er gewann im September 1891 das Rennen Paris-Brest-Paris,  das heißt insgesamt 1.200 Kilometer in 71 Stunden und 35 Minuten. Diese unmenschliche Pionierleistung wurde am Stück verlangt, er saß drei Tage lang ohne Pause im Sattel. Viele Rennen dieser Art entstanden und wurden meist in einer einzigen Etappe absolviert, teilweise aber auch schon in mehreren Etappen über wenige Tage. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden die blutigen, mit Schlamm und Staub verdreckten Rennfahrer, die sich im Kampf Mann gegen Mann mit ihren Mitstreitern duellierten bereits als die Personifizierung von Mut und Ausdauer verehrt.[54]

 

 In dieser Zeit entstanden auch die ersten Velodrome, in denen sich die Zuschauer über mehrere Stunden, ja Tage an dem Spektakel vergnügen konnten und so das Radrennen zur ersten Massensportveranstaltung heranwuchs. Wurden die Spektakel zu Beginn meist zu großen Nationalen Feiertagen begangen, so z.B. zum 14. Juli, veränderte sich dieses, als die Zeitungen das Radrennen als Ereignis entdeckten, über das zu berichten die Auflage erhöhte. Zunächst als Erwähnung in den faits-divers wurden die Sportereignisse immer wichtiger, so dass man ihnen ganze Teile widmete und einzelne Sportzeitungen entstanden. So veranstaltete beispielsweise Le petit Journal 1891 Paris-Brest-Paris und das Automobilrennen Paris-Rouen 1894. Es entstanden zwei große Sportzeitungen, Le Vélo, herausgegeben von Pierre Griffard, und L’Auto-Vélo von Henri Desgrange, die sich später in L’Auto umbenannte.[55]

 

 Die Konkurrenz dieser beiden Zeitungen war es schließlich, die die Tour de France begründete. Le Vélo veranstaltete 1902 die berühmten Radrennen Paris-Brest-Paris, Paris-Brest und Paris-Roubaix. Desgrange, der um seine Zeitung fürchtete, beschloss, ein noch spektakuläreres Rennen ins Leben zu rufen, das über mehrere Etappen verlief, durch ganz Frankreich führte und sich durch seine Größe von den Rennen Griffards absetzte.[56] Desgranges Auflage lag bei 30.000 im Jahr 1902 und fiel 1903 auf 20.000. Durch die Tour schnellte sie wieder auf 30.000 während der Vorberichterstattung im Juni bis auf 65.000 während des Rennens im Juli. 1914 vor dem Krieg erreichte die Auflage rund 120.000 Stück, im Juli sogar bis zu  320.000 Stück.[57] Die Tour de France war geboren und Le vélo verschwand 1904 von der Bildfläche, während L’Auto und seine Fortsetzung nach dem 2. Weltkrieg L’Equipe seit dieser Zeit die französische Sportzeitungslandschaft beherrscht.[58]

 

 Der Erfolg der Tour direkt nach ihrer Einführung gründete sich auf mehreren Faktoren. So ist die Radsportbegeisterung zu nennen, die bis tief in die französische Gesellschaft hineinreichte und mit den ersten Touren auch die ländliche Bevölkerung erfasste. Die technologische Entwicklung des Fahrrads hin zu einem Massenprodukt, das für die breite Masse erschwinglich wurde ist ein weiterer Aspekt, und schließlich ist der ökonomische Beitrag nicht zu vernachlässigen. Zahlreiche Unternehmer nutzten die zunehmend industrialisierte Fertigung und den allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwung und gründeten Velodrome, organisierten Rennen und profitierten so von der zunehmenden Zahl von Amateur- und Profirennfahrer.

 

3.2 Historischer Überblick der Tour de France


 


„Mercredi 1er juillet. Le soleil éclaire la campagne au sud de Villeneuve-Saint-Georges, dans la lointaine périphérie parisienne. A Montgeron, devant le Réveil Matin, auberge où fréquentent les garçons de ferme et les charretiers du voisinage, soixante cyclistes, équipés pour de longues randonnées – des champions populaires mais aussi de parfaits inconnus qui n’ont jamais participé à la moindre compétition – se tiennent sous les ordres d’un personnage picaresque et moustachu – veston de toile légère et panama – commis par Henri Desgrange pour donner le départ de ce premier Tour de France. Il est 15 h 16 quand il abaisse solennellement son fanion. “[59]

 

Am 1. Juli 1903 begann die erste Tour de France, das erste Radrennen, das in mehreren festgelegten Etappen gefahren wurde. Alle Straßenrennen zuvor wurden an einem Stück bzw. mit unregelmäßigen, von den Fahrern individuell eingelegten Pausen absolviert. Zwischen den Etappen gab es jeweils zwei bis drei Ruhetage, damit sich die Fahrer von den Strapazen erholen konnten. Die erste Tour wurde in sechs Teilabschnitten gefahren, Paris-Lyon (467 Kilometer), Lyon-Marseille (174 Kilometer), Marseille-Toulouse (423 Kilometer), Toulouse-Bordeaux (268 Kilometer), Bordeaux-Nantes (394 Kilometer) und Nantes-Ville...

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