I. Einleitung
1. Forschungsgegenstand und Erkenntnisinteresse
Die medizinische Wissenschaft, so betonte der Hygieniker Georg Sticker 1913 in einer Rede zum Kaisergeburtstag, habe 'mit politischer Geographie' nichts zu tun - '[ü]berhaupt nichts mit Politik'. Der deutsche Arzt, der 'im Namen seiner Wissenschaft und Kunst' spreche und handle, wisse 'nichts von Nebenansichten', denn er diene lediglich 'der Wahrheit'. Seine Selbstachtung und die Achtung 'vor der Sache' verbiete ihm 'ängstliche Rücksichten', weshalb er vor dem Kaiser 'ehrerbietig im Herzen, wahrheitsliebend in Gedanken, offen im Wort' spreche. Die Frage, ob der Kaiser 'so den Mann, so den Arzt' wolle, beantwortete Sticker selbst: Er wolle ihn so und 'nicht anders!'.
Julius Moses, Arzt, Sozialhygieniker und SPD-Reichstagsabgeordneter, schrieb 1930, 'Medizin und Politik' stünden 'im engsten Zusammenhange miteinander'. Es sei 'eine verhängnisvolle Selbsttäuschung der Ärzteschaft', sich 'über diese Tatsache hinwegzusetzen'. Es ist leicht erkennbar: Die beiden Mediziner widersprachen sich deutlich. Für Aussagen, die der einen oder der anderen Sichtweise zuzuordnen wären, ließen sich zahlreiche Belege anführen. Moses und Sticker wurden hier ausgewählt, weil beide Zitate bereits historiografisch verwertet wurden: Stickers Zitat stand am Anfang eines Textes des Medizinhistorikers Eduard Seidler, der der Frage nach dem 'politischen Standort des Arztes im Zweiten Kaiserreich' nachging. Der Satz Moses' diente einem Spezialisten für die Geschichte der Ärzte im Nationalsozialismus, Michael H. Kater, als Beleg. Beide Historiker listeten zahlreiche weitere Zitate von Medizinern des 19. und 20. Jahrhunderts auf, in denen das Verhältnis von Medizin und Politik thematisiert wurde. Beide führten Belege an, die jeweils für und gegen eine Nähe der Ärzte zur Politik sprachen, beide kamen am Ende zu gegensätzlichen Ergebnissen. Seidler bilanzierte eigentümlich zurückhaltend, 'die Frage nach einem umreißbaren politischen Standort des Arztes im Zweiten Kaiserreich' müsse 'eher negativ beantwortet werden'. Kater widersprach: Den 'politischen Sinn' könne man 'dem deutschen Arzt' 'nicht mehr absprechen'. Denn dieser Sinn, so Kater weiter, sei bereits vor der Machtübernahme Hitlers voll ausgebildet gewesen.
In den angeführten Studien und auch in neueren Arbeiten haben Politikthematisierungen wie die von Sticker und Moses eine eigentümliche Funktion: Ähnlich wie in historischen Arbeiten, die Bildquellen rein illustrativ nutzen, werden Belegstellen eingestreut, um ärztliche Politiknähe oder Distanz zum Politischen anschaulich zu machen. Größerer Stellenwert für die Beantwortung der Frage nach dem Verhältnis von Ärzten und Politik wird ihnen aber kaum eingeräumt. Bei Seidler und Kater geben letztlich andere Kriterien den Ausschlag, unter anderem Parteizugehörigkeiten.
In diesem Buch soll eine neue Perspektive auf das Verhältnis der Mediziner zur Politik gewonnen werden: Im Fokus steht die Frage, was für Politikverständnisse Mediziner, Ärzte und Hygieniker artikulierten und was sie taten, wenn sie sich auf eine bestimmte Art zur Politik positionierten. Während die Frage nach historischen Politikverständnissen und ihrer argumentativen Einbindung in einschlägigen Studien höchstens am Rande eine Rolle spielt, soll sie hier im Mittelpunkt stehen. Im Zentrum der Arbeit steht das Anliegen, der Geschichte des Verhältnisses von Medizin und Politik Tiefenschärfe zu verleihen, indem sprachliche Konstruktionen des Politischen durch das ?lange? 19. Jahrhundert verfolgt, systematisch historisiert und kontextualisiert werden.
Obwohl die beiden eingangs angeführten Äußerungen von Historikern ganz allgemein als Belege für ärztliche Politiknähe oder -distanz angeführt wurden, ist offensichtlich, dass beide Mediziner mit dem Wort ?Politik? auf grundlegend unterschiedliche Dinge verwiesen und an unterschiedliche Argumentationsweisen anknüpften, die beide im medizinischen Kontext eine beachtenswerte Tradition aufwiesen. Bei Sticker spielte 'Politik' als pejoratives Gegenmodell zur medizinischen 'Wissenschaft und Kunst' eine Rolle: als Abgrenzungspunkt für ein Ideal ärztlicher Wahrheitsliebe und Aufrichtigkeit. ?Politik? stand für einen dezidiert unaufrichtigen Modus individuellen Verhaltens, für die Verfolgung von 'Nebenansichten' und ängstliche 'Rücksicht'. Gerade in Abgrenzung von solcher Art ?Politik? baute er dann den Arzt als 'unentbehrliche Zelle im Organismus des Staates' auf. Mit dem ärztlichen 'politischen Standort', für den Seidler sich interessierte, hatte das Politikverständnis Stickers freilich wenig zu tun.
Bei Moses stand die postulierte Nähe von Politik und Medizin für eine besondere Relevanz der Ärzte in öffentlichen Belangen. Er griff auf eine andere Tradition medizinischer Politikbezüge zurück und rekurrierte auf Rudolf Virchows Diktum, 'Politik' sei nichts weiter als 'Medicin im Grossen', mit dem dieser bereits 1848 für eine naturwissenschaftliche Fundierung jeglicher Politik plädiert und weitreichende wissenschaftliche Deutungsansprüche postuliert hatte. Moses bezog sich also auf eine frühe Vision szientokratischer Deutungshoheit im politischen Raum, die mit dem 'politischen Sinn', nach dem Kater suchte, wenig zu tun hatte.
Die Beispiele zeigen, dass es methodische Probleme mit sich bringt, historische Politikthematisierungen rein illustrativ zu verwenden. Quellensprachlich artikulierte Politikverständnisse können erheblich von analytischen Begriffen (oder den impliziten Politikverständnissen) des Historikers abweichen. Das medizinische Schreiben über Politik hat eine eigene Geschichte, eigene Traditionen und argumentative Implikationen.
Die genannten Beispiele, die am Ende beziehungsweise zum Teil außerhalb des Untersuchungszeitraumes liegen, weisen bereits auf wichtige Charakteristika dieser Geschichte hin. Die Positionierungen deutscher Mediziner und Hygieniker zur Politik scheinen auf den ersten Blick eigentümlich zwischen zwei Extremen zu schwanken: zwischen einem radikalen Gestus der Abneigung gegenüber allem Politischen einerseits und weitreichenden Postulaten der Aneignung, die auf Utopien verwissenschaftlichter Politik hinausliefen, andererseits. Augenfällig ist die Schärfe und Häufung abwertender oder distanzierender Politikbezüge in der deutschsprachigen medizinischen Publizistik seit Beginn des 19. Jahrhunderts, in deren Tradition auch Sticker stand. Sogar Moses bezog sich implizit auf die angebliche Politikdistanz, indem er die 'Selbsttäuschung der Ärzteschaft' kritisierte. Wie zu zeigen ist, waren die Modelle der Aneignung der Politik, auf die er sich ebenfalls bezog, auf ein dezidiert pejoratives Politikverständnis ausgerichtet. Virchow selbst hatte 1848 seinen verwissenschaftlichten 'socialpolitischen Standpunkt' vor dem Hintergrund eines negativ bewerteten 'rein politischen' Standpunktes entworfen. Von Sozialhygienikern wie Moses wurden Virchows Vorstöße von 1848 seit den 1890er-Jahren systematisch aufgegriffen, um wissenschaftliche Deutungshoheit im Politischen einzufordern. Vertreter der Rassenhygiene begannen in dieser Zeit gleichfalls, Modelle verwissenschaftlichter Politik zu entwerfen. Alle Modelle gewannen ihre Konturen erst vor dem Hintergrund negativer Politikverständnisse. Die Negativstereotype von ?Politik? wurden letztlich zu zentralen argumentativen Versatzstücken von Medizinern, die gesellschaftliche Deutungshoheiten einforderten.
Die grundlegende These, die diesem Buch zugrunde liegt, ist damit benannt: Im Laufe des 19. Jahrhunderts rückten explizite Positionierungen zur Politik in den Fokus der Einforderung von professioneller Autonomie und Deutungshoheiten. Sie grenzten sich dabei entweder radikal von der Politik ab oder verfolgten Strategien der Aneignung, die im Entwurf szientokratischer Politikmodelle gipfelten: Die Politik sollte letztlich durch Wissenschaft ersetzt und in wissenschaftlich fundierte Sachfragen aufgelöst werden. Abneigung und Aneignung verwiesen eng aufeinander, weil beide Modelle sich letztlich auf ein pejoratives Grundverständnis von Politik bezogen. Es speiste sich aus diskursiven Traditionen, die bis in die Vormoderne zurückreichten. Im Laufe des 19. Jahrhunderts lässt sich verfolgen, wie die traditionelle ärztliche Distanz zum nominell Politischen sukzessive in eine elementare Relevanzstrategie überführt wurde: Wenn Mediziner und Ärzte am Ende des 19. Jahrhunderts Deutungs- und Autonomieansprüche formulierten, taten sie das zumeist, indem sie sich von der Politik abgrenzten und ihre eigene, unpolitische Rationalität betonten. Das traditionsreiche pejorative Deutungsmuster ?Politik? spielte dabei eine entscheidende Rolle: als zentrales Element von Strategien, die den Kampf um die Ausweitung und Wahrung medizinischer Deutungsansprüche prägten. Auf den ersten Blick erscheint es paradox: Die traditionsreiche Politikkritik deutscher Ärzte wurde sukzessive zu einer spezifischen Form politischer Kommunikation.