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Die Unzerbrechliche

Elf Jahre in Gefangenschaft. Wie ich überlebte.

AutorMichelle Burford, Michelle Knight
VerlagVerlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl284 Seiten
ISBN9783838756868
Altersgruppe16 – 
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR

Michelle Knight ist 21 Jahre alt, als sie entführt wird; ihr Martyrium wird elf Jahre dauern. Der Schulbusfahrer Ariel Castro hält sie und später zwei weitere Frauen in seinem Haus in Cleveland gefangen, wo er sie psychisch und physisch unvorstellbar misshandelt. Was sie in dieser Zeit an körperlichen und seelischen Qualen durchlitt, beschreibt sie in ihrem Buch. Und was ihr half, diese Zeit zu überleben und nie die Hoffnung aufzugeben, dass sie eines Tages wieder ein normales Leben führen würde. 'Nichts in meinen 12 Jahren als Moderator der Dr. Phil-Show hat mich derart verändert wie Michelle Knight und die Geschichte ihres Überlebens.' - Dr. Phil McGraw

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Leseprobe

KAPITEL 2

MEINE FAMILIE

Das Innere dieses braunen Kombis werde ich nie vergessen: die verdreckten Fußmatten und den Gestank nach verfaulten Äpfeln. Als ich vier war, wohnte meine Familie in dem Auto. Ich, meine Brüder, die zwei Jahre alten Zwillinge Eddie und Freddie, und mein kleiner Cousin Mikey, wir vier kauerten uns auf dem Rücksitz zusammen und versuchten, uns unter einer kleinen, schmutzigen Decke warm zu halten.

»Zisch ab!«, brüllte Freddie oft. Er war der gesprächigere der Zwillinge und der, der meist die Decke für sich allein beanspruchte. Er ballte dann die kleine Faust und versetzte Eddie einen Stoß. Eddie war eher ruhig für sein Alter und boxte selten zurück. Sie waren eineiige Zwillinge und hatten die gleiche olivfarbene Haut und das gleiche dunkle, lockige Haar. Trotzdem konnte ich sie meist gut auseinanderhalten, wenn ich nur darauf achtete, wer am meisten rempelte und schubste.

»Lass das. Schubs ihn nicht immer, Freddie«, sagte ich dann oft. Ich war gut zwei Jahre älter und deshalb die große Schwester mit der Aufgabe, die Streitereien zu schlichten. »Hier, ihr könnt was von meiner Decke abhaben«, sagte ich, wenn sie wieder an der Decke herumzerrten. »Aber hört jetzt mit dem Streiten auf.« Das funktionierte etwa drei Minuten, bis alles wieder von vorne anfing. Ich mochte sie sehr, auch wenn sie mich ziemlich nervten.

Manchmal parkte mein Vater den Wagen außerhalb von Cleveland neben einer Apfelplantage. Wir pflückten unsere Mahlzeiten direkt vom Baum. Ich stopfte mich mit grünen Äpfeln voll, bis mir der Bauch wehtat. »Verstaut die übrigen Äpfel hinten, dann haben wir noch was für später«, sagte meine Mutter. Einen nach dem anderen warf sie die Äpfel zu uns nach hinten. Sobald ich einen gefangen hatte, spielte ich gern Verstecken mit dem kleinen Mikey, der braune Haare hatte und sehr mager war.

»Rat mal, wo ich meinen versteckt habe«, forderte ich ihn auf. Mikey zuckte mit den Schultern und grinste.

»Ich weiß es, ich weiß es!«, rief Freddie. »Der ist hinter dir!«

Ich holte den Apfel hinter meinem Rücken vor, schwenkte ihn vor Mikeys Gesicht, und ihn haute es total um. Jedes Mal fiel er auf den Trick herein. Stundenlang vergnügten wir uns mit solch albernen Spielchen. Und jedes Mal, wenn wir zu der Plantage fuhren, verstauten wir so viele Äpfel hinten im Wagen, dass wir manchmal vergaßen, wohin wir sie gesteckt hatten. Deshalb stank das ganze Auto.

Ich weiß nicht, wie es kam, dass wir obdachlos waren, oder wie es uns überhaupt nach Ohio verschlagen hatte. Meine Eltern redeten nicht viel über ihr Leben. Im Laufe der Jahre schnappte ich aber einiges auf. Einmal erzählte meine Mutter zum Beispiel, dass sie irisches, schwarzes, hispanisches, indianisches und arabisches Blut in sich hatte. »Wir sind Promenadenmischungen«, sagte sie. Daher kamen wohl meine dicken, vollen Lippen, die sie ja auch hatte. Und manchmal hörte ich von ihr einzelne Worte Spanisch oder Arabisch, also musste das wohl stimmen, was sie da erzählte, wenigstens das. Außerdem hatte sie so einen Lieblingsspruch: »Kinder soll man sehen, aber nicht hören.«

Ich hatte viele Fragen. War sie mehrsprachig aufgewachsen? Hatten ihr ihre Eltern diese Sprachen beigebracht? Hatte sie immer in Ohio gelebt? Aber die Erwachsenen in meiner Umgebung erzählten uns Kindern nie etwas. Und wenn ich meinen Vater nach seinem Leben fragte, sagte er immer nur: »Das ist Erwachsenenkram, nichts für Kinder.« So weiß ich nicht, wo oder wie sie aufwuchsen.

Ich glaube, wir verbrachten ein ganzes Jahr in diesem Kombi. Und als wir dann endlich in ein Haus zogen, wurde unser Leben auch nicht viel besser. Ich weiß nicht mehr, wie der erste Stadtteil hieß, in dem wir wohnten, aber dass unser Haus in einem Problemviertel lag, das weiß ich sehr wohl. An den Ecken standen Prostituierte, Zuhälter und Drogendealer. Es gab Banken und Geschäfte mit Autoschalter. Und der Schnapsladen am Ende der Straße hatte die ganze Nacht geöffnet.

Wir blieben nur ganz kurz in dem Haus. In meiner Kindheit zogen wir so oft um, dass es schon nicht mehr komisch war. So etwa alle zwei bis drei Monate müssen wir wohl in ein anderes Haus gezogen sein, ungelogen. Meine Tante und mein Cousin zogen immer mit. Und später kamen noch viele weitere Verwandte aber davon erzähle ich gleich.

Wohin wir auch zogen, es war immer das übelste Viertel der Stadt. Cleveland wird durch den Cuyahoga River in eine Ost- und eine Westseite geteilt. Wir blieben meist auf der Westseite. Selten fuhren wir auf die andere Seite des Flusses, und dann fiel mir auf, dass dort Leute in riesigen Häusern mit großen, grünen Vorgärten wohnten. Die Straßen sahen so sauber aus, als könnte man davon essen. Sogar die Luft roch besser. Ich wünschte, wir hätten in diesem Teil der Stadt leben können. Ich wollte nicht wieder nach Hause; wir wohnten in einem Dreckloch. Wenn ich im Fernsehen etwas über Wohnprojekte in einer anderen Stadt sah, sagte ich mir: »Das sieht besser aus als unser Viertel.« Um ehrlich zu sein, unser Stadtteil war das Allerletzte.

Ich weiß noch, dass wir in einem Stadtteil besonders viel herumgezogen sind: in Tremont, in der Nähe des Zentrums. Wo wir wohnten, gab es viel Bandenkriminalität und Drogen. Die Bürgersteige waren übersät mit Spritzen. Mindestens einmal in der Woche hörte ich mitten in der Nacht ein Gewehr losgehen. Eddie, Freddie, Mikey und ich waren damals in einem Zimmer untergebracht, und wir versteckten uns in der Ecke des winzigen Kleiderschranks, so schnell wir konnten.

»Alles okay mit dir?«, fragte ich Eddie.

Seine Lippen zitterten. »Ja«, flüsterte er. Mir war klar, er hatte genauso viel Angst wie ich. Aber ich war die große Schwester mit Beschützerinstinkt, deshalb spielte ich die Starke. »Alles wird gut«, sagte ich immer zu ihm.

Die Ausstattung von unserem ersten Haus fand ich schrecklich. Es bestand aus einem Erdgeschoss und einer ersten Etage, insgesamt vier Zimmer. Der Teppichboden war braun und hatte ein paar eklige Flecken. Auch unser Badezimmer war widerlich, und der Herd war kaputt.

Nach unserem Einzug in das Haus zogen furchtbar viel Verwandte zu uns. Ständig fragte ich mich: Wo waren all diese Leute bloß, als wir noch in dem Kombi hausten? Und abgesehen von den ganzen Tanten, Onkeln, Cousins und Cousinen, die bei uns einzogen, lernte ich später, als ich schon viel älter war, weitere Verwandte kennen zum Beispiel meine Cousinen Lisa und Deanna. Wann immer jemand einzog, fragte ich: »Wer ist das denn?« Eine richtige Antwort bekam ich nie.

Es gab eine Zeit, da waren wir zu zwölft in dem Haus. Es war also immer ziemlich hektisch. Außerdem besuchten uns offenbar Wildfremde zu jeder Tages- und Nachtzeit. Andauernd klingelte es an der Tür, und dann gaben angsteinflößende Männer Päckchen ab. Oft fand ich nachts keinen Schlaf wegen der lautstarken Partys, die die Erwachsenen feierten. Meistens stank es im ganzen Haus.

Ich hatte nie dasselbe Zimmer für mich. Meine Cousinen und ich wurden andauernd in wechselnde Zimmer verfrachtet.

»Wo schläfst du denn heute?«, fragte mich einmal eine Tante.

»Keine Ahnung«, antwortete ich ihr. »Ich such mir schon einen Platz.« An dem Abend trug ich meine kleine blaue Decke in das Zimmer, in dem Eddie und Freddie untergebracht waren, und legte mich neben ihrer Matratze auf dem Fußboden schlafen. Manchmal schlief ich im Zimmer meiner Eltern. Manchmal schlief ich sogar unten auf dem Wohnzimmersofa. Meine Brüder und Mikey zogen auch ab und zu hin und her, aber meist hatten sie ein festes Zimmer für sich. Aus irgendeinem Grund war ich das Kind, das am meisten hin und her geschoben wurde, vor allem, wenn wieder einmal jemand zu uns ins Haus zog. Es war, gelinde gesagt, chaotisch.

Ich war noch ganz klein, da passierte etwas, was mein Leben noch einmal veränderte, zum Schlimmeren. Mitten in der Nacht hatte ich Durst bekommen. Ich stand aus dem großen Bett auf, in dem ich damals schlief. Im Dunkeln stolperte ich über einen Haufen Sachen. Im Wohnzimmer sah ich meine Mutter; komplett angezogen schlief sie dort. Ich ging in die Küche, stellte einen Stuhl neben das Waschbecken und nahm mir etwas Wasser. Als ich ins Schlafzimmer zurückkam, saß ein Mann, einer meiner Verwandten, mitten auf dem Bett.

»Lauf nicht weg. Versuch es erst gar nicht«, flüsterte er mir ins Ohr.

Ich fing an zu weinen. In meinem Kopf drehte sich alles. Wieso saß er hier auf meinem Bett? Hörte Mama uns denn nicht?

»Mach einfach, was ich sage, dann passiert dir schon nichts«, sagte er. Er fuhr sich mit einer Hand in die Boxershorts, dann legte er mir die andere Hand auf den Kopf und drückte mich vor sich nach unten. Ich wollte schreien, aber als ich es versuchte, kam kein Laut. »Wenn du einem davon erzählst«, sagte er, »bring ich dich um.«

Ich hatte große Angst. Aber ich konnte nichts tun, konnte nur darauf achten, dass ich nicht zu laut weinte. Hinterher lag ich da und fühlte mich schmutzig und ganz allein.

Mama habe ich es nie erzählt. Der Mann hatte gedroht, mich umzubringen, daran musste ich immer denken. Und es blieb nicht bei dem einen Mal. Von da an machte er sich an mir auf jede nur denkbare Art zu schaffen. Anfangs ein paar Mal die Woche, aber als ich dann größer wurde, kam er fast jeden Tag. Egal, in welchem Bett ich landete, er fand mich immer und schlich sich...

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