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Die verlorene Bibliothek

Autobiographie einer Kultur

AutorWalter Mehring
VerlagElster Verlag
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl336 Seiten
ISBN9783906065649
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis21,99 EUR
Walter Mehrings Werk «Die verlorene Bibliothek», 1951 erstmals erschienen, ist ein ebenso brillantes wie trauriges Resümee von Nazi-Herrschaft und Zweitem Weltkrieg und zugleich eine scharfsinnige Analyse der Wirkungslosigkeit von Literatur und Kunst im Zeitalter kollektiver Gewalt. Mehring führt ein faszinierendes Panorama einer untergegangenen bürgerlichen Kultur vor. Ein eleganter Autor ist wiederzuentdecken.

Walter Mehring (1896-1981) war einer der wichtigsten Essayisten und einer der bedeutendsten satirischen Autoren der Weimarer Republik. Er war Mitbegründer der Berliner Sektion des Dadaismus und belieferte sowohl die «Weltbühne» als auch die Berliner Kabaretts mit seinen Stücken und Miszellen. Der Vernichtungswut der Nazis konnte er emtkommen; er floh über Frankreich in die USA und kehrte erst1953 wieder nach Europa zurück. Er lebte schließlich in Zürich, wo er auch starb.

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Leseprobe

Erstes Kapitel


Die Regimenter des Fortschritts

Die Bücherschlacht in der St. James’s Library und der Große Weltkrieg

So viele Leichen und keine Seelen

Der Tod und der Aufklärer

Gewohnt habe ich zum letzten Male wohl in Wien, bevor es stürzte. Denn dort hatte ich noch alle Bücher um mich, aus meines Vaters Bibliothek, und konnte mich zu Hause fühlen. Wie oft seitdem das Landschaftsbild im Fensterrahmen gewechselt hat – und ein paar Mal war es vergittert –, vermag ich mir nicht mehr zu vergegenwärtigen. In Wien stand noch mein Büchererbe vor seinem Fall – ins Exil gerettet dank der Komplizität der Berliner Tschechoslowakischen Gesandtschaft, dank der Kollegialität ihres Attachés, des Lyrikers Camill Hoffmann (aus der Prager Dichterrunde der Werfel, Meyrink, Kafka, Capek, die alle etwas kabbalistisch angehaucht waren); – ihn aber hat man später in einem Brandofen vernichtet.

Überallhin früher, als ich noch auf Reisen ging statt auf die Flucht, hatte ich stets ein paar Bände mitgenommen – für jedes Klima:

H. C. Andersens »Erzählungen« nach Odense – (sein provinzlerisches Giebelhaus und die Gasse, wo jeder Andersen hieß, rochen nach Museum; im säuberlich modernden Salon warteten »der trauernde Zylinderhut«, die ausgetretenen »Galoschen des Glückes« und ein verbeulter Koffer, auf dem man aber durch den Kamin fliegen konnte, wenn man auf das Schloß drückte – und andere seiner Hauptpersonen, als wäre H. C. nur eben mit Spitzenhäubchen und Schürze transvestiert auf einem Altweiberklatsch in der Nachbarschaft).

Captain Marryat, Sealsfields »Kajütenbuch«, und – für den Notfall: Jules Vernes »20 000 Meilen unter dem Meeresspiegel« auf meine erste Seesturmfahrt Hamburg-Newcastle auf einem Kohlenfrachter.

Des Louis-Sébastien Mercier prophetisch-satirische Reportagen aus den letzten Tagen des Absolutismus: »Tableau de Paris« und Balzacs »Comédie Humaine« zur lange vorgeplanten Übersiedlung nach Paris – noch immer die brauchbarsten Führer im Umgang mit französischen Ämtern, Justiz und Presse.

Ovids »Metamorphosen« ans Mittelmeer, wo sie sich in Olivenhainen um die Gespensterstunde Pans ereignen, wenn die Sonne im Zenit steht.

Immer und überallhin den Cervantes, als erste Hilfe und als Herzenstrost für jede Torheit – und als Textbuch zur Freiheitstravestie der letzten Spanischen Republik, die als schlechte Tragedia Soldades des verwaisten Sancho Pansa und des ritterlosen Rosses Rosinante endete.

Den »Exodus« in die saharische Pyramidenstadt Ghardaja – im algerischen M’zab –, wo die Abaditen hausen, in ihrer islamischen Verbannung, unter ihnen die letzten authentischen Israeliten, die sich »Ishuruni« nennen: die »Aufrechten«.

So hatte ich noch überall meines Vaters Bücher um mich gehabt, ein Stück Zuhause …

Und als ich die Bibliothek im Stich lassen, als ich Hals über Kopf aus Wien auf und davon mußte – sodomitisches Gegeifer spie mir aus jedem Gassenschlund entgegen –, als ich, dem anrasenden Mob ausweichend, durchs Parkdunkel zum Westbahnhof hastete, vorbei unter dem öden Doppelfenster meines Lese-, Wohn- und Schlafzimmers, da begriff ich plötzlich den Exils-Rat der Engel an Lot: nach Sodom und Gomorrha sollte man sich nicht einmal umsehen … Und ich wandte mich ab, um nicht zur Salzsäule zu erstarren.

Ich ließ den Schutzwall hinter mir, den einst mein Vater mir errichtet hatte – aus Tausenden von Bänden-, jeder ein Anathema seiner weißen Aufklärungsmagie, kraft der er, der fortschrittsgläubige Atheist, sich gegen die Rückfälle ins Werwolftum gefeit geglaubt hatte.

Gefangene nun, doch nicht entwaffnet, zum Schweigen nicht zu bringen, trotzten die Bücher weiter, Schulter an Schulter, widerstandsbereit – und stritten sich untereinander noch weiter über Gott und die Welt.

»Gott ist, weil meine Vernunft ihn in der Weltordnung so ansetzen muß wie die Geometer ihre Figuren …«, fingen die Cartesianer an.

»Gott ist gewissermaßen aus einem Destillationsprozeß der vielen Götter entstanden …«, fiel ihnen der Materialist Friedrich Engels ins Wort, ohne ihre schwache Stelle in der Vernunftskette bemerkt zu haben.

»Gott ist ein gasförmiges Wirbeltier …«, knurrte hinter seinem darwinistischen Katheder Universitätsprofessor Ernst Haeckel (Jena), forschend, ob sich noch ein Laie einen Einwand erlauben werde.

»Das große Eiapopeia vom Himmel …«, mischte sich ungefragt der vorlauteste aller Literaten, Heinrich Heine, ein, dem mein Vater jede Ungezogenheit gestattet hatte.

Aber Stendhal dekretierte kurz und bündig: »Die einzige Entschuldigung für Gott ist, daß es ihn nicht gibt.«

»Selbst wenn …«, dröhnte die Stimme Baudelaires, »selbst wenn es Gott nicht gäbe, würde die Religion immer noch geheiligt und göttlich sein.«

Doch da ging der Tumult von allen Seiten los: »Snob! Renegat! Reaktionär!«Und um ihn beizulegen, hatte mein Vater dann immer, zur Wut des Baudelaire, den Voltaire herbeizitiert:

»›Diese Herrlichkeit kann nur ein Maulwurf geschaffen haben!‹, sagte der Maulwurf. – ›Unsinn! Ein Maikäfer!‹, sagte der Maikäfer.«

»Sic!« hatte mein Vater an den Rand geschrieben. Und da er eine göttliche Vertrauensseligkeit in die Aufklärung der Gattung Mensch besaß, hatte er sich als »Dreyfusard« zu sechs Monaten Festungshaft verurteilen lassen, um in den Orden der Irreligiosi aufgenommen zu werden.

»All die Bücher werden Dir einmal gehören, wenn ich tot bin«, hatte mein Vater gesagt, so oft ich mir einen Band ausleihen kam. Das also sollte mein Erbe sein. Auch der breite Mittelschrank, den die schwierigen Griechen und Lateiner okkupierten: die Plutarch, Thukydides, Tacitus, Sueton, die ich als verzwickte Aufsatzthemen, als Turnübungen der Deklination und Konjugation (mit Aorist-Hindernissen) betrachtete. Wie hätte ich da denn vorauswissen sollen, daß aus den studierten Söhnen der Geisteselite, die zu Bayreuther Weihfestspielen wallfahrtete, über Maeterlinck-Debussys »Traumtempel« sich verwunderte, Zarathustras »Trunkenes Lied« litaneite, darwinistischer Zuchtwahl sich unterwarf, an den sozialistischen Bußpredigten der Jean Jaurès, August Bebel sich erbaute – wie hätte ich ahnen können, daß aus meinen Konpennälern ein Geschlecht von Praetorianern, Folterknechten, Rekordamokläufern, Progromopfern heranwuchs; daß ich noch einmal selber einer bluthemdigen Krypteja, neronischen Brandstiftern leibhaftig begegnen sollte; … daß ich das ganze Pensum: »? ?? ?????? ???????? ?? ??????????»Dulce et decorum est pro patria mori!« – »Bellum civile«, »bellum gallicum«, von Gymnasiastenschindern auf humanistischen Kasernenhöfen uns eingebleut, in mörderischem Anschauungsunterricht würde nachsitzen müssen.

In die Klasse nahm ich mir ein paar »ungereinigte« Klassikerausgaben mit – so fiel es nicht weiter auf – zum Privatstudium unter dem Pult: die »Hetärengespräche«, die »Ars amatoria«; Catull (»Ac me facit delicias libidinesque …«; das habe ich bis heute behalten!). Bloß auch dies gehörte unwiederbringlich dem Altertum an wie die marmornen Torsos der Venusbusen und -hinterbacken. Denn was ich von der Damenwelt und Halbwelt zu sehen bekam, war in Korsetts eingeschnürt und in sackförmige Schlepproben eingewickelt.

Durch gar nichts war ich für ein Märtyrerleben vorgeschult, das ich heute führen müßte, um so gerecht, so standhaft zu bleiben, wie das mein Vater in seiner entwaffnenden Ahnungslosigkeit des Kommenden mir beigebracht hatte:

»Justum et tenacem propositi virum

Non civium ardor prava iubentium

Non voltus instantis tyranni

Mente quatit solida.«

sagt der alte Horaz.

Dem Mann des Rechts,

der fest am Entschlusse hält,

macht nicht die Volkswut,

die ihn zum Schlechten drängt,

nicht eines Zwingherrn drohend Antlitz

wanken den stetigen Mut.

Doch ein Verdacht stieg früh schon in mir auf, als ich einst im Bibliothekszimmer den mündlichen Bericht eines russischen Pressekollegen meines Vaters über die zaristischen Polizei-Verfolgungen, über die Kerker der Peter-Pauls-Festung und die sibirischen Strafkolonien mit anhörte. Mein Vater hatte mir gerade kurz zuvor Dostojewskijs »Totenhaus«-Memoiren zu lesen gegeben – und das »Sibirien« des amerikanischen Heldenjournalisten Kennan, die erste Reportage eines neutralen Augenzeugen, der sich mit gefälschten Deportationspapieren hatte verschicken lassen und der mit entwendeten Geheimkabinett-Orders des Zaren zurückgekehrt war, um durch Dokumente die freie Weltmeinung aufzurühren.

Der letzte Besucher, den mein Vater in seiner Bibliothek empfing, war der Student und Kriegsfreiwillige Ernst Toller, der ihm ein paar schüchterne Anfängergedichte vorlegte – unterwegs zu den Schützengräben des Ersten Weltkrieges.

Eine Stunde später stürzte mein Vater mir in die Arme, mitten im Vorlesen, mitten in einem Satz aus Kants »Kritik der reinen Vernunft«.

»Halte mich doch!« waren seine letzten Worte.

Und dann mußte ich das Erbe antreten.

Ich hatte in den folgenden 20 Jahren seltener und seltener davon Gebrauch gemacht.

Auf kurzem Kommißurlaub – in entlaustem Uniformzeug, Kanonenstiebeln,...

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