Deutschland galt bis zum Beginn der 80er Jahre, geprägt durch den gesellschaftlich fest etablierten Grundsatz, dass das Wählen eine staatsbürgerliche Pflicht sei (vgl. Kersting 2004: 404; Kleinhenz 1995: 15), als Vorzeigekandidat in Sachen Wahlbeteiligung[4]: 1972 erlangte die Bundesrepublik mit einer Wahlbeteiligung von 91,1 % ihren partizipatorischen Höhepunkt (vgl. Bohne 2010: 254) und verzeichnete ab diesem Zeitpunkt, bei einer Zunahme der Wahlberechtigten[5] (siehe Abb. 1), einen kontinuierlichen Rückgang der Wahlbeteiligung (vgl. Statistisches Bundesamt 2009: 1; Kleinhenz 1995: 15). Verlief der Abwärtstrend mit einer Wahlbeteiligung von 84,3 % aller Wahlberechtigten bei den Bundestagswahlen 1987 noch gemäßigt, ist „nach 1990 ein sprunghaftes Anwachsen der Nichtwahlneigung“ (Maier 2000: 232 f.) feststellbar: Bei den ersten gesamtdeutschen Wahlen 1990 betrug die Wahlbeteiligung nur noch 77,8 % und sank damit zum ersten Mal seit 1949 unter die 80 %-Grenze (siehe Abb. 1). Richtig ist: „Nichtwähler gibt es, seit Wahlen stattfinden!“ (Lavies 1973: 18), doch aufgrund der relativ hohen Bereitschaft zur Wahlpartizipation bis zu den Bundestagswahlen 1983 verlief die Anfangsphase der deutschen Nichtwähler-Forschung schleppend (vgl. Kleinhenz 1995: 17), blieb auf einzelne rudimentäre Beiträge[6] beschränkt und wurde von Kaack (1971: 446) zu Recht als „terra incognita der Wahlforschung“ bezeichnet. Lange wurde der Nichtwählersymptomatik damit nicht die nötige Aufmerksamkeit geschenkt, sodass Aussagen über das „unbekannte Wesen“ (Falter und Schuhmann 1994: 161) und dessen Motive zur Wahlenthaltung nur bedingt möglich waren. Erst dem immensen Absinken der Beteiligung bei den Bundestagswahlen 1987 und 1990 (siehe Abb. 1) ist es geschuldet, dass die Nichtwählerproblematik ab 1990 verstärkt in das politische, mediale und wissenschaftliche Interesse rückte. Bei den Bundestagswahlen 1994 steigerte sich das Beteiligungsniveau auf 79,0 % und konnte 1998 sogar die höchste Beteiligung seit der Wiedervereinigung (82,3 %) erreichen (siehe Abb. 1). Allerdings ist dies eher auf „kurzfristige, politisch-konjunkturelle Faktoren zurückzuführen als auf eine grundsätzliche Wende bezüglich des Wahleifers der Bevölkerung“ (Eilfort 2003: 197), denn danach schlug die Wahlbeteiligung wieder ihren bekannten Weg der kontinuierlichen Abnahme ein (2002: 79,1 %; 2005: 77,7 %). Im ‚Superwahljahr‘ 2009 wurde dann ein vorläufiges Minimum erreicht: Nie zuvor in der deutschen Geschichte unterließen mehr WählerInnen die Stimmabgabe. Das Wissen über Typen, Strukturen und Motivlagen der NichtwählerInnen nimmt seitdem durch diverse Forschungsbeiträge (z.B. Roth 1992, Falter und Schuhmann 1994, Eilfort 1994[7], Armingeon 1994, Kleinhenz 1995[8], Klingemann und Lass 1995, Renz 1997, Völker und Völker 1998, Kersting 2004, Caballero 2005, de Nève 2009) stetig zu.
Die klassischen Theorien des Wahlverhaltens versuchen seit Beginn der deutschen Wahlforschung zu erklären, warum einzelne Parteien von bestimmten BürgerInnen gewählt werden. Sie integrierten nachträglich die Option der Nichtwahl in ihr Theoriegerüst und liefern basierend darauf entsprechende Erklärungen. Insbesondere in der deutschen Nichtwähler-Forschung konkurrieren dabei zwei Erklärungsmuster, um die abnehmende Wahlbeteiligung theoretisch erklärend aufzuarbeiten.
Abbildung 1 Wahlberechtigte und Wahlbeteiligung bei Bundestagswahlen von 1972-2009; eigene Darstellung (Datenquelle: Der Bundeswahlleiter 2014: 8)
Die, vor allem in älteren Forschungsbeiträgen vorzufindende, outputorientierte Normalisierungsthese (vgl. Roth 1992; Armingeon 1994) erklärt den wachsenden Nichtwähleranteil als einen Normalisierungsprozess und stuft die sinkende Wahlbeteiligung in repräsentativen Demokratien dem Wortlaut folgend als ‚normale’ Entwicklung ein. Diese vollzieht sich als eine undramatische Angleichung der hohen und im internationalen Vergleich sogar überdurchschnittlich hohen Wahlbeteiligung an die niedrigeren ‚normalen‘ Niveaus anderer europäischer und internationaler parlamentarischer Demokratien (vgl. Eilfort 2003: 200; Johann 2009: 424). Zudem folgt Deutschland dabei lediglich einem, spätestens mit dem Beginn des 21. Jahrhunderts einsetzenden, Trend kontinuierlich sinkender Wahlbeteiligung in diesen Ländern (vgl. de Nève 2009: 41).
Wahlenthaltung kann demzufolge auch als „eine Form der stillen [passiven] Zustimmung zur demokratischen Ordnung“ (Bohne 2010: 254) interpretiert werden, die nicht bei jeder Wahl reproduziert werden muss[9]. Nach über 40 Jahren ist die Demokratie in Deutschland gefestigt, sodass die BürgerInnen Wahlen mit mehr Gelassenheit begegnen können, da eben nun nicht mehr „bei jeder Abstimmung das demokratische System auf dem Prüfstand [steht]“ (Hoffmann-Jaberg und Roth 1994: 134). Dezidiert wird davon ausgegangen, dass „bei stabilen politischen Verhältnissen über einen längeren Zeitraum, bei Vertrauen in das politische System und seine Institutionen und einer allgemeinen Zufriedenheit mit der Funktionsweise des Systems, die Bürger zu einer geringeren Beteiligung an Wahlen neigen“ (Hoffmann-Jaberg und Roth 1994: 133 f.; vgl. Eilfort 2006: 61).
Der „klassische“ Nichtwähler (vgl. u.a. Campbell 1960: 89 ff.) dieses „älteren“ Formates[10] zeigt sich politisch vorwiegend desinteressiert und uninformiert, ist mit der politischen Praxis zufriedenen, sozial nur wenig integriert, häufig sozialen Randgruppen[11] zugehörig, hat ein eher geringes Bildungs- und Berufsniveau, ist nicht an eine Partei gebunden und sieht Wählen nicht als staatsbürgerliche Pflicht an. Er stellte in den 50ern und 60ern die Mehrheit der Nichtwählerschaft (vgl. Hoffmann-Jaberg und Roth 1994: 138).
Begründet wird die gesunkene Wahlbeteiligung mit dem soziostrukturellen Wandel moderner Industriegesellschaften und einem allgemeinen Wertewandel, der u.a. die Ausbreitung postmaterialistischer Wertvorstellungen forcierte. Auf Grund von damit einhergehende Individualisierungs- bzw. gesellschaftliche Differenzierungsprozesse und Milieuumstrukturierungen bzw. -auflösungen wird die verstärkte Wahlenthaltung vorwiegend „auf [die] nachlassende sozio-politische Integration politisch uninteressierter Bürger“ (Armingeon 1994: 43) zurückgeführt. Aus dem zunehmenden „Bedeutungsverlust der bundesdeutschen Wahlnorm“ (Renz 1997: 572) resultiert, dass die Stimmabgabe bei Wahlen vor allem für politisch Desinteressierte nicht mehr als „Bürgerpflicht“ angesehen wird und der Wahlakt an sich seine lang bestehende Selbstverständlichkeit verliert.
In völlig konträrer Denkweise wurde in Forschungsbeiträgen der 90er Jahre (u.a. Feist 1992/1994; Rattinger 1993; Falter und Schumann 1993) argumentiert, dass sich die nachlassende Beteiligung an Wahlen aus einem Krisenszenario des repräsentativ-parlamentarischen Systems heraus erklären lässt: Durch unterschiedlich motivierte politische Unzufriedenheit verweigern sich aus Protest immer mehr Wahlberechtigte der Stimmabgabe. Vorwiegend aus der materiell abgesicherten Mittelschicht stammend, sind sie über die gegebenen Partizipationsmöglichkeiten und realpolitischen Abläufe und Entwicklungen derart enttäuscht, dass sie auf die Diskrepanz zwischen ihrem politischen Anspruch und der politischen Realität mit Wahlenthaltung reagieren (Protesttheorie) (vgl. Eilfort 1994: 253 ff.; Hoffmann-Jaberg und Roth 1994: 138; Kleinhenz 1995: 41 ff., 122 ff.). „Sinkende oder eine vermeintlich schwache Wahlbeteiligung wird hier meist als Konsequenz aus der Annahme interpretiert, dass die Bürger durch Nicht-Teilnahme an Wahlen dem politischen System in seiner herkömmlichen Form die Unterstützung entziehen“ (Kornelius und Roth 1994: 31). Dieser Unterstützungsentzug – in der medialen Berichterstattung und politikwissenschaftlichen Literatur besser bekannt unter der Trias Politik-, Politiker- und Parteienverdrossenheit – bildet den Nährboden für einen „Strukturwandel der Nichtwählerschaft“ (Armingeon 1994: 45) hin zum „Nichtwähler neuen Typs“[12], dessen Anteil an der Nichtwählerschaft stetig zu wachsen scheint. Er charakterisiert sich durch ein gesteigertes politisches Interesse, Informiertheit, soziale Integration, einen höheren Erwerbs- und Bildungsstatus und der vermehrten Bereitschaft zur aktiven Beteiligung an politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen. Dabei entfernen sie sich aber nicht generell dauerhaft vom politischen Geschehen, sondern können, im Verständnis eines „konjunkturellen Nichtwählers“ (Eilfort 1994: 63) bei der nächsten Wahl durchaus wieder zur Stimmabgabe motiviert werden.
In der vorliegenden Arbeit werden die aus den erläuterten...