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Die Weiße Rose

Wie aus ganz normalen Deutschen Widerstandskämpfer wurden

AutorMiriam Gebhardt
VerlagDeutsche Verlags-Anstalt
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl368 Seiten
ISBN9783641188184
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Eine neue Geschichte der Weißen Rose
Die Weiße Rose ist eine der bekanntesten Widerstandsgruppen in der deutschen Geschichte, vor allem Sophie Scholl und Hans Scholl werden immer wieder als leuchtende Vorbilder genannt. Doch warum hatten gerade diese Geschwister und ihre Mitstreiter den Mut, sich gegen das nationalsozialistische Unrechtssystem aufzulehnen? Miriam Gebhardt sucht in den Biografien der Aktivisten die individuellen Voraussetzungen des Widerstands und fragt, welche Ressourcen aus Kindheit, Familie, Umfeld und Erfahrung sie gegen den übermächtigen Gruppendruck der 'Volksgemeinschaft' immunisierten. Ihr Buch erzählt eine neue Geschichte der Weißen Rose und zeigt, warum die Botschaft der Widerstandsgruppe heute, 75 Jahre nach ihren ersten Aktionen, immer noch wichtig ist.

Miriam Gebhardt ist Journalistin und Historikerin und lehrt als außerplanmäßige Professorin Geschichte an der Universität Konstanz. Neben ihrer journalistischen Arbeit, unter anderem für die Süddeutsche Zeitung, die Zeit und verschiedene Frauenzeitschriften, habilitierte sie sich mit einer Arbeit über die Geschichte der Erziehung im 20. Jahrhundert, auf der »Die Angst vor dem kindlichen Tyrannen« (2009) beruht. Sie ist Autorin zahlreicher weiterer Bücher, darunter »Rudolf Steiner. Ein moderner Prophet« (2011), »Die Weiße Rose« (2017) sowie zuletzt »Wir Kinder der Gewalt« (2019). Ihr Bestseller »Als die Soldaten kamen« (2015) über die Vergewaltigungen nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland durch die Soldaten der Siegerarmeen wurde breit besprochen und in mehrere Sprachen übersetzt. Miriam Gebhardt lebt in Ebenhausen bei München.

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Leseprobe

Einleitung

18. Februar 1943, siebzehn Uhr, Berlin, Großveranstaltung im Sportpalast. An der Stirnseite des Saals hängt neben Standarten und Hakenkreuzen ein riesiges Transparent: »Totaler Krieg – kürzester Krieg«. Kurz fühlt sich dieser Krieg nach dreieinhalb Jahren längst nicht mehr an. Erst recht nicht nach der Niederlage von Stalingrad, die in diesen Tagen offiziell eingestanden wurde. Doch die Menschen sind heute Abend nicht zum Grübeln gekommen, sie sind hier, um sich aufputschen zu lassen. Vierzehntausend Menschen warten gespannt. Es sind Verwundete von der Ostfront, Rot-Kreuz-Schwestern, Arbeiter aus den Berliner Panzerwerken, altgediente Parteikämpen. Joseph Goebbels tritt ans Mikrofon. Er packt das Rednerpult mit der einen Hand und reckt die andere mit spitzem Zeigefinger in die Luft. »Es ist also jetzt die Stunde gekommen«, schreit der Propagandaminister in den Saal, »die Glacéhandschuhe auszuziehen.« Da reißt es das Publikum vom Sitz. Das Brüllen kommt wie aus einem Mund.

Zur selben Zeit in München. Noch einmal setzt das blasse Mädchen an und rechtfertigt sich. Nein, sie habe die Blätter nicht absichtlich in den Lichthof der Universität geworfen, beteuert sie, sie sei nur versehentlich an einen Papierstapel gestoßen. Doch der Gestapomann lässt nicht locker: Woher die Flugblätter stammten, will er wissen. Das könne sie beim besten Willen nicht sagen, antwortet sie. Das Verhör dauert nun fast sechs Stunden. Sie ist müde und hungrig, aber sie muss konzentriert bleiben. Nebenan beantwortet ihr Bruder dieselben Fragen. Für die Geschwister kommt es darauf an, dass sie auch dieselben Antworten geben. Warum die beiden an diesem Morgen einen leeren Koffer mit an die Uni gebracht haben? Um nach der Vorlesung die Wäsche bei den Eltern in Ulm abzuholen, sagt er. Mit Flugblättern habe er sicher nichts zu tun.

Zurück in Berlin: Neun Mal fragt Goebbels seine Zuhörer: »Wollt ihr den totalen Krieg?« Und jedes Mal schallt es tausendfach zurück: »Ja!« »Vertraut ihr dem Führer?« »Ja!« Und nun die letzte Frage: »Ist jeder und jede Einzelne bereit, die Last des Krieges zu schultern, unbesehen von Alter, Geschlecht und sozialem Stand?« Die Menge schreit begeistert. Jetzt ist sie reif für den letzten Stoß. Goebbels ruft: »Der Führer hat befohlen, wir werden ihm folgen. Und darum lautet von jetzt ab die Parole: Nun, Volk, steh auf, und Sturm, brich los!« Und er bricht los, der Sturm. In das akustische Inferno mischt sich das Deutschlandlied.

Im Münchner Gestapogefängnis ist es still geworden. Das Mädchen sitzt allein in einer Zelle, erschöpft. Aber es war kein Zusammenbruch, tröstet sich Sophie Scholl, keine Niederlage, sondern ein aufrechtes Bekennen. Ja, hat sie dem Mann, der sie verhörte, ins Gesicht gesagt, ihre Aktionen liefen auf die Beseitigung des nationalsozialistischen Staates hinaus. »Wenn die Frage an mich gerichtet wird, ob ich auch jetzt noch der Meinung sei, richtig gehandelt zu haben, so muss ich hierauf mit ja antworten.« Sophie hat der Gestapo ihre Antwort gegeben. Jetzt bleibt nur noch eine Frage: ob die Botschaft der Geschwister und ihrer Gefährten von der Weißen Rose in der Welt gehört wird.

Die Gleichzeitigkeit der Ereignisse verblüfft: Die einen sitzen inmitten einer aufgeputschten Menge in Berlin und lassen sich von einem zwergenhaften Propagandaminister anstacheln, bis das Blut kocht, die anderen müssen in existentieller Einsamkeit Verhöre über sich ergehen lassen, über deren Ziel und Endpunkt sie sich keine Illusionen machen dürfen. Denn sie haben die hasserfüllten Parolen nicht mitgegrölt, sondern in Wort und Tat dagegengehalten.

Wie kommt es zu solch unterschiedlichen Entscheidungen? Was trennt einen, sagen wir, Oskar Gröning von einer Sophie Scholl? Eine gar nicht so kurze Wegstrecke sind ihre Leben parallel verlaufen. Gröning wird am 10. Juni 1921 in einer Kleinstadt in ein kleinbürgerliches Milieu geboren und protestantisch getauft. Er legt die mittlere Reife ab, tritt der Hitlerjugend bei, absolviert eine Banklehre. Dann geht er zur SS und wird der »Buchhalter von Auschwitz«. Sophie Scholl ist nur einen Monat und einen Tag älter. Sie wird ebenfalls in einer Kleinstadt in ein kleinbürgerliches Milieu hineingeboren, sie wird ebenfalls protestantisch getauft, kommt auf die höhere Schule, tritt einer nationalsozialistischen Jugendorganisation bei und beginnt eine Kindergärtnerinnenausbildung. Dann geht sie in den Widerstand.

Gröning, der Buchhalter des Todes, wird, wenn man so will, für sein Tun noch belohnt. Nach Kriegsende hat er weitere siebzig Jahre Leben in Freiheit und Wohlstand vor sich und wird, wie wir vermuten können, mit einem durchschnittlichen Maß an Glück und Unglück bedacht. Erst im Juli 2015, im Alter von dreiundneunzig Jahren, muss er für seine Beteiligung am Holocaust büßen. Wegen Beihilfe zum Mord in dreihunterttausend Fällen wird er vom Landgericht Lüneburg zu vier Jahren Haft verurteilt. Sophie Scholl hingegen, die aufrechte Studentin, muss für ihren Heldenmut sofort die Konsequenzen tragen. Im Februar 1943 wird sie beim Verteilen von Flugblättern in der Münchner Universität auf frischer Tat ertappt, vier Tage später in einem Schauprozess zum Tode verurteilt und enthauptet. Sophie wurde einundzwanzig Jahre alt. Zwei Leben, begonnen unter ähnlichen Vorzeichen, mit denselben Handlungsspielräumen, aber ganz gegensätzlichen Entwicklungen. Warum wird der eine zum Mittäter, die andere zur Widerstandskämpferin?

Wir wissen heute so viel über die unheimliche Verwandlung »normaler« Deutscher in Mitläufer und Täter zur Zeit des Nationalsozialismus. Die Diskussion, ob eher strukturelle oder eher ideologische Ursachen für die Menschheitsverbrechen verantwortlich waren, ob die Deutschen schon immer Juden hassten und wie viel jeder Einzelne zu Vernichtungskrieg und Schoah beigetragen hat, füllen ganze Bibliotheken. Wir haben zu einem gewissen Maß verstehen gelernt, warum sich die Gesellschaft nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler so schnell und widerstandslos an das neue Regime gewöhnen, sich in einem Klima moralischer Gleichgültigkeit und Menschenverachtung einrichten konnte und immer extremere Gewalt sowie staatlichen Terror zu tolerieren bereit war – oder sogar selbst daran mitwirkte. Sozialpsychologen, Gewaltforscher und Historiker haben ausgiebig über die Psychologie der Täter und Mitläufer geforscht und darüber nachgedacht, welche Lehren das Leben dieser Menschen den nachkommenden Generationen erteilt.

Doch was wissen wir von den anderen? Von den Menschen, die immun blieben gegen die Indoktrination, die den Gehorsam verweigerten und gegen das Unrecht kämpften? Wenn es um die Psychologie des Widerstands geht, wird die Forschungslage schnell dünn. Versuche wie das Milgram- und das Stanford-Prison-Experiment, mit denen die Bereitschaft zu blindem Gehorsam bis hin zur Gewaltausübung gegen Unschuldige getestet wurden, sind allseits bekannt und werden häufig zitiert. Sie hinterlassen ein ernüchterndes Bild vom menschlichen Verhalten in Gehorsamssituationen. Doch über die wenigen, die in diesen Experimenten nicht auf den Knopf drückten, die den Sinn der Versuchsanordnung hinterfragten oder gleich aufstanden und gingen, haben sich die Forscher wenig Gedanken gemacht.

Ähnlich steht es um die Erforschung der Gerechten im Nationalsozialismus. Himmlers, Goebbels’ und Hitlers Gehirnwindungen werden alle Jahre wieder in großen Biographien durchleuchtet, sodass die Befürchtung, dass wir bald mehr über Hitlers Hund wissen als über uns selbst, nicht ganz unbegründet scheint. Gemessen daran hat die Geschichtswissenschaft erstaunlich wenig Kraft in die Erforschung der persönlichen Voraussetzungen des Widerstands investiert. Die meisten Bücher über die Weiße Rose stammen von Amateurhistorikern, Journalistinnen oder Lehrern. Sie haben uns zwar viel Wissenswertes und Anschauliches über die Weiße-Rose-Aktivisten beschert, doch die Analyse der persönlichen Voraussetzungen des Widerstands blieben uns Publizistik wie auch wissenschaftliche Forschung schuldig.

Der Befund der unbefriedigenden Forschungslage zur Weißen Rose mag auf den ersten Blick überraschen, scheint doch die Geschichte der Münchner Widerstandsgruppe gut ausgeleuchtet: Im Sommer 1942 verfassen Hans Scholl und Alexander Schmorell innerhalb von nur zwei Wochen vier Flugblätter unter dem Decknamen »Die weiße Rose«. Darin prangern sie die allgemeine Entrechtung und Freiheitsberaubung im Führerstaat an und rufen das Volk auf, nicht länger zu der Ermordung von Juden und zu anderen nationalsozialistischen Verbrechen zu schweigen. Dass sie den Holocaust ausdrücklich als Anlass zum Widerstand nehmen, macht sie einzigartig unter den deutschen Widerstandsgruppen, die in aller Regel von anderen, selbstbezüglicheren Motiven geprägt waren.

Im Spätherbst verschärfen die Verschwörer die Gangart. Sie weihen andere in ihre Aktionen ein: Sophie Scholl, Willi Graf, Christoph Probst und Kurt Huber, einen Münchner Professor für Philosophie und Musikpsychologie. Mit ihm gemeinsam schreiben sie weitere Flugblätter und beschwören die Deutschen, sich rechtzeitig vor dem militärischen Untergang Deutschlands vom Nationalsozialismus zu distanzieren, um die Zukunft für ein freies Europa frei zu machen. Ermutigt durch die Niederlage von Stalingrad, werden ihre Aktionen zu Jahresbeginn 1943 immer tollkühner. Sie rekrutieren mehr Helfer in ganz Deutschland, knüpfen Kontakte mit anderen Widerstandsgruppen und bringen Parolen an Hauswänden an: »Freiheit!«, »Nieder mit Hitler«. Am 18. Februar 1943 folgt das letzte große...

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