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E-Book

die welt als entwurf

schriften zum design

AutorOtl Aicher
VerlagErnst & Sohn
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl198 Seiten
ISBN9783433605875
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis25,99 EUR
Otl Aicher (1922-1991) war einer der herausragenden Vertreter des modernen Designs, er war Mitbegründer der legendären Hochschule für Gestaltung Ulm (HfG), Der heute geläufige Begriff der visuellen Kommunikation ist auf ihn zurückzuführen, Was er seit den 1950er Jahren geschaffen hat, erinnert sei z, B, an die Piktogramme für die Olympischen Sommerspiele München 1972, gehört zu den ganz großen Leistungen der visuellen Kultur unserer Zeit,
Die hier versammelten Texte sind Erkundungen einer 'Welt als Entwurf', Sie gehören substantiell zu seiner Arbeit, In der Bewegung durch die Geschichte von Denken und Gestalten, Bauen und Konstruieren versichert er sich der Möglichkeiten, die Existenz menschlich einzurichten, Nach wie vor geht es um die Frage, unter welchen Voraussetzungen Zivilisationskultur herstellbar ist, Diese Voraussetzungen müssen erstritten werden gegen scheinbare Sachzwänge und geistige Ersatzangebote,
Otl Aicher streitet gern, So enthält dieser Band neben Berichten aus der Praxis und historischen Exkursen zu Design und Architektur auch polemische Einlassungen zu kultur- politischen Themen, Mit produktivem Eigen-Sinn streitet Aicher vor allem für die Erneuerung der Moderne, die sich weitgehend in ästhetischen Visionen erschöpft habe, Noch immer sei der 'Kultursonntag' wichtiger als der Arbeitsalltag,
Wolfgang Jean Stock

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einführung


von Wolfgang Jean Stock

1


Als Hannah Arendt 1950 die junge Bundesrepublik besuchte, notierte sie: „Beobachtet man die Deutschen, wie sie geschäftig durch die Ruinen ihrer tausendjährigen Geschichte stolpern, dann begreift man, daß die Geschäftigkeit zu ihrer Hauptwaffe bei der Abwehr der Wirklichkeit geworden ist.“

Zwei Jahre nach der Währungsreform und fünf Jahre nach Kriegsende waren der Schock der Niederlage und das Entsetzen über die im deutschen Namen verübten Verbrechen weitgehend verdrängt. Angesichts der vielen Alltagsnöte hatte sich die Mehrzahl der Westdeutschen in die Normalität des Überlebens eingeübt. Die Verantwortung für Ursachen und Folgen des Nazi-Regimes wurde in dieser Zwangsrealität von Besatzung und Mangelverwaltung ausgeklammert. Emsig begann man, die Trümmerfelder zu räumen, die inneren Trümmer aber blieben liegen. Die Nürnberger Prozesse wirkten schließ-lich als eine Art Generalabsolution von außen.

Zum aktivierenden Schlagwort der Zeit wurde der „Wiederaufbau“. Wie verräterisch dieses zunehmend restau-rativ ausgelegte Wort war, darauf wies Walter Dirks schon 1948 in den Frankfurter Heften hin. Wer statt der Wiederherstellung des Alten einen sozialen und kulturellen Neuaufbau forderte, stand somit unversehens am Rand der sich früh formierenden Wirtschaftswunder-Gesellschaft. Kein Wunder, daß dabei viele kulturelle Initiativen, vor allem nonkonforme Zeitschriften und Verlage, aufgeben mußten.

2


Jene kleine Gruppe dagegen, die um 1950 in Ulm an der Donau die Gründung einer neuartigen Hochschule vorbereitete, konnte sich durchsetzen. Inge Scholl und Otl Aicher hatten bei ihrer Arbeit an der Ulmer Volkshochschule erfahren, wie groß das Bedürfnis nach einer kulturellen Neuorientierung war. Zusammen mit einigen Freunden entwarfen sie das Programm einer Schule für Gestaltung mit gesellschaftspolitischer Ausrichtung. In ihrer pädagogischen Konzeption verband sich antifaschistische Haltung mit demokratischer Hoffnung. Graphik sollte zur sozialen Kommunikation werden, Produktgestaltung die Humanisierung des Alltags befördern.

Nach vielen Schwierigkeiten, besonders bei der Finanzierung, begann die Hochschule für Gestaltung (HfG) im Sommer 1953 mit dem Unterricht. Zwei Jahre später zog man auf den Ulmer Kuhberg in das eigene, von Max Bill entworfene Gebäude. Von dieser Höhe über dem Donau-tal wollte die HfG in der Nachfolge des Bauhauses wirken,freilich mit einem wesentlichen Unterschied. Während das Bauhaus die Ausbildung in den freien Künsten als Voraussetzung für die Gestaltung einer guten Industrieform betrachtete, propagierte die HfG das unmittelbare, sachliche Eingehen auf die gestellte Aufgabe. Deshalb gab es in Ulm weder Künstlerateliers für Maler und Bildhauer noch Werkstätten für Kunsthandwerk.

In seinem Text „bauhaus und ulm“, der den biographischen Schlüssel darstellt für die hier versammelten Aufsätze und Vorträge, hebt Otl Aicher diesen Unterschied hervor: „damals in ulm mußten wir zurück zu den sachen, zu den dingen, zu den produkten, zur straße, zum alltag, zu den menschen. wir mußten umkehren. es ging nicht etwa um eine ausweitung der kunst in die alltäglichkeit, in die anwendung. es ging um eine gegenkunst, um zivilisationsarbeit, um zivilisationskultur.“

Daraus spricht auch das Pathos des 1922 geborenen Kriegsheimkehrers, für den die „bewältigung des wirklichen“ auf der Tagesordnung stand und nicht die Beschäftigung mit zweckfreier Ästhetik. So herrschte in der HfG die Ansicht vor, Kunst sei ein Ausdruck von Flucht vor dem Leben. Vor allem aber wollte man den Bereich der Produktgestaltung von künstlerischen Ansprüchen freihalten, um Formalismen vorzubeugen.

3


Wieder wurde die deutsche Provinz zu einem Vorort von Moderne und Fortschritt. Wie beim Bauhaus in Weimar und Dessau bot der Boden einer mittelgroßen Stadt nicht nur die Möglichkeit zu konzentrierter Arbeit. Die Enge des Milieus mitsamt den lokalen Vorbehalten und Animositäten zwang die HfG ganz besonders zur Begründung und Rechtfertigung ihrer Praxis. In dieser Spannung fühlte man sich auf dem Kuhberg unabhängig – und man war es auch. Die Geschwister-Scholl-Stiftung als freie Trägerin garantierte eine relativ große Staatsferne, die eigenen Einnahmen, die häufig die Hälfte des Jahresetats der Hochschule ausmachten, stärkten das Selbst-bewußtsein.

Als Institution war die HfG ein Zwerg, ihre Ausstrahlung aber reichte weltweit. Was lockte Studenten aus 49 Nationen nach Ulm? Sicher das avancierte Lehrprogramm, bei dem die sozialen Dimensionen von Gestaltung im Mittelpunkt standen, ebenso die pädagogischen Ziele, darunter die Erziehung zur Argumentation und eine fachübergreifende statt fachspezifische Ausbildung. Wesentlich für den Erfolg der HfG war freilich, daß sich der Aufbruchs-geist der Gründer auf Dozenten und Studenten übertrug. Nicht frei von messianischen Zügen, engagierte man sich gemeinsam für den Aufbau einer neuen industriellen Kultur: von der Produktgestaltung und der visuellen Kommunikation über Informationssysteme bis zum seriellen Bauen. Technik und Wissenschaft sollten dazu dienen, diese vorausschauende Gestaltung der Alltagskultur ins Werk zu setzen.

Im konservativen Kulturklima der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft war die HfG eine kreative Insel. Sie behauptete sich bis 1968 als experimentelle Einrichtung in Zeiten, in denen mit dem Slogan „Keine Experimente“ Wahlen gewonnen wurden. Sie lehrte soziale und kulturelle Verantwortung mit Blick auf die Zukunft, während gerade in den Universitäten der bürgerlichmuseale Bildungskanon reaktiviert wurde. Gegen den „Muff von tausend Jahren“ und die plüschige Gemütlichkeit der wirtschaftlich arrivierten Republik suchte man in Ulm praktische Wege für Aufklärung, Kritik und Wahrhaftigkeit. Mitten im westdeutschen „Neon-Biedermeier“ entstanden so die Umrisse einer sachlichen, demokratischen, weltoffenen Dingkultur.

Die HfG selbst als auch die dort entwickelten Geräte, Erscheinungsbilder, Drucksachen und Bausysteme wurden im nach wie vor mißtrauischen Ausland als Zeugnisse eines „anderen Deutschlands“ wahrgenommen. Die Schnörkellosigkeit, ja Nüchternheit der Gegenstände und Entwürfe dokumentierte einen Abschied vom „deutschen Wesen“. Ähnlich wie der deutsche Pavillon von Egon Eiermann und Sep Ruf auf der Weltausstellung 1958 in Brüssel überzeugten die Ulmer Leistungen durch die Einheit von Technologie, Funktionalität und Ästhetik.

Wenn einer als Lehrer und Vorbild die Entfaltung der HfG wesentlich prägen konnte, war es Otl Aicher. Er verkörperte nicht nur die personelle Kontinuität seit der Vorbereitungsphase, sondern konnte sich auch in den beiden großen Konflikten durchsetzen: Sowohl bei der negativ entschiedenen Frage, ob Kunst in das Lehrangebot aufgenommen werden solle, was 1957 zum Weggang von Max Bill führte, als auch Anfang der sechziger Jahre in der Auseinandersetzung zwischen „Theoretikern“ und „Praktikern“. Für Aicher war der Vorrang praktischer Arbeit selbstverständlich. Scharf wandte er sich 1963 gegen „die unkritische wissenschaftsgläubigkeit mit ihrem aufgeblähten trieb zur analyse und ihrer fortschreiten-den impotenz des machens“.

4


Kein Meister ohne Lehrjahre: Auch und gerade für die Lehrer war die HfG eine hervorragende Schule. In den programmatisch angelegten Konflikten zwischen Theorie und Praxis begründete und präzisierte Otl Aicher seine Position eines Realismus, der für die frühen sechziger Jahre nicht untypisch war. Martin Walser etwa schrieb damals: „Da dieser Realismus ja keine Erfindung der Will-kür ist, sondern eine einfach fällige Art, etwas anzuschauen und darzustellen, kann man sagen: er wird einen weiteren Schritt ermöglichen zur Überwindung ideen-hafter, idealistischer, ideologischer Betrachtungsweisen.“ Was Walser für die Literatur erhoffte, wurde Aicher zur Maxime seiner Arbeit für den richtigen Gebrauch der Dinge.

Den Optimismus, in die Welt gestaltend eingreifen zu können, der die HfG im ganzen trug, hat sich Aicher bewahrt. Zurück auf die Ulmer Erfahrungen geht aber auch seine Opposition gegen den Glauben an die Planbarkeit der Verhältnisse. Heute steht für Aicher fest, daß soziale und wirtschaftliche Großplanungen, die sich technischer Verfahren und wissenschaftlicher Erkenntnisse instrumentell bedienen, untaugliche Mittel sind, die Welt zu humanisieren. Trotz aller Effizienz in Teilbereichen beschleunigen sie sogar die Zerrüttung der gesellschaftlichen Beziehungen und die Verwüstung der Erde bis zur Gefährdung der Grundlagen menschlicher Existenz. Im gleichen Maße, wie der Mensch die Welt zu einem Artefakt gemacht hat, ist seine Unfähigkeit gewachsen, die...

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