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Die Zensoren

Wie staatliche Kontrolle die Literatur beeinflusst hat

AutorRobert Darnton
VerlagSiedler
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl368 Seiten
ISBN9783641156787
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis19,99 EUR
Der Zensor, dein Freund und Überwacher. Ein faszinierendes Stück Kulturgeschichte
Der Zensor als systemtreuer, ignoranter Bürokrat, der einem autoritären, repressiven Staat dient und der Literatur erheblichen Schaden zufügt - dies ist das gängige Bild. Dass es jedoch viel zu kurz greift, beweist Robert Darnton in seiner fesselnden, glänzend recherchierten Darstellung. Der renommierte US-Historiker zeigt, nach welchen Mechanismen die Kontrolle von Literatur funktioniert hat und wer die Menschen waren, die dahinter steckten.

Das vorrevolutionäre Frankreich, Indien zur Zeit der Kolonialherrschaft, das DDR-Regime - um sich dem Phänomen der Zensur zu nähern, blickt Robert Darnton auf unterschiedliche Zeiten und unterschiedliche Orte. Im Mittelpunkt seiner Studie steht die Person des Zensors, seine Arbeit, sein Selbstverständnis, seine Beziehung zu Autoren, Verlegern und Buchhändlern. Dass der Zensor dem Literaturbetrieb nicht notwendigerweise schaden wollte, sondern sich bei aller Staatstreue auch als sein Unterstützer begriff, ist nur eine der überraschenden Erkenntnisse. So entsteht auf Grundlage exklusiven Quellenmaterials ein ungewöhnliches, facettenreiches Stück Kulturgeschichte - von einem der renommiertesten Historiker unserer Zeit.

Robert Darnton, geboren 1939, ist Professor für Geschichte an der Harvard University. Seine Forschungen widmen sich der Kultur-, Ideen- und Mediengeschichte, insbesondere im Frankreich des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Seine Bücher, etwa über 'Mesmerismus' oder 'Das große Katzenmassaker' gehören zu den Klassikern der Geschichtsschreibung und sind vielfach ausgezeichnet worden.

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Leseprobe

Eine erste Antwort liefert der Wortlaut des Privilegs, das hinter den Approbationen in Form eines königlichen Schreibens an die Hofbeamten abgedruckt ist: Der König lässt wissen, dass er dem Verfasser des Buchs, dessen Name an dieser Stelle erstmals auftaucht, das Exklusivrecht erteilt hat, dieses zu vervielfältigen und über Mittelsmänner in der Buchhändlergilde zu vertreiben. Der lange und komplizierte Text enthält zahlreiche Vorgaben zur materiellen Beschaffenheit des Buchs. Es sei »auf gutem Papier und in schönen Lettern entsprechend den Vorschriften des Buchhandels« zu drucken. Letztere legten detailliert einen überprüfbaren Qualitätsstandard fest: Das Papier musste einen bestimmten Anteil an Lumpen enthalten, während die Lettern so kalibriert zu sein hatten, dass ein m exakt die Breite von drei l hatte – Colbertismus in Reinform, eine unter dem Finanzminister Jean-Baptiste Colbert entwickelte Politik staatlicher Eingriffe, die den Handel fördern sollten, unter anderem durch ein vorgeschriebenes Mindestmaß an Qualität und durch den Schutz heimischer Gilden mithilfe von Einfuhrzöllen. Der Text des Druckprivilegs endete wie alle königlichen Edikte: »Car tel est nostre plaisir.« (»Weil es uns so gefällt.«) Rechtlich gesehen, durfte das Buch erscheinen, weil der König Gefallen an ihm fand und ihm seine »Gnade« erwies. Der Ausdruck »grâce« taucht denn auch in sämtlichen bedeutenden Dokumenten um den Buchhandel auf. Tatsächlich untergliederte sich die Direction de la librairie, die für die Aufsicht über den Buchmarkt zuständige königliche Behörde, in zwei Abteilungen: in die Librairie contentieuse, die in Streitigkeiten zu entscheiden hatte, und die Librairie gracieuse, die Druckprivilegien erteilte. Hinter dem Privileg war abschließend in mehreren Absätzen festgehalten, dass dieses in das Register der Buchhändlergilde eingetragen und in vier Anteile aufgeteilt worden war, die jeweils ein Buchhändler erworben hatte.

Aus heutiger Sicht mutet all dies eher merkwürdig an: Zensoren preisen den Stil und die Lesbarkeit des Buchs, anstatt ketzerische Passagen herauszustreichen. Der König spendet dem Band seine Gnade. Und Mitglieder der Buchhändlergilde teilen diese Gnade unter sich auf und erwerben sie als Eigentum. Was ging hier vor sich?

Als eine Möglichkeit, dieses Rätsel zu lösen, bietet es sich an, das Buch des 18. Jahrhunderts mit bestimmten englischen Marmeladengläsern oder Keksdosen zu vergleichen, die auf Ausländer seltsam wirken, weil sie das Siegel »Hoflieferant Ihrer Majestät, der Königin« tragen. Das Buch trug gleichsam ein Gütesiegel, da es mit einer königlichen Druckgenehmigung ausgestattet war, erteilt von Zensoren, die sich für seine insgesamt herausragende Qualität verbürgten. Zensur war nicht einfach ein Verfahren, um ketzerisches Gedankengut auszumerzen. Sie war positiv: eine königliche Empfehlung für das Buch mit der offiziellen Aufforderung, es zu lesen.

Unter dem Ancien Régime herrschte das Prinzip des »Privilegs«. Der Begriff leitet sich etymologisch von den lateinischen Wörtern »lex« (Gesetz) und »privus« (einzeln, gesondert) her, bedeutet also »Ausnahmegesetz« oder »Vorrecht«. Das Privileg bestimmte nicht nur in Frankreich, sondern in den meisten Teilen Europas den Aufbau der Gesellschaft im Allgemeinen. Das Recht hatte für den Einzelnen unterschiedliche Gültigkeit, da jeder davon ausging, dass alle (Männer und noch mehr Frauen) ungleich geboren und Hierarchien von Gott gegeben sowie der Natur inhärent seien. Eine Gleichheit vor dem Gesetz war außer für wenige Philosophen für die meisten Europäer unvorstellbar. Das Recht war eine besondere Gabe, die Einzelnen oder Gruppen aus Tradition oder dank königlicher Gnade zufiel. Und wie wohlgeborene »Männer von Rang« genossen auch erlesene Bücher Privilegien. Tatsächlich funktionierte das Druckprivileg auf drei Ebenen des Verlagsgewerbes. Privilegiert wurden das Buch (außer in England gab es ein Urheberrecht im modernen Sinn noch nicht), der Buchhändler (nur Mitglieder der Gilde durften mit Büchern überhaupt handeln) und die Gilde selbst (die als exklusive Körperschaft gewisse Privilegien, insbesondere die Befreiung von den meisten Steuern, genoss). Kurz, die Monarchie der Bourbonen errichtete ein ausgefeiltes System, um die Macht des gedruckten Wortes in ihrem Sinne zu lenken. Und als Produkt dieses Systems stand das Buch stellvertretend für die Macht des gesamten Regimes.

Der Standpunkt des Zensors

So stellten sich aus typografischer Sicht die formalen Charakteristika von Frankreichs Ancien Régime dar. Wie sieht das System aus, das hinter der Fassade der Titelseiten und Privilegien operierte, wie die Arbeit der Zensoren? Zum Glück liefert eine Reihe von Handschriften in der Bibliothèque nationale de France einen reichhaltigen Fundus an Auskünften darüber, wie Zensoren ihre Aufgaben in den 1750er- und 1760er-Jahren erfüllten. Hunderte Briefe und Gutachten, die sie Chrétien-Guillaume de Lamoignon de Malesherbes, dem Leiter der Buchhandelsverwaltung (Direction de la librairie) schickten, zeigen auf, wie sie bei der Arbeit vorgingen und insbesondere mit welchen Begründungen sie Anträge auf ein Privileg bewilligten oder ablehnten.3

Da ihre Gutachten als vertrauliche Mitteilungen an Malesherbes konzipiert waren, bewerteten sie die überprüften Bücher mit einer Offenheit, wie sie in den förmlichen Approbationen nicht erscheinen konnte. Bei manchen Manuskripten gaben sie natürlich nur eine Versicherung ab, dass sie keine Angriffe auf Religion, Sitten oder Staat enthielten – die konventionellen Kriterien, von denen sich ein Zensor leiten ließ. Viele Gutachten beinhalteten indes zudem positive Vermerke zum Stil und Inhalt, sei es auch nur in einem oder zwei Sätzen. So lautete eine typische Empfehlung für ein Privileg: »Auf Anordnung von Monseigneur, dem Kanzler, habe ich die Lettres de M. de la Rivière gelesen. Sie [die Briefe] erscheinen mir gut verfasst und voller Verstand und erbaulicher Reflexionen.«4 Texte, die Begeisterung entfachten, ernteten dick aufgetragenes Lob. Ein Zensor gab einen ausgefeilten Bericht über sämtliche Vorzüge, derentwegen ein Band über die britischen Inseln ein Druckprivileg verdiene: tadelloser Aufbau des Stoffs, superbe Geschichte und präzise Geografie; es sei die Art Werk, die des Lesers Neugierde befriedige.5 Ein anderer empfahl ein Buch über Ethik hauptsächlich wegen dessen ästhetischer Qualitäten. Zwar fehle dem Ton eine gewisse Erhabenheit, doch sei es schlicht und solide verfasst, mit amüsanten Anekdoten angereichert und stofflich so präsentiert, dass es das Interesse des Lesers fessele, während es ihn von den Vorzügen der Tugend überzeuge.6 Wenige positive Gutachten erreichen sogar die Länge einer Rezension.7 So ließ sich ein Zensor bei einem Reisebericht zu einer Lobeshymne hinreißen, unterbrach sich selbst und rang sich dann zu einer knappen Empfehlung durch, um nicht »das Gebiet der Herren Journalisten zu betreten«.8 Weit davon entfernt, sich wie Wächter der Ideologie zu gebärden, schrieben die Zensoren als Gelehrte, deren Gutachten geradezu selbst ein literarisches Genre bildeten. Ihre schriftstellerischen Bedenken fallen besonders in ablehnenden Gutachten auf, bei denen man eher erwartet hätte, dass sie sich stärker darauf konzentrieren würden, häretische Äußerungen auszumachen. Ein Zensor geißelte den »lockeren und ausgelassenen Ton« eines Traktats zur Kosmologie.9 Ein anderer hatte gegen eine Biografie des Propheten Mohammed theologisch nichts einzuwenden, empfand sie aber als oberflächlich und unzulänglich recherchiert.10 Ein dritter wollte für ein mathematisches Lehrbuch deshalb keine Empfehlung aussprechen, weil die Probleme nur oberflächlich durchgearbeitet und von einigen Zahlen die Quadrate und dritten Potenzen nicht mit angegeben worden seien.11 Ein vierter lehnte eine juristische Abhandlung ab, weil sie von unpräzisen Begrifflichkeiten, falschen Datierungen von Dokumenten und einem falschen Verständnis von Grundprinzipien gekennzeichnet sei. Und es wimmele von Rechtschreibfehlern.12 Ein Bericht zu den Feldzügen des Preußenkönigs Friedrichs II. vergrämte einen fünften Zensor – nicht wegen respektloser Äußerungen über die französische Außenpolitik, sondern wegen ihrer »Zusammenstellung ohne Geschmack und Urteilsvermögen«.13 Und ein sechster lehnte eine Apologie des wahren Glaubens gegen die Angriffe von Freidenkern hauptsächlich deswegen ab, weil sie hingeschludert worden sei:

Dies ist überhaupt kein Buch. Welche Anliegen der Autor verfolgt, erfährt man erst, wenn man es ganz zu Ende gelesen hat. Er schlägt eine Richtung ein und macht wieder kehrt. Viele Überlegungen sind dürftig und oberflächlich. Um Lebendigkeit bemüht, ist sein Stil überschwänglich. […] Er gerät ganz häufig in Lächerlichkeit und Dummheit, weil er unbedingt Schönes verkünden will.14

Natürlich verurteilten die Zensoren in ihren Gutachten vielfach auch unorthodoxe Gedanken und verstanden sich sicherlich als Verteidiger von Kirche und König. Aber sie gingen zudem davon aus, dass eine Approbation zugleich eine Leseempfehlung beinhaltete und dass ein Druckprivileg für ein Buch auch bedeutete, dass es mit dem Segen der Krone erschien. Nach ihrem Selbstverständnis als Gelehrte oder sogar Literaten waren sie entschlossen, wie einer es fasste, »die Ehre der französischen...

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