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Die zentralasiatischen Sowjetrepubliken und die sowjetische Außenpolitik in der Dritten Welt während der Entstalinisierung

Vom 'eigenen' zum 'ausländischen' Orient

AutorMoritz Deutschmann
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2010
Seitenanzahl95 Seiten
ISBN9783640701483
FormatPDF/ePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis20,99 EUR
Magisterarbeit aus dem Jahr 2009 im Fachbereich Geschichte - Asien, Note: 1,0, Humboldt-Universität zu Berlin (Institut für Geschichtswissenschaften), Sprache: Deutsch, Abstract: Diese Magisterarbeit widmet sich einem in der Historiographie des Kalten Krieges selten diskutierten Widerspruch: Warum unterstützte ausgerechnet die Sowjetunion, die selbst kein Nationalstaat, sondern ein Vielvölkerreich war, mehr als jeder andere Staat im 20. Jahrhundert die Auflösung der europäischen Kolonialreiche und inspirierte nationalistische Politiker in vielen Ländern der Dritten Welt? War die Sowjetunion nicht selbst, wie viele in den postsowjetischen Staaten heute behaupten, das letzte europäische Kolonialimperium? Diese Fragen verweisen auf das Verhältnis zwischen Nation und Vielvölkerreich innerhalb der Sowjetunion, das in den letzten Jahren ein Schwerpunkt der Forschung zur sowjetischen Geschichte war. Gleichzeitig wirft die Arbeit ein neues Licht auf die Beziehungen der Sowjetunion zur Dritten Welt in der Epoche der Dekolonisation. Die Arbeit schließt an neuere Geschichten des Kalten Krieges an, die jenseits der politischen Ereignisgeschichte auch die sozial- und kulturgeschichtlichen Hintergründe von Außenpolitik in den Blick nehmen. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Rolle der Sowjetrepubliken in Zentralasien, die ab den fünfziger Jahren von sowjetischen Politikern als Vorbild für die neuen Nationalstaaten der Dritten Welt angepriesen wurden. Die zentralasiatischen Republiken sollten als Beispiel dafür dienen, wie Sozialismus und Nationsbildung im 'unterentwickelten Orient' miteinander verbunden werden konnten. Zahlreiche Delegationen aus der Dritten Welt reisten nach Zentralasien und umgekehrt wurden zentralasiatische Muslime als vorbildliche Repräsentanten einer angeblich postkolonialen sowjetischen Ordnung in die Dritte Welt geschickt. Sogar als Pilger in Mekka sollten Usbeken und Tadschiken der islamischen Welt die Vorzüge des sowjetischen Sozialismus nahebringen. Diese im Geist des sowjetischen 'Internationalismus' stattfindenden Begegnungen waren oft weniger harmonisch als es sowjetische Propaganda behauptete. Gerade im Kontakt mit den neuen Eliten der Dritten Welt wurden die Spannung zwischen Nation und Imperium im sowjetischen Selbstverständnis sichtbar. Die Arbeit beruht nicht nur auf Sekundärliteratur und veröffentlichten Quellen, sondern bezieht an vielen Stellen auch unpubliziertes Material aus russischen Archiven ein. Sie leistet damit nicht nur einen konzeptionellen Beitrag zu einer Globalgeschichte der Sowjetunion, sondern erschließt auch Quellen, die als Grundlage für weitere Arbeiten in diesem Feld dienen könnten.

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Leseprobe

 2.Nation und Vielvölkerreich in der Sowjetunion


 

Thema dieses Kapitels ist die besondere sowjetische Verbindung von Nationalstaatsbildung und Vielvölkerreich und ihre Entwicklung von den 1920er Jahren über den Stalinismus zu Chruščëvs „Tauwetter“. Zunächst werde ich relativ knapp die wichtigsten Entwicklungen der sowjetischen Nationalitätenpolitik von der Oktoberrevolution bis zu den späten 1930er Jahren behandeln. Es wird deutlich werden, inwiefern die Sowjetunion von Anfang an ein “gegen den Verdacht des Imperialismus”[20] gegründeter Staat war, der sich als Alternativmodell zum russländischen Imperium und zu den westeuropäischen Kolonialimperien verstand (1). Der zweite Teil geht ausführlicher auf die Entwicklung nach Stalins Tod ein, als eine Verlagerung politischer Macht an die Republiken mit einer bewussten Dezentralisierung des Staatsapparates zusammenfiel (2). Schließlich komme ich auf die Rezentralisierung und die neuen Integrationsmechanismen zu sprechen, mit denen Chruščëv zur Stabilität des sowjetischen Vielvölkerreiches bis zur Mitte der 1980er Jahre beitrug (3).

 

 2.1.Ein “Imperium der Nationen”[21]?


 

Im internationalen Vergleich war die Gründung der Sowjetunion nur einer von mehreren Versuchen, die in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg unternommen wurden, die politische Ordnung von Vielvölkerreichen grundlegend zu ändern.[22] Einerseits traten Nationalstaaten an die Stelle von Vielvölkerreichen: so etwa im Fall des Habsburgerreiches in Ostmitteleuropa oder der neuen türkischen Republik, die aus Teilen des Osmanischen Reiches entstand. Andererseits gab es in den europäischen Kolonialimperien Versuche, imperiale Ordnungen auf einer neuen Grundlage fortzuführen, am deutlichsten vielleicht im Mandatssystem, durch das die osmanischen Gebiete im Nahen Osten auf ihre spätere staatliche Unabhängigkeit vorbereitet werden sollten. Die Besonderheit des sowjetischen “Imperiums der Nationen” bestand darin, dass es beide Tendenzen vereinigte und Elemente einer nationalstaatlichen Ordnung mit den Herrschaftsstrukturen eines Vielvölkerreichs verband.

 

Dass die Bolschewiki sich die Forderung nach “nationaler Selbstbestimmung” für die nicht-russischen Völker des russländischen Imperiums zu eigen machten, war keineswegs eine Selbstverständlichkeit. In den Jahren vor der Oktoberrevolution hatte es unter den Bolschewiki eine intensive Debatte über das Verhältnis zwischen Sozialismus und Nationalstaat gegeben. Auf der einen Seite standen internationalistische Positionen, die jede Form von Nationalismus als Produkt kapitalistischer Produktionsverhältnisse ablehnten und eine sozialistische Gesellschaft als Gesellschaft ohne Nationalstaaten entwarfen. Dagegen wandten sich unter anderem Lenin und viele der nicht-russischen Bolschewiki, wie etwa Stalin, die die Ansicht vertraten, dass man den nicht-russischen Nationalisten Zugeständnisse machen müsse, schon um mit der Kontinuität zaristischer Politik zu brechen.[23] 

 

Die “Nationalitätenpolitik” – ein Begriff der rückblickend wesentlich mehr politische Kohärenz suggeriert als wirklich vorhanden war – lässt sich als Kompromiss zwischen beiden Positionen verstehen. Aus dem russländischen Imperium sollte eine Union von formell selbständigen, gleichberechtigten, sozialistischen Republiken werden, wobei die Bezeichnung “Sowjetunion” die Abkehr von der russländischen imperialen Tradition zum Ausdruck bringen sollte. Ein fein abgestuftes System von territorial organisierten Autonomierechten sollte der oft komplexen Minderheitensituation gerecht werden. Gleichzeitig sollten aber zentralisierte Institutionen, allen voran die kommunistische Partei und Teile des Staatsapparates, vor allem eine zentralisierte Planwirtschaft, den Staat zusammenhalten. Diese sollten ein revolutionäres Programm verwirklichen, das seine Ursprünge in den europäischen Traditionen der Aufklärung und des Marxismus hatte. Die Gründung nationaler Republiken auf dem Gebiet des früheren Zarenreiches war also nicht das Ziel, sondern lediglich eine Strategie, um das weitergehende politische Programm der Bolschewiki zu verwirklichen.[24]

 

In ihrer Implementierung war die Aufteilung des russländischen Imperiums in verschiedene nationale Republiken jedoch mehr als nur eine Frage formaler politischer Organisation oder möglichst effektiver Machtausübung. Lenin und viele andere Bolschewiki kamen aus der Ideenwelt des späten 19. Jahrhunderts, und bei aller Neigung zu internationalistischen Ideen hielten sie den Nationalstaat für ein notwendiges Stadium der gesellschaftlichen Entwicklung.[25] Sie glaubten an die Existenz verschiedener Völker, die sie als territorial, kulturell und sprachlich unterschiedene Ethnien verstanden. Bei der Grenzziehung der Republiken orientierten sie sich an Konzepten von Ethnographen im russländischen Imperium und in Westeuropa; daneben war die wirtschaftliche Integration des Gesamtstaates ein wichtiger Gesichtspunkt.[26] Lenin, Stalin und ihre Mitstreiter setzten alles daran, die Institutionen und die Kultur des Nationalstaats selbst dort einzuführen, wo es sie bisher nur in Ansätzen gegeben hatte. In einem nationalstaatlichen Rahmen sollten die nicht-russischen Völker des russländischen Imperiums, die nach Auffassung der Bolschewiki aufgrund ihrer Ausbeutung durch die Russen in ihrer gesellschaftlichen Entwicklung “rückständig” waren, im neuen sowjetischen Staat durch ein gezieltes Programm der ökonomischen und kulturellen Modernisierung auf den Stand der Russen gebracht werden.[27] 

 

Das Ziel, irgendwann eine kommunistische Gesellschaft ohne nationale Grenzen zu schaffen, verloren die Bolschewiki zwar nie völlig aus den Augen und “Nationalismus” war in der Sowjet­union immer ein Schimpfwort. Aber die neuen Machthaber glaubten an ein Stadienmodell der Geschichte, dem zufolge die nicht-russischen Völker des Zarenreiches zunächst das “nationale Stadium” ihrer Geschichte durchlaufen müssten, um dann irgendwann in einer einheitlichen, klassenlosen Gesellschaft aufzugehen.[28] Die Nation sollte also, anders als im russländischen Imperium oder den europäischen Kolonialreichen der Zwischenkriegszeit kein Problem mehr sein, sondern Teil der Lösung;[29] nationale Unabhängigkeitsbewegungen sollten nicht mehr den Zusammenhalt des Gesamtstaates gefährden, sondern sie sollten das Medium sein, durch das die Bolschewiki ihre revolutionären Vorstellungen verwirklichen wollten.

 

In Zentralasien stellte die Gründung “nationaler Republiken” und die Förderung der nicht-russischen Nationalbewegungen einen besonders deutlicher Bruch mit der Herrschaftspraxis des russländischen Imperiums dar. Denn mehr als jeder andere Teil des Imperiums ähnelte die russische Provinz Turkestan einer Kolonie nach europäischem Vorbild. Die beiden Chanate in Buchara und Chiva, die zwar nicht unmittelbare Teile des Imperiums waren, aber durch Verträge an dieses gebunden waren, glichen den britischen Prinzenstaaten in Indien.[30] Die Regierung in Petersburg hatte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Idee einer russischen “Zivilisierungsmission” im “Orient” von den europäischen Kolonialmächten übernommen und präsentierte sich in Zentralasien als europäische Macht.[31]

 

Durch die Oktoberrevolution wurde diese Situation zwar in Frage gestellt, aber gleichzeitig wirkten imperiale Traditionen fort. In Zentralasien führte die Revolution zunächst zu einer anarchischen Situation, in der sich die unterschiedlichsten Gruppen gegenseitig bekämpften: zu der politischen Trennung in Gegner und Befürworter der Revolution kamen ethnische Konflikte zwischen den russischen Siedlern und der indigenen Bevölkerung sowie Auseinandersetzungen um Lebensmittel; durch den Zusammenbruch der Versorgungswege nach Zentralrussland während des Bürgerkrieges gab es große Hungersnöte.[32] Die russischen Arbeiter, die die lokalen Sowjets kontrollierten, sahen nicht ein, wieso sie die Macht mit der muslimischen Bevölkerung teilen sollten. Sie nutzten die Ressourcen des untergegangenen Imperiums, um die Bemühungen der muslimischen Nationalbewegung um nationale Selbstbestimmung gewaltsam zu unterdrücken.[33] Es waren gerade solche ethnischen Auseinandersetzungen, die weite Teile des früheren Zarenreiche durchzogen, auf die die bolschewistische Nationalitätenpolitik eine Antwort sein sollte.[34]

 

Obwohl die vom Zentrum in Moskau propagierten  nationalitätenpolitischen Grundsätze in der Realität nur unter erheblichen Schwierigkeiten durchzusetzen waren, konnten sie schließlich zumindest in einer Aufteilung Zentralasiens in fünf verschiedene Republiken realisiert werden, die im Wesentlichen 1924 stattfand, wobei der Status der einzelnen Gebiete und die Grenzen später noch häufiger geändert wurden.[35] Die verschiedenen neuen Republiken in Zentralasien waren zwar nicht völlig künstliche Gebilde, wie häufig während des Kalten Krieges behauptet, sondern beruhten teilweise auf Diskussionen, die es schon seit dem frühen 20. Jahrhundert gegeben hatte. Außerdem waren lokale Parteimitglieder in hohem Maße an der Ziehung der Grenzen und späteren Korrekturen beteiligt.[36] Trotzdem war der Aufbau...

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