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E-Book

Die Zukunft der Demokratie

Kritik und Plädoyer

VerlagVerlag C.H.Beck
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl365 Seiten
ISBN9783406726156
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis10,99 EUR
Die Herausforderung der Demokratie durch den Aufstieg autoritärer Regime und den Angriff des politisch-religiösen Radikalismus, aber auch die Krise der Repräsentation, das Schwinden der Demokratie im Inneren bestimmen die öffentliche Debatte. Der Glaube, dass der Prozess der Modernisierung die Demokratie notwendig befördern und unaufhaltsam verbreiten werde, hat sich als trügerisch erwiesen. Die Zukunft der Demokratie steht nicht länger außer Frage. Sie bedarf der Kritik und des Plädoyers. Das Buch enthält die überarbeiteten und erweiterten Beiträge einer Vortragsreihe der Carl Friedrich von Siemens Stiftung in München, die große Beachtung fand. Angesehene Wissenschaftler und führende Intellektuelle analysieren den Zustand der repräsentativen Demokratie in Deutschland wie der Mehrebenendemokratie in Europa und entwickeln konkrete Reformvorschläge. Sie untersuchen die Fragen, wie entscheidungsfähig Demokratien sind und was die amerikanische Demokratie so außergewöhnlich macht. Sie behandeln die globalen Dimensionen der Demokratie und blicken in prospektiver Absicht auf den «Arabischen Frühling» zurück. Sie unterziehen geläufige Missverständnisse der Kritik, desgleichen die Illusion des demokratischen Geschichtsglaubens. Mit Beiträgen von Sabino Cassese, Dan Diner, Horst Dreier, Egon Flaig, Friedrich Wilhelm Graf, Heinrich Meier, Herfried Münkler, Dietrich Murswiek, Thomas L. Pangle und Peter Sloterdijk. In der Edition der Carl Friedrich von Siemens Stiftung ist von den Herausgebern erschienen: «Politik und Religion. Zur Diagnose der Gegenwart» (2017).

<br>Friedrich Wilhelm Graf ist Professor em. für Systematische Theologie und Ethik an der Universität München und Ordentliches Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. <br><br>Heinrich Meier leitet seit 1985 die Carl Friedrich von Siemens Stiftung in München und ist Professor der Philosophie an den Universitäten München und Chicago. <br>

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Leseprobe

FRIEDRICH WILHELM GRAF


Einleitung


I. Unbekannte Zukünfte


Wer nach der Zukunft von Gesellschaften, Staaten, politischen Institutionenordnungen und sozialen oder kulturellen Einrichtungen gleich welcher Art fragt, begibt sich in eine erkenntnistheoretisch schwierige Situation. Denn der temporale Modus «Zukunft» ist dadurch bestimmt, daß er das bald und unausweichlich kommende andere der «Vergangenheit» und zugleich das Ende der «Gegenwart» ist, die zukünftig zur Vergangenheit geworden sein wird. Mit Niklas Luhmann, einem ausgewiesenen Spezialisten für Temporalsemantik, kann man zwischen «der Zukunft (oder: dem Zukunftshorizont) der Gegenwart als dem Reich des Wahrscheinlichen/Unwahrscheinlichen» einerseits und «den künftigen Gegenwarten» andererseits unterscheiden, «die immer genau so sein werden, wie sie sein werden, und nie anders».[1] Schon mit Blick auf die Vergangenheit oder die vielen ganz unterschiedlichen Vergangenheiten sind Grenzen des Wissenkönnens evident; was einst – wann und wo auch immer – tatsächlich geschah, ist nicht zuletzt wegen mangelnder Quellen nur zu einem geringen Teil bekannt. Auch mit Blick auf die Gegenwart ist die Perspektivität menschlichen Wahrnehmens und Begreifens zu betonen: Niemand kennt die gegenwärtige Welt insgesamt. Mehr noch gilt dies mit Blick auf «die Zukunft». Sie ist gerade dadurch definiert, daß man von ihr nichts oder zumindest nichts Genaues wissen kann. Wäre es anders, wären den Menschen selbst die langfristigen Folgen ihrer Entscheidungen und Handlungen bestens bekannt, und das Problem nichtintendierter schlechter Folgen subjektiv gut gemeinten Handelns existierte nicht. In einer Welt des gesicherten Zukunftswissens wären die meisten Menschen unendlich reich, weil sie immer nur die auf lange Sicht richtigen, weisen Entscheidungen getroffen und etwa in besonders profitable Unternehmen investiert, also außergewöhnlich erfolgversprechende, große Wertsteigerungen bringende Aktien gekauft hätten. Aber gesichertes Zukunftswissen ist eine Illusion. Menschen sind trotz ihrer Vernunftausstattung endliche, durch Irrtumsfähigkeit und begrenzte Orientierungskraft bestimmte Wesen, die nicht einmal Wahlergebnisse zutreffend prognostizieren oder beim Wetterbericht für die kommenden Tage das Risiko falscher Voraussage ausschalten können. Der temporale Modus der Zukunft ist durch Kontingenz bestimmt, und so mag es sein, daß es ganz anders kommt, als wir meinen, hoffen oder beabsichtigen. Gewiß kann und darf man gegenwärtige Trends in die Zukunft hinein fortschreiben und mit den Mitteln rationaler Prognose, etwa durch mathematische Rationalität, wahrscheinliche Entwicklungen vorauszusagen suchen. Dann wissen wir etwa, daß mehr Elektromobilität kommen wird und autonomes Fahren schon bald im Bereich des Wahrscheinlichen liegt. Aber es lassen sich keine vernünftigen Argumente dafür entwickeln, daß das futurologisch Vermutete tatsächlich eintreten wird. Denn niemand kann ausschließen, daß politische Ereignisse oder Entwicklungen eintreten, die den Menschen die Lust am Fahren nehmen oder Mobilität überhaupt unmöglich machen werden. Gesellschaften können sich vor katastrophalen Unfällen in großtechnologischen Einrichtungen wie etwa Atomkraftwerken zu schützen versuchen oder umfassende Präventionsmaßnahmen gegen Naturkatastrophen entfalten. Aber sie können nicht effektiv garantieren, daß es zu solchen Katastrophen niemals kommen wird. «Die Zukunft» bleibt riskant.

Erkenntnistheoretisch schwierig ist die Rede von «der Zukunft» auch deshalb, weil der Kollektivsingular suggeriert, es gäbe so etwas wie die eine Zukunft. Es dürfte sehr viel sinnvoller sein, im Plural von «Zukünften» zu sprechen. Denn Vorstellungen von Zeit und Geschichte sind kulturell pfadabhängig, also äußerst vielfältig und heterogen. So kann es keineswegs als gesichert gelten, daß Menschen unterschiedlicher Herkunft dasselbe meinen, wenn sie von «der Zukunft» sprechen. Der Begriff Zukunft eröffnet einen extrem weiten Imaginationsraum, in den hinein Menschen ihre je eigenen Vorstellungen des Kommenden, von ihnen Erwarteten, sei es Befürchteten, sei es Erhofften projizieren können. Gerade mit Blick auf die Frage nach der Zukunft der Demokratie legt sich die entschiedene Pluralisierung der einen Zukunft in viele Zukunftsentwürfe nahe: Demokratie ist ein notorisch unscharfer, deutungsoffener und deshalb interpretationsbedürftiger Begriff. Seit ihren Anfängen war die liberale Demokratie eine institutionell äußerst vielgestaltige politische Ordnung, die der grundlegenden Idee der freien Selbstbestimmung aller Bürger in unterschiedlichen Verfahren und Einrichtungen Geltung zu verschaffen suchte. Das klassische Beispiel dafür ist das für die normative Idee der liberalen Demokratie konstitutive Prinzip der gleichen, freien und allgemeinen Wahl. Dieses Prinzip kann in außerordentlich divergenten nationalen oder bundesstaatlichen Wahlrechtsordnungen konkretisiert werden, die jeweils durch historisch kontingente Elemente geprägt sind. Man kann das am Beispiel des Wahlrechts in der Bundesrepublik Deutschland sehen: Die demokratietheoretisch höchst problematische Fünfprozentklausel, mit der die Wahlentscheidungen jener Bürger faktisch und folgenreich – die großen Parteien profitieren von ihr in erheblichem Ausmaß – annulliert werden, die sich für eine kleine, nur relativ wenige Wähler attrahierende Partei entschieden haben, läßt sich als Antwort auf das Scheitern der parlamentarischen Demokratie von Weimar und aus der in den frühen Jahren der westdeutschen Demokratie elementaren Sorge erklären, «Bonn» dürfe nicht «Weimar» werden.

So scheint es mit Blick auf die Zukunft der liberalen Demokratie nicht nur nicht ausgeschlossen, sondern eher wahrscheinlich, daß diese Ordnung der Freiheit sich je nach Ort und Zeit verschieden entwickeln kann und wohl auch wird. Die Zukunft der Demokratie mag in den USA anders aussehen als in vielen Ländern Asiens[2] und Lateinamerikas oder in europäischen Gesellschaften. Aber auch in Europa ist es der Fall, daß sich demokratische Prozesse gegensätzlich, widersprüchlich entwickeln und daß sich so trotz aller relativen Homogenisierungsversuche durch europäische Rechtssetzung und Rechtsprechung divergente Typen von Demokratie herausbilden. Selbst sehr aufmerksame Zeitgenossen können nicht wissen, in welche Richtung etwa die politischen Verhältnisse in Polen und Ungarn ausschlagen werden. Denn es ist unklar, ob die begrenzten rechtlichen Reaktionsmittel der Europäischen Union – den politischen Willen vorausgesetzt, sie effektiv auszuüben – dazu taugen, den drohenden oder nach Einschätzung vieler Beobachter bereits massiv eingetretenen Umbau der demokratisch-rechtsstaatlichen Institutionenordnung in ein autoritäres Herrschaftssystem zu verhindern. Mit Blick auf die Zukunft aktuell gefährdeter Demokratien läßt sich wohl nur sagen: Ohne selbstbewußte Demokraten, die mutig und diskursiv kämpferisch die vielen Vorzüge demokratischer Herrschaftsordnungen gegenüber autokratischen bzw. tendenziell diktatorischen Regimen öffentlich und mit überzeugenden Argumenten bekunden, wird die liberale Demokratie keine gute Zukunft haben.

Grenzen des Wissenkönnens lassen sich auch mit Blick auf andere demokratierelevante politische Konstellationen nicht transzendieren. So kann man, um ein für Europa und insbesondere Deutschland wichtiges Beispiel zu nennen, nichts Seriöses darüber sagen, ob der religiös grundierte Versuch des türkischen Staatspräsidenten, die Republik Türkei in eine diktatorial-cäsaristische «Führerdemokratie» mit plebiszitären Elementen umzuwandeln, auf Dauer erfolgreich sein wird. Denn politische Entwicklungen werden nicht allein durch Macht, Herrschaftsordnung und Institutionensystem beeinflußt, sondern auch durch ökonomische Prägekräfte, außenpolitische Zufälle und Konflikte zwischen konkurrierenden gesellschaftlichen Akteuren. Gerade religiöse Mentalitäten und mit ihnen verbundene moralische Vorstellungen guten Lebens und Handelns bestimmen politisch relevante Weltdeutungen und das Selbstverständnis politischer Akteure oft sehr stark. Viele religiöse Ideen und mythische Vorstellungen in den monotheistischen Religionsfamilien stehen aber in elementarer Spannung zu modernen rationalen Konzepten demokratischer Herrschaft, für die immer die Idee der...

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