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E-Book

Diese verdammten liberalen Eliten

Wer sie sind und warum wir sie brauchen

AutorCarlo Strenger
VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl171 Seiten
ISBN9783518762158
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR

In der Debatte über den Aufstieg nationalistischer und illiberaler Parteien ist ein altes Gespenst wieder aufgetaucht - das Gespenst der liberalen Kosmopoliten: gut ausgebildete, international vernetzte Wissenschaftlerinnen, Journalisten oder Politikerinnen, die sich gegenseitig ihrer moralischen Überlegenheit versichern. Die Kluft zwischen Kosmopolitinnen und heimatverbundenen Kommunitaristen gilt als einer der zentralen Konflikte unserer Zeit.

Eine zutreffende Diagnose? Oder ist die Vorstellung von entwurzelten liberalen Eliten bloß ein Zerrbild? Der Psychoanalytiker und Publizist Carlo Strenger kennt diese Gruppe nur allzu gut: weil er selbst zu ihr gehört - und aus dem Alltag seiner therapeutischen Praxis. Anhand einschlägiger soziologischer Literatur verallgemeinert er seine Befunde. Ja, so die selbstkritische Einsicht, die liberalen Eliten sind oft zu arrogant. Und dennoch brauchen wir ihre Expertise. Strenger schließt mit einem doppelten Plädoyer: für mehr Bodenständigkeit unter den liberalen Kosmopolitinnen und eine liberal-kosmopolitische Grundausbildung für alle.



<p>Carlo Strenger, in der Schweiz geboren und aufgewachsen, war Professor der Psychologie an der Universität Tel Aviv. Er hat zahlreiche Bücher veröffentlicht und schrieb regelmäßig für den britischen <em>Guardian</em> und Israels führende liberale Zeitung <em>Haaretz</em>. Carlo Strenger ist am 25. Oktober 2019 im Alter von 61 Jahren in Tel Aviv verstorben.</p>

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7Prolog


Die Krise der liberalen Ordnung und die neuen Kosmopoliten

Während des Großteils des 20. Jahrhunderts gab es ziemlich eindeutige Paradigmen, anhand derer man die internationalen Beziehungen und die nationale Politik interpretieren konnte. Nach dem Ersten Weltkrieg beherrschte der Konflikt zwischen drei rivalisierenden Weltanschauungen – Liberalismus, Kommunismus und Faschismus – die Weltpolitik. Nach der Niederlage Deutschlands und Japans blieben während des Kalten Kriegs nur noch zwei Konkurrenten übrig: Liberalismus und Kommunismus. Als die Berliner Mauer gefallen und die Sowjetunion implodiert war, schien der Triumph des Liberalismus festzustehen – in einer berühmten Formulierung sprach Francis Fukuyama vom »Ende der Geschichte« (Fukuyama 1989, 1992). Der sprunghafte Anstieg der Anzahl der Demokratien von acht zu Beginn des Jahrhunderts auf zwei Drittel aller anerkannten Staaten an seinem Ende untermauerte diese These eindrücklich (Fukuyama 1992, Teil I). Nach dem 11. September 2001 rückte dann der Konflikt zwischen dem Westen und dem Islam ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Im Rahmen des »Krieges gegen den Terror« erfolgten die Invasionen in Afghanistan und im Irak. Für etwa ein Jahrzehnt war es der von Samuel Huntington identifizierte »Kampf der Kulturen«, der es uns erlaubte, uns einen Reim auf die Welt zu machen (Huntington 1996).

In den letzten Jahren hat sich der Fokus erneut verschoben: Nun ist es der nationalistische Populismus, der die liberale Ordnung – und zwar von innen – bedroht.

Die Türkei ist nur noch dem Namen nach eine Demokratie und entwickelt sich zügig zu einer religiös verbrämten Auto8kratie. Putins Russland scheint nicht einmal mehr die Fassade einer liberalen Demokratie aufrechterhalten zu wollen. Innerhalb der Europäischen Union zeichnen sich ähnliche Entwicklungen ab. Ostmitteleuropäische Staaten wie Ungarn, Polen, die Slowakei und die Tschechische Republik bekennen sich stolz zu einem System, das Viktor Orbán als »illiberale Demokratie« bezeichnet hat. In Österreich und Italien sind rechtsradikale Parteien an der Regierung beteiligt. Deutschland, Frankreich und die Niederlande erleben einen dramatischen Aufstieg rechtspopulistischer Parteien wie der Alternative für Deutschland (AfD), Marine Le Pens Rassemblement National, Geert Wilders' Partei für die Freiheit und Thierry Baudets Forum für Demokratie. Die United Kingdom Independence Party (Ukip) mobilisierte erfolgreich für den Ausstieg Großbritanniens aus der EU. Und vielleicht am bedrohlichsten: In den Vereinigten Staaten, die sich ein Jahrhundert lang als Führungsmacht der »freien Welt« verstanden, wurde ein unberechenbarer Demagoge ins Präsidentenamt gewählt, der aus seiner Verachtung für Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung sowie die liberale Weltordnung keinen Hehl macht, im Gegenteil: Er protzt damit. Trump regiert via Twitter und hat das Weiße Haus in einen Zustand des totalen Chaos versetzt.

Wenn es überhaupt ein Paradigma gibt, mit dessen Hilfe man etwas Ordnung in dieses Durcheinander bringen kann, so ist es das eines Konflikts zwischen Liberalismus und Autoritarismus und, damit zusammenhängend, zwischen Universalismus und Nationalismus. Liberale sind der Ansicht, dass staatliche Herrschaft auf einem Vertrag gründet und dass Staatsbürgerschaft allein durch formale Kriterien bestimmt ist; Nationalisten wiederum wollen Staat und Zugehörigkeit auf eine gemeinsame (reale oder imaginierte) ethnische Herkunft zurückführen. Liberale glauben an eine internationale Ordnung, die auf multilateralen Verträgen und dem Völkerrecht basiert, das, insbesondere im Fall schwerer Menschenrechtsverletzungen, Vor9rang hat gegenüber der nationalen Souveränität; Nationalisten wiederum halten dieses Verständnis des Völkerrechts für anmaßend und für eine Verletzung der Souveränität und des nationalen Selbstbestimmungsrechts. Liberale sehen in der EU das großartigste politische Experiment der letzten sieben Jahrzehnte; Nationalisten betrachten sie als expansives Projekt seelenloser Brüsseler Technokraten. Liberale sind überzeugt, dass Menschheitsherausforderungen wie Klimawandel und Migration nur durch globale Kooperation bewältigt werden können; Nationalisten halten all dies für Hirngespinste, die Liberale sich ausgedacht haben, um allen anderen ihre Ansichten aufzuzwingen.

Seit der illiberale Backlash Fahrt aufgenommen hat, haben Wissenschaftlerinnen und Kommentatoren sich in der Regel auf jene Gruppen konzentriert, die populistischen Demagogen ihre Stimmen geben. Die meisten Erklärungen stellen auf die Globalisierung ab, die ähnlich wie die industrielle Revolution zu dramatischen Veränderungen geführt hat – allerdings im Schnellvorlauf. Innerhalb weniger Jahrzehnte hat sich die Weltwirtschaft vollkommen verändert: Multinationale Konzerne verlagern die Produktion in Niedriglohnländer; in den alten westlichen Industrieländern verschwinden jene Jobs im verarbeitenden Gewerbe, die den Angehörigen der Arbeiterklasse einst ökonomische Sicherheit garantierten und das stolze Gefühl vermittelten, einen wertvollen Beitrag zum nationalen Wohlstand zu leisten. Viele von ihnen sind nun prekär in der Dienstleistungsbranche beschäftigt, während die oberen Klassen, denen sie zu Diensten sind, historisch beispiellose Vermögen angehäuft haben. Diese Tätigkeiten bieten ihnen (und ihren Kindern) keine sicheren Zukunftsaussichten mehr, von so etwas wie Produzentinnenstolz ganz zu schweigen.

Gleichzeitig haben viele Menschen den Eindruck, auch ihre kulturelle Identität sei bedroht: Angesichts zunehmender legaler wie illegaler Zuwanderung (in den USA meist aus Asien 10und Lateinamerika, in der EU aus Afrika sowie aus dem Nahen und Mittleren Osten) haben sie das Gefühl, am Ort ihrer Geburt nicht länger zu Hause zu sein; vielmehr sei ihr über die Jahrhunderte »organisch« gewachsener Lebensstil in Gefahr. Dies führt vermehrt zu Widerstand gegen Globalisierung sowie Migration und zu einer Betonung der ethnischen Wurzeln der Nation, oftmals mit implizit oder gar explizit rassistischen Beiklängen. Populistische Politiker sind sehr geschickt darin, entsprechende Ängste und Verunsicherungen zu instrumentalisieren; sie attackieren die »abgehobenen liberalen Eliten« dafür, die historische Einheit von Volk, Sprache und Staatsgebiet aufzulösen, die Nationen zusammenhält.

Doch wer sind eigentlich diese »abgehobenen liberalen Eliten«? Sie erhalten viel weniger Aufmerksamkeit als jene Bevölkerungsgruppen, die populistische Parteien unterstützen; in der öffentlichen Debatte herrscht bisweilen große Konfusion. Oft werden die »liberalen Kosmopoliten« umstandslos mit den Angehörigen jener kleinen Finanzelite in einen Topf geworfen, die einen wachsenden Anteil der weltweiten Vermögen auf sich vereint und einen disproportional großen Einfluss auf die Politik ausübt. Das gilt insbesondere für die USA, wo die Regeln für Wahlkampfspenden so verändert wurden, dass jene, die über ausreichende Mittel verfügen, Politikerinnen und Politiker praktisch nach Belieben manipulieren können.

Die vermeintlich »abgehobenen liberalen Eliten«, um die es in diesem Buch gehen soll, werden jedoch gerade nicht über ihren materiellen Wohlstand definiert, auch wenn es ihnen in der Regel finanziell durchaus gutgehen mag. Sie gehören meist zur (oberen) Mittelschicht, sind aber keineswegs reich. Sie haben so gut wie immer ein Hochschulstudium absolviert, sind in den Medien, der Kunstszene und der Wissenschaft überrepräsentiert und machen jene Gruppe der Meinungsführer aus, deren Ansichten aufgrund ihrer Ausbildung oder ihres Berufs besondere Autorität zukommt (vgl. Kapitel I.1 unten). Ihr Status 11beruht, mit Pierre Bourdieu (1982 [1979]) gesprochen, weit stärker auf ihrem kulturellen als auf ihrem sozialen und ökonomischen Kapital.

Empirische Studien, auf die ich im ersten Kapitel ausführlicher eingehen werde (Florida 2002, Goodhart 2017a), zeigen, dass die überwältigende Mehrheit der Angehörigen dieser Gruppe liberale und universalistische Ansichten vertritt; dass sie Bigotterie, Rassismus und Provinzialität verachten und versuchen, ihnen zu entkommen; dass sie sich eher um die Menschheit insgesamt sorgen als um ihre unmittelbaren Nachbarn oder ihre Landsleute. Und dass sie extrem mobil sind: Ihre Talente stehen überall auf dem Globus hoch im Kurs, es zieht sie in...

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