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'Dieser Krieg ist der große Rassenkrieg'

Krieg und Holocaust in Europa

AutorBirthe Kundrus
VerlagVerlag C.H.Beck
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl337 Seiten
ISBN9783406675225
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
'Dieser Krieg ist der große Rassenkrieg' - in Hermann Görings martialischen Worten aus dem Oktober 1942 spiegelte sich der Wille des NS-Regimes, die Vernichtung der europäischen Juden gnadenlos voranzutreiben - notfalls bis zum eigenen Untergang. Radikaler Antisemitismus und Rassenhass, so zeigt dieser beeindruckende Überblick, waren die ideologischen Antriebskräfte hinter der Kriegspolitik des Dritten Reichs und führten zu einer beispiellosen Eskalation der Gewalt. Ausgehend von Hitlers Bekenntnissen in 'Mein Kampf' veranschaulicht Birthe Kundrus die verheerenden Auswirkungen des nationalsozialistischen Expansionsstrebens und zeichnet nach, wie das Regime im Verlauf des Zweiten Weltkriegs alle Maßstäbe der Humanität aufgab.

Birthe Kundrus ist Professorin für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der Universität Hamburg.

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Leseprobe

II.

«Was wird aus der Welt, wenn Deutschland siegt?» Kriege und Besetzungen bis Juni 1941


Wieluń, 1. September 1939, ein Städtchen in Polen, östlich von Breslau, 16.000 Einwohner: Trotz der Kriegsgefahr wähnten sich die Menschen sicher, denn es gab es in ihrem verschlafenen Provinznest nichts, was von militärischem Interesse gewesen wäre. Doch es kam anders. In der Frühe wurden die Bewohner vom Dröhnen der Flugzeuge geweckt. Auf dem Gelände des Krankenhauses explodierten Bomben, Fensterscheiben klirrten und fielen auf die Betten der Patienten. Dann stürzte das Haus zusammen. Überall lagen Trümmer. Sechs Schwestern und 26 Patienten starben. Noch zweimal sollten sich die deutschen Angriffe von insgesamt 29 Kampfbombern des neuen Typs JU 87 B wiederholen. Am Ende waren mehrere Hundert Bewohner tot, und die Stadt war zu 70 Prozent zerstört. Als die deutsche Infanterie am 2. September einmarschierte, fand sie den Ort fast menschenleer vor. Der vier Tage darauf eintreffende spätere NSDAP-Kreisleiter beschrieb die Zerstörungen: «Am hellen Tage können wir die ganze Wirkung der Bomben erkennen. Die Innenstadt ist vollkommen zerstört. Hier sind die Häuser abgebrannt und zusammengestürzt, von Bomben zerschmettert und fortgeblasen.» Aus den Steinhaufen «zusammengefallener Häuser sehen zerdrückte Betten, zerstörte Schränke, zerrissene Tücher hervor. Und dann war da ein süßlicher Geruch. Hier müssen noch Leichen unter den Steinen liegen.»[1]

Die Luftwaffe hatte die Stadt angegriffen, um ihre Maschinen nach dem spanischen Bürgerkrieg das erste Mal wieder im Feindeinsatz zu erproben. Der verantwortliche Offizier, Wolfram von Richthofen, mittlerweile zum Generalmajor befördert, kommentierte den Einsatz in seinem Tagebuch lapidar: «Das am ersten Tage angegriffene kleine Städtchen Wielun hat einige Häuser verloren und ist ein rechtes Drecknest. Besondere Angriffserfolge sind nicht zu erkennen.»[2] Richthofen verschleierte, was wirklich passiert war. Hier war eine Grenze überschritten worden, wie ein Chronist der Wehrmacht zu berichten wusste: «In Wielun waren die jungen Soldaten stark beeindruckt von den Verwüstungen, die der Stuka-Angriff hinterlassen hatte. Sie sahen, dass dieser Krieg keine Unterscheidung zwischen Militär und Zivilbevölkerung machte.» Die Kampftruppen der Division, die durch die Stadt fuhren, «dachten an ihre ferne westliche Heimat und hofften, dass dort ihren Angehörigen so etwas nie geschehen möge».[3]

Polen


Von Luftangriffen verschont zu bleiben hoffte am Tag des Kriegsbeginns auch Luise Solmitz in Hamburg. Sie füllte Badewanne und Gefäße mit Wasser. «General Unblutig» war gestern, nun wurde es ernst. Hitler wies alle Schuld am Krieg dem «jüdisch-demokratisch[en] Weltfeind»[4] zu. Willy Cohn, 51-jähriger Lehrer, SPD-Mitglied und Zionist, notierte in Breslau in sein Tagebuch: «Für diesen Krieg macht man das Judentum durchaus verantwortlich, weil man glaubt, daß es hinter England und Polen stand; dazu kommt noch, daß die jüdischen Männer nicht eingezogen worden sind.»[5] Klemperer fragte sich in den kommenden Wochen immer wieder besorgt: «Was wird nun aus uns???»[6]

Die Mehrheit der Volksgenossen blickte zunächst bang auf das Geschehen. Der Hamburger Schulrat Gustav Schmidt hielt am 1. September 1939 fest: «Stimmung für den Krieg ist nirgends zu spüren. Man ist gedrückt.»[7] Klemperer registrierte zwei Tage später aber auch Zuversicht: «Alles in allem: Nachrichten und Maßnahmen ernst, Volksstimmung absolut siegesgewiß, zehntausendmal überheblicher als 14.»[8] Der Einmarsch in das Nachbarland war für viele Deutsche gerechtfertigt, reagierte er doch nur auf angebliche Aggressionen Polens. Bislang war es doch gut gegangen, warum nicht auch jetzt? Selbst in Oppositionellenkreisen rang man sich zu der Haltung durch, nun, da es zum Schwur gekommen sei, dürfe niemand fernstehen und sich dem Ruf des Vaterlandes entziehen. Jeder habe «ein Deutscher zu sein, der für sein Volk»[9] stehe, schrieb der 44-jährige Reserveoffizier Wilhelm (Wilm) Hosenfeld seinem Sohn. In der Hauptstadt vermerkte Goebbels eine ruhige und gefasste Haltung, «voll einer verbitterten Entschlossenheit», und vergaß nicht, seiner eigenen Beharrlichkeit Ausdruck zu verleihen: «Und so soll es auch bleiben.»[10]

Dieser Selbstmobilisierung bedurfte es durchaus, denn von Zuversicht, gar Optimismus war im Berliner Regierungsviertel nur wenig zu spüren. Der Angriff auf Polen hatte in der Reichskanzlei vielmehr mit einem Anflug von Angststarre begonnen. Hitler hatte sich geirrt. Er hatte fest daran geglaubt, dass die Westmächte weiterhin stillhalten würden. Doch am 3. September 1939 gegen neun Uhr wurde ihm das Ultimatum Großbritanniens gemeldet (Frankreich würde um 17 Uhr folgen): Deutschland solle seine Truppen zurückziehen, oder es werde angegriffen. «Was nun?»[11], soll Hitler daraufhin fassungslos seinen Außenminister gefragt haben. «Nun» hatte der «Führer» zwar seinen Krieg, doch ganz anders, als er ihn sich vorgestellt hatte. Er wollte die Briten nicht als Feinde, sondern als Verbündete, er wollte, statt in einen vielleicht wieder Jahre dauernden Konflikt im Westen verwickelt zu werden, gegen Russland zu Felde ziehen, die Welt vom jüdischen Bolschewismus befreien – und damit den Pakt mit Stalin schnell wieder loswerden. Hitler fand sich in einer Lage wieder, in die er nie hatte kommen wollen: Krieg zugleich im Westen und Osten führen zu müssen. Davor hatten ihn die Militärs ja eindringlich gewarnt. Es mangelte an personellen Ressourcen ebenso wie an Kriegsmaterial. Hinzu kam: Die Verbündeten Italien und Japan waren keine große Unterstützung. Tokio war nach dem Hitler-Stalin-Pakt auf Distanz gegangen. Rom fand sich in der Rolle eines ungeliebten und kaum in Kenntnis gesetzten Komparsen wieder, dessen militärische Kräfte aus deutscher Sicht noch ausbaufähig waren. Beide Staaten erklärten sich als neutral beziehungsweise «nichtkriegführend».

Schlechte Voraussetzungen also für den Einfall in Polen. Doch das Regime hatte Glück: Die Westarmeen griffen kaum ein. Entgegen den ursprünglichen Zusicherungen gab es keine französische Großoffensive, die Heeresführung wagte nur einen schwachen Vorstoß an ihrer Ostgrenze, der wenige deutsche Truppen vom polnischen Schauplatz abzog. «Warum marschieren sie nicht?»,[12] fragte sich wie so viele andere auch die Oppositionelle Ruth Andreas-Friedrich. Die Antwort war: Frankreich sah sich weder auf dem Boden noch in der Luft in der Lage, das Reich erfolgversprechend und ohne Verletzung der Neutralität Belgiens anzugreifen. Seine Streitkräfte waren für eine Offensive schlicht nicht gerüstet. London wiederum reagierte in Anlehnung an seine Kriegführung im Ersten Weltkrieg zuvörderst mit einer Seeblockade. Das war aus strategischer Sicht eine naheliegende Entscheidung, denn die Flotte des britischen Übersee-Imperiums war der deutschen Marine haushoch überlegen. Ansonsten aber warteten London und Paris ab. Weder wollten sie Stalin provozieren, noch sah man für Polen eine realistische Chance. Und Sterben für Danzig? «Non!», wie Publizisten und Politiker die Stimmung in Frankreich auf den Punkt brachten. Die Westmächte ließen erneut einen Staat im Stich – in der Hoffnung, Berlin und Moskau würden über kurz oder lang ihr eigentümliches Zweckbündnis aufgeben und in einen langen Abnutzungskrieg eintreten, dem man dann in aller Ruhe und hochgerüstet zuschauen könne. Ergebnis war ein Sitzkrieg, der phony war oder drôle de guerre, der sich auf gelegentliche Luftangriffe und Auseinandersetzungen zur See beschränkte. Die Wehrmacht konnte sich auf Polen konzentrieren, was den Oberbefehlshaber des Heeres von Brauchitsch zu der Aussage trieb, er empfinde jeden «Tag Ruhe im Westen» als «ein Gottesgeschenk»[13].

Als eigentlichen Gegner machte die Wehrmacht weniger die polnischen Soldaten, die Generalstabschef Halder zu den «dümmste[n] in Europa»[14] erklärt hatte, als vielmehr die Zivilbevölkerung aus. Sie erwartete in Polen einen Guerillakrieg. Das Oberkommando des Heeres (OKH) hatte schon am 1. Juli 1939 in einem Merkblatt die Truppen gewarnt: Die polnische Bevölkerung sei «fanatisch, verhetzt und zur Sabotage sowie zu Überfällen fähig»[15], mit Freischärlern sei zu rechnen. Diese Befürchtung wurde nicht selten von Erfahrungen geleitet, die deutsche Offiziere in den verschiedenen Freikorpskämpfen nach Ende des ...

Inhaltsverzeichnis
Cover1
Titel3
Zum Buch337
Über die Autorin337
Impressum4
Inhalt5
«Dieser Krieg ist der große Rassenkrieg»7
I. «Wir sind vom Schicksal ausersehen …» Deutsche Außenpolitik bis September 193913
«Mein Kampf»14
Revisionen21
Expansionen42
II. «Was wird aus der Welt, wenn Deutschland siegt?» Kriege und Besetzungen bis Juni 194173
Polen74
«Blonde Provinzen»93
Nord-, West- und Südosteuropa105
III. «… nur ein Wind in diesen Steppen» Der Krieg gegen die Sowjetunion und die Besatzung in Europa 1941–1944135
Vernichtung136
Neue Eskalationen167
Niederlagen175
IV. «Wir könnten dann Europa in kürzester Zeit judenfrei haben» Der Holocaust 1941–1944197
Im Schatten von Barbarossa198
Völkermord221
Todesstille246
V. «Einmal kommt der Feind doch zu Euch» Die Zeit bis Kriegsende255
Behauptungen256
Verteidigungen275
Schluss298
Anmerkungen302
Auswahlbibliografie325
Bildnachweis330
Personenregister331

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