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E-Book

Dietrich Bonhoeffer

Der verklärte Fremde. Eine Biografie

AutorCharles Marsh
VerlagGütersloher Verlagshaus
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl592 Seiten
ISBN9783641153694
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis16,99 EUR
Sonderausgabe zum 75. Todestag
Dietrich Bonhoeffer, das ist der große, anständige Theologe im Widerstand gegen Hitler, einer der Heiligen des 20. Jahrhunderts! 75 Jahre nach seinem Tod scheint seine Geschichte erzählt, sein Leben begriffen zu sein. Aber: Stimmt das auch? Charles Marsh blickt hinter die Verklärung Bonhoeffers und bringt in seiner kritischen Biografie dessen Fremdheit neu zur Geltung. Ein intimes und überraschendes Porträt von einem verletzlichen und witzigen, erfolgsverwöhnten und zweifelnden, entschlossenen und doch immer wieder zaudernden Mann auf dem Weg zu sich selbst. Fesselnd und unterhaltsam erzählt.
  • Die erfolgreiche Biografie endlich als Sonderausgabe
  • Der etwas andere Blick auf den Menschen Bonhoeffer
  • Überraschend, fesselnd und unterhaltsam erzählt


Charles Marsh ist Professor für Theologie an der Universität von Virginia in Charlottesville/USA und Leiter des Projekts 'Lived Theology', das sich um einen fruchtbaren Austausch zwischen theologischem Denken und lebendiger religiöser Erfahrung bemüht. Er ist Autor zahlreicher Bücher. Sein Werk 'Gottes langer Sommer: Geschichten vom Glauben und dem Kampf um Bürgerrechte' wurde 1998 mit dem Grawemeyer Award in Religion ausgezeichnet. Über Charles Marsh' Buch 'Reclaiming Bonhoeffer' schrieb Eberhard Bethge: 'Dieses Buch ist eine Sensation. Niemand, der Bonhoeffers Erbe für die Gegenwart bestimmen will, kann es ignorieren.' 2009 erhielt Marsh ein Guggenheim Fellowship, 2012 war er Fellow an der American Academy in Berlin.

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Leseprobe

KAPITEL 1

1906 – 1923

KIND DER EWIGKEIT

Als Kind lag Dietrich Bonhoeffer nachts oft wach. Gemeinsam mit seiner Zwillingsschwester Sabine versuchte er, sich die Ewigkeit vorzustellen. Die Kinder konzentrierten sich ganz auf das Wort Ewigkeit, um jede Ablenkung auszuschalten, und mit der Zeit wurde aus dem Spiel ein Ritual.1 An Tagen, wenn Beerdigungen stattfanden und die von Pferden gezogenen Leichenwagen auf den nahegelegenen Friedhof zufuhren, schauten die Kinder vom Schlafzimmerfenster aus zu.2

Ewigkeit – Sabine fand sie »lang und unheimlich«3. Dietrich empfand das Wort als majestätisch und ehrfurchtgebietend.

Manchmal stellte er sich vor, wie er auf dem Totenbett lag, umgeben von Familie und Freunden, auf der Schwelle zum Himmel stehend. Er wusste, welche seine letzten Worte sein würden, und übte sie gelegentlich laut. Aber er wagte nicht, jemand anderem davon zu erzählen.4 Er hoffte, er würde den Tod wie einen lange erwarteten Gast willkommen heißen. Er wollte nicht von ihm überrascht werden. Aber dann, wenn er beim Zubettgehen davon überzeugt war, dass der Tod in genau dieser Nacht kommen würde, wurde ihm schwindelig. Die Wände seines Schlafzimmers begannen sich zu drehen, als stände er an der Mittelstange eines Karussells. Er stellte sich vor, wie er von der Schwester zum Bruder, vom Vater zur Mutter rennen und um Hilfe rufen würde. Das Gefühl, dass es genau jetzt geschehen würde, dass er in dieser Nacht in dem unendlichen Mysterium verschwände, war so real, dass er sich auf die Zunge beißen musste, um sich zu vergewissern, dass er noch unter den Lebenden war, dass er den intensiven Schmerz spüren konnte. In solchen Momenten fürchtete er, an einer »unheilbaren Krankheit« zu leiden.5

Als die Zwillinge getrennte Schlafzimmer bekamen, erfanden sie einen Code, um ihre metaphysischen Spiele fortsetzen zu können. Dietrich trommelte sacht an die Wand, »mahnende Bumse«, die besagten, dass es wieder Zeit war, über die Ewigkeit zu sinnieren. Ein weiteres Klopfen kündigte einen neuen Gedanken zu dem ernsten Thema an, und so ging es hin und her, bis einer von beiden schließlich nichts mehr vom anderen hörte.6 Normalerweise blieb Sabine irgendwann still. Wenn das Spiel zu Ende war, lag Dietrich wach. Das einzige Licht in seinem Zimmer kam von einem Paar von fluoreszierenden Kreuzen, die seine Mutter auf einen Tisch in der Ecke gestellt hatte.7 »Abends wenn ich schlafen geh, vierzehn Englein um mich stehn«, hörte er sie singen. Er mochte diesen Gedanken: Engel, die an seinem Bett standen. Und andere Engel, die die Kinder auch anderswo beschützten.8

Dietrich und Sabine Bonhoeffer im Jahr 1914

© Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Dietrich glaubte, das abendliche Ritual bewahre ihn davor, »vom Satan verschlungen zu werden«. Das schrieb Sabine später, gleichwohl es nur sehr wenige Hinweise auf den Teufel in den Schriften ihres Bruders gibt, weder in den frühen noch in den späten.9 Am Ende faszinierte der Tod ihn mehr, als dass er ihn ängstigte, und der Teufel bereitete ihm kaum Angst.10 »Gott will nicht, daß der Mensch sich fürchtet«, würde er eines Tages einer Gemeinde in einem vornehmen Londoner Vorort predigen. Gott will einzig und allein, dass Menschen leidenschaftlich und gierig »nach der Verheißung der Gnade Gottes greifen ...«11.

Anders als die meisten protestantischen Theologen des 20. Jahrhunderts war Dietrich Bonhoeffer kein Pfarrerssohn. Als sechstes von acht Kindern (seine Zwillingsschwester war das siebte) wurde er am 4. Februar 1906 in Breslau geboren. Die Mitglieder seiner Familie waren begabte Humanisten, die kirchliche Feiertage lieber in der festlichen Gesellschaft von Familie und Freunden begingen als in der Kirche. »Pistole mit Pfropfen, Soldaten!«, wünschte er sich in seinem ersten Brief an das Christkind.12 Später waren es Musikinstrumente, Anzüge, Pelzmützen, Hemden und Krawatten, Auslandsreisen, Schuhe für jede Gelegenheit oder die Werke von Immanuel Kant und G.W.F. Hegel. Meistens bekam er, was er sich gewünscht hatte.

Die Familie wohnte in der Birkenwäldchenstraße 9 im wohlhabenden Vorort Scheitnig. Gegenüber dem Haus folgte ein schmaler Park der Biegung der Alten Oder nach Süden über die Dombrücke hinaus zum Zoo und dem Bischofswald. Nach Norden führte ein schmaler Weg durch dichte Kiefernwälder zum Friedhof und zur Psychiatrie und Nervenheilanstalt, wo Dietrichs Vater arbeitete. Sabine erinnerte sich an einen Sommernachmittag, als ihr Bruder plötzlich verschwand, nachdem sie zum Abendessen gerufen worden waren. Es war mitten in einer Hitzewelle, die Niederschlesien überzog. Dietrich, sonnengebräunt, mit »einer Fülle weißblonden Haares«, war im Hof herumgerannt, um den Mücken zu entkommen. Schließlich hatte er Schutz in einer hohen Wiese in einer Ecke des Gartens gesucht zwischen Rosengarten und Grundstücksgrenze. Als sein Kindermädchen auf die Veranda kam und noch einmal zum Abendessen rief, folgte er diesem Ruf nur ungern. Ohne auf die Hitze und die einsetzende Dämmerung zu achten, wäre er lieber zufrieden in der Einsamkeit seines Geheimverstecks im sommerlichen Garten verborgen geblieben.13

Mit seinen massiven Mauern, schmalen Fenstern und spitzen Türmchen stand das Haus am Ostufer der Alten Oder an einer mit Kopfstein gepflasterten Straße, die zu einem weiteren kleinen Wäldchen führte. Bögen und Kragsteine belebten das Mauerwerk und die Kreuzblumen, Erker und das Fachwerk zeugten von gotischen und barocken Einflüssen. Durch das Walmdach und den vorgebauten Windfang, die breiten Traufen, Dachgauben und kleinen Dachfenster hatte man den Eindruck eines niederdeutschen Bauernhauses, das sich launenhaft nach allen Richtungen ausbreitete.

Der Rosengarten und der Gemüsegarten waren sorgfältig gepflegt. Auf dem übrigen Grundstück durfte sich die Vegetation wild ausbreiten, wie es der Mode entsprach. Hühner und Hähne liefen herum, auch auf dem in die Jahre gekommenen Tennisplatz. Ziegen und Schafe konnten sich außerhalb der Ställe frei bewegen und kamen auch schon mal ins Haus, wenn die Türen offen standen. Dietrichs Mutter hatte einen Kinderzoo mit »... Lachtauben und Eichhörnchen in hohen Käfigen, Schlangen und Echsen im Terrarium ... und ... Sammlungen von Steinen, Schmetterlingen, Käfern und Vogeleiern ...«14. Im Schatten einer Linde bauten Dietrichs Vater und seine älteren Brüder ein Baumhaus auf dunklen Pfählen, eine Gitterwerkkonstruktion mit einer kleinen Bühne zum Theaterspielen. In einem Sommer half Dietrich seinen älteren Brüdern, einen unterirdischen Gang von der Gartenlaube zu einem Felsen zu graben. Jenseits des drei Morgen großen Familiengrundstücks lag das, was die Nachbarkinder »die Wildnis« nannten. Dort senkte sich das Land sanft zum Fluss hin und zu einem Sumpf, wo sie Algen, Würmer, Eidechsen und Ochsenfrösche für ihre Terrarien sammelten oder um sie unter ihren Mikroskopen zu untersuchen.15

Die Nachricht, dass die Familie nach Berlin ziehen würde, mehr als 300 Kilometer von Breslau entfernt, kam für die Kinder überraschend und wurde mit Murren aufgenommen. 1912, als Dietrich sechs Jahre alt war, wurde seinem Vater Karl Bonhoeffer der Lehrstuhl für Neurologie und Psychiatrie an der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin angeboten, ein prestigeträchtiger Posten, der auch die Führung der Klinik für nervöse Leiden und psychiatrische Störungen umfasste.16 In Breslau, das viele Nobelpreisträger wie Max Born, Erwin Schrödinger, Fritz Haber und Otto Stern hervorgebracht hat, war seine Stellung schon mehr als respektabel gewesen.17 Aber Berlin bot ihm bessere Bedingungen für seine klinischen Studien, dazu ein höheres Gehalt und mehr Möglichkeiten im Hinblick auf die Ausbildung der Kinder. Außerdem gab es in einer Metropole mit zwei Millionen Einwohnern ausreichend Fälle von Hysterie und Sucht, die man studieren konnte.18

Paula Bonhoeffer und ihre acht Kinder (Susanne wird 1909 geboren)

© Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Zunächst mietete die Familie eine Wohnung in der Brückenallee, einer Straße unweit des Tiergartens, die es heute nicht mehr gibt. Das ehemalige königliche Jagdrevier Tiergarten war zu einem öffentlichen Park geworden. Vier Jahre später kaufte Karl Bonhoeffer eine Gründerzeitvilla im Grunewald, einem ehemals großen unberührten Waldgebiet, das der erste Kanzler des Deutschen Reichs Otto von Bismarck zum Wohnviertel hatte entwickeln lassen. Grunewald oder »grüner Wald« mit einer Kolonie prachtvoller Landhäuser in verschiedenen Baustilen war das ideale rus in urbe, denn es bot eine ländliche Atmosphäre, lag aber in der Nähe der Annehmlichkeiten der Stadt und in ausreichender Entfernung zu deren rauen und schmutzigen Seiten. Wissenschaftler, hochrangige Politiker, Gelehrte, Filmproduzenten und Filmstars, Finanziers und Industrielle – alle spazierten dieselben baumbestandenen Boulevards entlang...

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