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Differenzierungskonzepte sichtbar gemacht

Eine qualitative Fallstudie zur inneren Differenzierung im Mathematikunterricht der Primarschulstufe

AutorGabriel Schneuwly
VerlagWaxmann Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl369 Seiten
ISBN9783830980346
FormatPDF
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis35,99 EUR

Die Schule ringt um einen angemessenen Umgang mit der Heterogenität ihrer Schülerinnen und Schüler. Bezogen auf den Unterricht rückt somit ein didaktisches Prinzip wieder vermehrt in den Blickpunkt: innere Differenzierung oder Binnendifferenzierung. Die vorliegende Dissertation diskutiert in einer Verbindung von allgemein- und fachdidaktischer Perspektive dieses Prinzip und seine Umsetzung im Unterricht. Dabei interessiert vor allem die Perspektive von Lehrpersonen der Primarschule. In einer vergleichenden, qualitativen Fallstudie werden deren Differenzierungskonzepte für den Mathematikunterricht untersucht und auf der Grundlage des didaktischen Dreiecks visualisiert. Abschliessend wird mit Bezug auf Überlegungen von Weinert zur aktiven und proaktiven Differenzierung ein hypothetisches Modell der Kompetenzentwicklung von Lehrpersonen bezüglich innerer Differenzierung präsentiert.

Gabriel Schneuwly-Perler, geboren 1961, unterrichtete zunächst an der Primarschule. Nach einem Studium der Pädagogik war er in der Lehrerbildung des Kantons Freiburg (CH) in verschiedenen Funktionen tätig und leitete die deutschsprachige Grundausbildung der Pädagogischen Hochschule Freiburg. Seit einigen Jahren ist er als Studienleiter und Dozent am Institut für Weiterbildung der PHBern tätig.

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Leseprobe

1. Einleitung

1.1 Ausgangslage

 

Das Ringen der Schule um einen angemessenen Umgang mit der Heterogenität ihrer Schülerinnen und Schüler ist heute beinahe zu einem ihrer Strukturmerkmale geworden. Sie steht diesbezüglich von verschiedensten Seiten her unter Druck,
weil bessere Antworten auf das hinlänglich bekannte Phänomen gefordert werden (Bohl et al. 2012; Eckhart 2009; Reusser 2009; Scheunpflug 2008; Schneider 2008; Tillmann und Wischer 2006; Wenning 2007). Stellvertretend dafür sei Baumert zitiert, der in einem Interview die deutschen PISA-Ergebnisse1 folgendermassen kommentiert: „In der Verbesserung des Umgangs mit Differenz liegt vermutlich die eigentliche Herausforderung der Modernisierung des Systems“ (Baumert 2002; zit. nach Helmke 2009, S. 246).


Bezogen auf den Unterricht rückt somit ein didaktisches Prinzip wieder vermehrt in den Blickpunkt: Individualisierung oder innere Differenzierung. Hanke (2006) formuliert in einer Gesamtschau der aktuellen Schulentwicklungsforschung
verschiedene Herausforderungen und Perspektiven für die Grundschule. Darunter figuriert auch die Weiterentwicklung von Differenzierungsformen (ebd., S. 267). Auch Helmke schlägt in die gleiche Kerbe, wenn er postuliert, dass moderner Unterricht dadurch gekennzeichnet sei, dass „vielfältige organisatorische und didaktische Massnahmen der Differenzierung und Individualisierung der Heterogenität der Schüler-Eingangsvoraussetzungen gerecht werden sollen“ (2009, S. 246). Entsprechendes gilt für den angloamerikanischen Raum, wo Subban in ihrer umfassenden Literaturanalyse zu folgender Schlussfolgerung kommt: „A paradigm that is gaining ground in many educational circles is differentiated instruction“ (2006, S. 935).


Es gibt verschiedene Gründe für diese „Renaissance“ der Fokussierung auf innere Differenzierung:
Zunächst einmal ist der allgemeine gesellschaftliche Wandel zu nennen: Individualisierung, Diskursivität und Partizipation haben gesamtgesellschaftlich an Bedeutung gewonnen, und es kann ein Wechsel von der Anordnungs- zur Verhandlungsfamilie beobachtet werden (Reichenbach 1998). Viel stärker als früher wird das einzelne Kind von seinen Eltern als Individuum wahrgenommen. Von der Schule wird erwartet, dass sie diese Individualität aufgreift. Gepaart mit den hohen Erwartungen vieler Eltern an einen möglichst guten Bildungsabschluss jedes einzelnen Kindes (Paulus und Blossfeld 2007) kommt ein „homogenitätsversessener Unterricht“ (Grunder 2009, S. 115), der sich an einem „fiktiven Durchschnittsschüler“ (ebd.) orientiert – so charakterisiert Grunder (ebd.) die letzten 150 Jahre in deutschsprachigen Schulsystemen – an seine Grenzen. Migrationsbewegungen verstärken zudem die Effekte des sozialen Wandels hin zu einer allgemein grösseren gesellschaftlichen Heterogenität und zur Pluralisierung familialer Lebensformen, was auch in der Schule markant spürbar wird (Eckhart 2002; Schneider 2008). Heterogenität oder Diversity werden zu wichtigen Begriffen im gesamtgesellschaftlichen Kontext (Brügelmann 2002; Kiper et al. 2008; Scheunpflug 2008; Schneider 2008;
Wenning 2007). Die Gesellschaft als Ganzes wie die Schule als Subsystem suchen nach geeigneten Ansätzen im Umgang mit den Herausforderungen durch Heterogenität.Dabei wird im schulischen Kontext mehr und mehr versucht, den Heterogenitätsbegriff positiv zu besetzen: Heterogenität wird nicht mehr definiert als Andersartigkeit in der Differenz zu einer Norm, sondern als Vielfalt, welche sowohl Unterschiede als auch Gemeinsamkeiten umfasst (Brügelmann 2002). Es wird von einer „Pädagogik der Vielfalt“ gesprochen (Prengel 2006), die u.a. auf das Prinzip der inneren Differenzierung verweist.


Einen zusätzlichen Schub in der Differenzierungsthematik haben international vergleichende schulleistungsstudien wie PISA ausgelöst. Sie haben u.a. nachgewiesen, dass das Schulsystem im deutschen Sprachraum im Umgang mit Differenz deutliche Defizite aufweist (Hanke 2006, S. 265; Scheunpflug 2008; Trautmann und Wischer 2007, S. 159) und entsprechend in diesem Bereich grosser Handlungsbedarf besteht. Die PISA-Ergebnisse zeigen beispielsweise, dass ein beachtlicher Teil der leistungsschwächeren Jugendlichen am Ende der obligatorischen Schulzeit nicht die minimalen Kompetenzen erreicht hat, um am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können (Artelt et al. 2001; Bildungsmonitoring Schweiz [Ed.] 2003; Klieme et al. 2001) und dass der soziale Hintergrund (Bildungsferne, kognitiver Anregungsgehalt, Ausbildungsniveau) der Eltern einen wesentlichen Prädiktor für Schulerfolg darstellt (Helmke 2009, S. 249; Moser und Berweger 2002). Dieser Befund kollidiert mit dem wichtigen pädagogischen Prinzip der Chancengleichheit bzw. -gerechtigkeit, welches seinerseits eng mit dem Postulat der inneren Differenzierung verbunden ist. So hatten Klafki und Stöcker (ebd. 1976) in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts das Postulat der inneren Differenzierung gerade mit dem Abbau von Chancenungleichheit zugunsten Bildungsbenachteiligter begründet (vgl. Kap. 2.3).

Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Inhalt7
1.Einleitung10
1.1Ausgangslage10
1.2Ziele der Arbeit13
1.3Aufbau der Arbeit15
2.Differenzierung in Schule und Unterricht18
2.1Historische Spurensuche18
2.2Begriffliche Klärung20
2.2.1Abgrenzung: äussere und innere Differenzierung20
2.2.2Abgrenzung: innere Differenzierung und Individualisierung23
2.2.3Begriffsbestimmung innere Differenzierung24
2.2.4Adaptiver Unterricht27
2.2.5Exkurs I: Adaptive Lehrkompetenz30
2.2.6Natürliche Differenzierung31
2.2.7Zusammenfassung und Diskussion33
2.3Zielsetzungen der Differenzierung35
2.3.1Pädagogische Argumente35
2.3.2Entwicklungs- und lernpsychologische Argumente36
2.3.3Zusammenfassung und Diskussion37
3.Programme und Modelle innerer Differenzierung39
3.1Das Modell von Klafki und Stöcker39
3.2Weiterentwicklungen Fundamentum – Additum42
3.2.1Fundamentum und Additum bei Herber42
3.2.2Compacting und Enrichment in der Hochbegabtenpädagogik43
3.2.3Zusammenfassung und Diskussion44
3.3Offener Unterricht in der Tradition der Reformpädagogik45
3.3.1ELF und offener Unterricht45
3.3.2Zusammenfassung und Diskussion46
3.4Modelle in der Tradition des adaptiven Lernens47
3.4.1Mastery Learning oder zielerreichendes Lernen47
3.4.2Modell adaptiver Lernumwelten48
3.4.3Zusammenfassung und Diskussion48
3.5Neuere Programme und Modelle49
3.5.1Adaptiver Phasenplan49
3.5.2Das Aufgaben-Rad-Modell51
3.5.3Substanzielle Lernumgebungen52
3.5.4Zusammenfassung und Diskussion55
4.Innere Differenzierung in der Perspektive des didaktischen Dreiecks57
4.1Das didaktische Dreieck57
4.2Differenzierungsaspekte der Ziel- und Stoffkultur59
4.3Differenzierungsaspekte der Beziehungs- und Unterstützungskultur61
4.4Differenzierungsaspekte der Lehr- und Lernkultur64
4.5Modell innerer Differenzierung im didaktischen Dreieck65
5.Empirische Ergebnisse zur inneren Differenzierung67
5.1Einstellungen von Lehrpersonen68
5.2Verbreitung und Formen innerer Differenzierung69
5.2.1Reaktionsformen des Unterrichts70
5.2.2Einzelne Differenzierungsmassnahmen und -strategien71
5.3Wirksamkeit und Qualität innerer Differenzierung78
5.3.1Wirksamkeit von erweiterten Lernformen und offenem Unterricht78
5.3.2Qualitätsmerkmale des Unterrichts und ihre Bedeutung für innere Differenzierung81
5.3.3Wirksamkeit verschiedener Differenzierungsmassnahmenund -programme84
5.3.4Eine Literatur-Recherche zu Merkmalen wirksamer Differenzierung87
5.3.5Zusammenfassung und Diskussion88
5.3.6Exkurs II: Trägt innere Differenzierung zum Chancenausgleich bei?91
5.4Gelingensbedingungen innerer Differenzierung93
5.4.1Die Gelingensbedingungen im Einzelnen94
5.4.2Zusammenfassung und Diskussion95
6.Erkenntnisinteresse97
7.Forschungsfragen98
8.Methode100
8.1Methodologische Vorüberlegungen100
8.2Charakterisierung der vorliegenden Studie101
8.3Zirkularität im Forschungsprozess102
8.4Triangulationskonzept102
8.5Stichprobe104
8.6Datenerhebung108
8.6.1Etappen und zeitlicher Verlauf108
8.6.2Datenerhebungsverfahren110
8.7Datenaufbereitung und Datenauswertung116
8.7.1Datenaufbereitung117
8.7.2Datenauswertung im Überblick: zwei Phasen117
8.7.3Datenauswertung in Phase 1119
8.7.4Datenauswertung in Phase 2134
8.7.5Gütekriterien139
9.Ergebnisse142
9.1Offen erfasste Differenzierungskonzepte142
9.1.1Fallübersicht: Die zentralen Schlüsselkategorien143
9.1.2Erläuterung der Schlüsselkategorien in Verbindung mit Fallporträts145
9.1.3Zusammenfassung und Diskussion der Ergebnisse157
9.2Mit dem Modell des didaktischen Dreiecks erfasste Differenzierungskonzepte163
9.2.1Fallübersicht164
9.2.2Einzelfallanalyse, nach Gruppen geordnet165
9.2.3Fallvergleichende Analyse der einzelnen Differenzierungskategorien193
9.2.4Zusammenfassung und Diskussion der Ergebnisse208
9.3Mit der Weinert-Systematik erfasste Differenzierungskonzepte213
9.3.1Relevante Vergleichsdimensionen214
9.3.2Ergebnisse der qualitativen Inhaltsanalyse222
9.3.3Gruppierung der Fälle224
9.3.4Analyse inhaltlicher Zusammenhänge und Charakterisierung der Gruppen228
9.3.5Zusammenfassung und Diskussion der Ergebnisse238
10.Zusammenfassung und Diskussion zentraler Ergebnisse247
10.1Ergebnisse im theoretischen Teil247
10.2Ergebnisse der empirischen Untersuchung249
10.2.1Offen erfasste Differenzierungskonzepte249
10.2.2Mit dem Modell des didaktischen Dreiecks erfasste Differenzierungskonzepte250
10.2.3Mit der Weinert-Systematik erfasste Differenzierungskonzepte254
10.3Methodenreflexion257
10.4Ausblick259
11.Literatur262
12.Abbildungsverzeichnis281
13.Tabellenverzeichnis282
14.Experimental Task284
15.Interviewdurchführung286
16.Datenauswertung292

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