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Direkte Verhaltensbeurteilung in der Schule

Eine Einführung für die Praxis

AutorChristian Huber, Gino Casale, Michael Grosche, Thomas Hennemann
VerlagERNST REINHARDT VERLAG
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl123 Seiten
ISBN9783497612451
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis21,99 EUR
Verhaltensprobleme bei SchülerInnen sind oft mit Unterrichtsstörungen, schulischem Versagen und einem hohen Belastungsempfinden der MitschülerInnen und Lehrkräfte verbunden. Daher werden vielfach Fördermethoden eingesetzt, in der Hoffnung, dass diese wirken. Doch wie kann die Lehrkraft sicherstellen, dass eine Förderung beim Kind ankommt? Mithilfe der 'Direkten Verhaltensbeurteilung' (DVB), einem verlaufsdiagnostischen Instrument, können Lehrkräfte Schülerverhalten über einen bestimmten Zeitraum erfassen, die Wirkung von Fördermethoden einschätzen und diese ggf. anpassen. Das Buch liefert neben wichtigem Grundlagenwissen eine praxisnahe 'Schritt-für-Schritt'- Anleitung zur Planung, Umsetzung und Auswertung der DVB. So kann Verhalten passgenau gefördert werden!

Dr. Gino Casale, wiss. Mitarbeiter, Department Heilpädagogik und Rehabilitation, Univ. zu Köln, Institut für Bildungsforschung, Bergische Univ. Wuppertal. Prof. Dr. Christian Huber, Rehabilitationswissenschaften mit dem Förderschwerpunkt emotional-soziale Entwicklung, Bergische Univ. Wuppertal. Prof. Dr. Thomas Hennemann, Erziehungshilfe und sozial-emotionale Entwicklungsförderung, Univ. zu Köln. Prof. Dr. Michael Grosche, Rehabilitationswissenschaften mit dem Förderschwerpunkt Lernen, Bergische Univ. Wuppertal.

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Leseprobe

3 Die Direkte Verhaltensbeurteilung als verlaufsdiagnostische Methode

Die praktische Umsetzung mehrstufiger Fördersysteme (siehe vorheriges Kapitel) erfordert prozessdiagnostische Methoden, die genutzt werden können, um den Fördererfolg auf den Stufen 2 und 3 zu evaluieren. Die Direkte Verhaltensbeurteilung (DVB) ist eine solche Methode für den Bereich des unterrichts- und schulrelevanten Verhaltens von SchülerInnen. In mehrstufigen Fördersystemen wird sie schwerpunktmäßig auf den Stufen 2 und 3 eingesetzt.

Doch was ist die DVB überhaupt? Was sind zentrale Merkmale der Methode? Wie kann sie zur Verlaufsdiagnostik in der Schule genutzt werden? Diese und weitere Fragen wollen wir in diesem Kapitel klären.

3.1  Was ist die Direkte Verhaltensbeurteilung?

Die DVB stellt eine Kombination der systematisch-direkten Verhaltensbeobachtung und der Verhaltensbeurteilung mit Ratingskalen dar (Christ et al. 2009). Beide Methoden sind in der Verhaltensdiagnostik etabliert. Die Idee der DVB ist es, die Stärken beider diagnostischen Herangehensweisen zu nutzen, um jeweils die Schwächen der anderen zu kompensieren. Im Folgenden wollen wir kurz beide diagnostische Methoden vorstellen, um anschließend die DVB als Hybridform beider Zugänge darzustellen.

Systematisch-direkte Verhaltensbeobachtung

Bei systematisch-direkten Verhaltensbeobachtungen wird ein konkretes Verhalten in einer konkreten Situation direkt, also quasi während des Auftretens des Verhaltens, beobachtet (z. B. Stemmler / Margraf-Stiksrud 2015). Hierzu ist es erforderlich, dass ein beobachtbares Verhalten so konkret und spezifisch wie möglich benannt wird (z. B. „Die Schülerin meldet sich“, „Der Schüler bleibt auf seinem Platz sitzen“, „Die Schülerin ruft in die Klasse“). Darüber hinaus sollte die Beobachtungssituation klar umgrenzt sein (z. B. eine Unterrichtsstunde) und in vergleichbare Beobachtungsintervalle (z. B. fünf Minuten) aufgeteilt werden (Spinath / Becker 2011). In dieser Beobachtungssituation wird dann für die festgelegten Intervalle die Intensität (Auftretenshäufigkeit oder Auftretenslänge) des spezifischen Verhaltens dokumentiert, z. B. anhand von Strichlisten. Ein solches Vorgehen wird auch als time sampling bezeichnet. In den hier genannten Beispielen könnte dementsprechend für alle fünf Minuten einer Unterrichtsstunde für eine / n Schüler / in dokumentiert werden, wie oft sie / er sich gemeldet hat. Anschließend erfolgt eine Auszählung und eine Auswertung der gezeigten Verhaltensweisen. Hiermit sei auf eine elementar wichtig Eigenschaft von systematisch-direkten Verhaltensbeobachtungen hingewiesen: die Dokumentation des Auftretens des Verhaltens und die Interpretation des Verhaltens werden strikt voneinander getrennt!

Testgüte von Beobachtungen

Durch diese Vorgehensweise weisen systematisch-direkte Verhaltensbeobachtungen eine hohe Testgüte auf (Schmidt-Atzert / Amelang 2012): Das Verhalten wird hochgradig objektiv erfasst, da die Datenerhebung durch eine reine Dokumentation erfolgt, die in der Regel unabhängig vom Beobachter / von der Beobachterin ist. Außerdem kann über systematisch-direkte Verhaltensbeobachtungen das Verhalten sehr zuverlässig und genau erfasst werden, da es durch klare Kriterien zur Verhaltensoperationalisierung zielgenau beobachtet werden kann.

Tatsächlich gibt es in der Verhaltensdiagnostik keine andere Methode, die in so hohem Maße den klassischen Testgütekriterien entspricht, wie die systematisch-direkte Verhaltensbeobachtung (Cone 1998).

Gleichzeitig weist diese Vorgehensweise aber einen entscheidenden Nachteil für den verlaufsdiagnostischen Einsatz im hektischen und eng getakteten Schulalltag auf (Casale et al. 2015b). Systematisch-direkte Verhaltensbeobachtungen sind nicht ökonomisch und ohne zusätzliche personelle Ressource nicht zur häufigen und hochfrequenten Umsetzung geeignet. Sie erfordern einen hohen Aufwand hinsichtlich der Vorbereitung (sorgfältige Auswahl der Verhaltenskriterien, Segmentierung der Beobachtungssituation, Vorbereiten von Material zur Datenerhebung), der Durchführung (ausschließliche Konzentration auf eine / n SchülerIn, zeitgleiche Beobachtung und Dokumentation des Verhaltens) sowie der Nachbereitung (Auszählen der Verhaltensweisen, Deutung und Interpretation des Verhaltens). Hinzu kommt, dass den BeobachterInnen häufig empfohlen wird, vor der tatsächlichen Datenerhebung ein Beobachtungstraining zu absolvieren, da dies die Güte der erhobenen Informationen enorm steigert (Spinath / Becker 2011).

!Systematisch-direkte Verhaltensbeobachtungen weisen eine hohe Güte für Verhaltensmessungen auf. Für den häufigen und hochfrequenten Einsatz zur Verlaufsdiagnostik sind sie aufgrund mangelnder Ökonomie jedoch nicht geeignet.

Verhaltensbeurteilungen mit Ratingskalen

Eine zweite Möglichkeit zur Erfassung von konkretem Verhalten stellen Beurteilungsskalen dar. Bei Verhaltensbeurteilungen wird ein Verhalten anhand einer Skala mit verschiedenen Abstufungen über einen bestimmten Zeitraum beurteilt (Schmidt-Atzert / Amelang 2012). Häufig stehen hier spezifische Verhaltensweisen (z. B. „Melden bei Fragen“, „Konzentriert arbeiten“, „Selbstständig arbeiten“), die einer übergeordneten Verhaltensdimension zugeordnet werden können (z. B. in diesem Fall: lernbezogenes Verhalten), im Fokus des Interesses. Die Beurteilung erfolgt meist auf einer Likert-Skala, d. h., das Verhalten wird durch Zahlen, die eine inhaltliche Abstufung repräsentieren, eingeschätzt (z. B. 1 = das Verhalten wurde nicht gezeigt, 2 = das Verhalten wurde manchmal gezeigt, 3 = das Verhalten wurde immer gezeigt). Am Ende kann über die Bildung von Summen- oder Mittelwerten eine Aussage darüber getroffen werden, ob das Verhalten eine / r SchülerIn von einer Altersnorm abweicht, also im Vergleich zu einer großen Anzahl an Gleichaltrigen auffällig ist.

Durch diese Vorgehensweise ist die Verhaltensbeurteilung mit Ratingskalen sehr ökonomisch (Schmidt-Atzert / Amelang 2012). In der Regel dauert die Einschätzung einer Verhaltensweise auf einer Likert-Skala nur wenige Sekunden. Dadurch ist die grundsätzliche Vorgehensweise durchaus häufig und hochfrequent einsetzbar und gut für die Verlaufsdiagnostik geeignet.

Allerdings sind Verhaltensbeurteilungen mit Ratingskalen nicht nicht so genau wie systematische Verhaltensbeobachtungen. (Hoyt / Kerns 1999). Außerdem wird das Verhalten in der Regel über einen längeren Zeitraum (z. B. drei Monate) beurteilt. Verhalten kann jedoch stark situativ variieren und ist schnell veränderbar. Diese schnellen situativen Veränderungen sind durch Verhaltensbeurteilungen nur begrenzt abbildbar (Cone 1977). Verhaltensbeurteilungen mit Ratingskalen sind somit eher änderungsresistent.

!Verhaltensbeurteilungen mit Ratingskalen sind hinsichtlich des Aufwands zur Umsetzung hervorragend für die Verlaufsdiagnostik in der Schule geeignet. Sie sind allerdings relativ resistent gegenüber kurzfristigen Veränderungen und können daher nicht für die Messung von engmaschigen Verhaltensverläufen eingesetzt werden.

Die Direkte Verhaltensbeurteilung

Die Direkte Verhaltensbeurteilung (DVB) ist eine Kombination aus der systematischen-direkten Verhaltensbeobachtung sowie den Verhaltensbeurteilungen mit Ratingskalen (Christ et al. 2009). Die Grundidee ist, dass diejenigen Elemente der Beobachtung, die für die hohe Testgüte verantwortlich sind (konkrete Operationalisierung des Verhaltens, Segmentierung der Beobachtungssituation), mit denjenigen Elementen der Beurteilungen mit Ratingskalen, die eine hohe Ökonomie gewährleisten (Likert-Skala mit definierten Kategorien), kombiniert werden. In der Umsetzung wird ein konkret operationalisierter Verhaltensausschnitt eine / r SchülerIn (z. B. konzentriertes Arbeiten) in einer Situation, in der dieses Verhalten relevant ist (z. B. Stillarbeitsphasen), beobachtet und unmittelbar im Anschluss an diese Situation anhand einer Ratingskala beurteilt. Die DVB bedient sich demnach also den Vorzügen beider diagnostischer Methoden, um das Verhalten der SchülerInnen ökonomisch, aber dennoch mit hoher Testgüte zu erfassen.

Grundsätzlich lassen sich zwei Formen der DVB unterscheiden: sogenannte Single-Item-Skalen (SI-Skalen) und Multiple-Item-Skalen (MI-Skalen) (Christ et al. 2009).

Single-Item-Skalen

SI-Skalen erfassen mit nur einem einzigen Item einen sehr breiten und übergeordneten Verhaltensbereich (z. B. Arbeitsverhalten, Störverhalten). Dies ist in der Praxis besonders dann nützlich, um bei SchülerInnen ein eher globales Verhaltensproblem zu beurteilen (Chafouleas et al. 2009; Miller et al. 2015). Interessiert sich eine Lehrkraft also für die Entwicklung eines übergeordneten Verhaltensbereichs bei ihren SchülerInnen, wäre die SI-Skala die Methode der Wahl.

Die SI-Skala eignet sich jedoch nur begrenzt dazu, sehr konkrete und spezifische Verhaltensweisen (z. B. „Sich melden“, „Konzentriert arbeiten“) zu erfassen. Die Erfassung spezifischer Verhaltensmerkmale ist jedoch dann besonders hilfreich, wenn wenige, aber dafür sehr spezifische Verhaltensweisen von SchülerInnen das Ziel der Förderung darstellen. Für diese Zwecke kann eine MI-Skala mit drei bis fünf spezifischen...

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