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E-Book

Von Diven, Dränglern und fleißigen Lieschen

Feders Charakterkunde der Pflanzen

AutorJürgen Feder
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl288 Seiten
ISBN9783644404922
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Ein Bestimmungsbuch der besonderen Art. Unzählige Deutsche schwärmen in ihrer Freizeit aus, um Pflanzen zu bestimmen - so auch Jürgen Feder. Aber er kategorisiert nicht nach den üblichen Kriterien wie Blütenform oder -farbe, sondern erkennt den Charakter der Pflanzen. Da gibt es solche, die kapriziös und divenhaft sind, andere sind exzentrisch und hochnäsig und wieder andere unverwüstlich oder gar melancholisch. Und so lernt der interessierte Leser die Pflanzenwelt einmal ganz anders kennen. Und wer weiß, vielleicht findet man ja auch auf diesem Wege die Pflanze, die am besten zum eigenen Charakter passt?

Jürgen Feder, 1960 in Flensburg geboren, ist Dipl.-Ing. für Landespflege, Flora und Vegetationskunde und zählt zu den bekanntesten Experten für Botanik in Deutschland. Nach dem Abitur absolvierte er eine Ausbildung zum Landschaftsgärtner, bevor er sich dem Studium der Landespflege in Hannover widmete. Lange Zeit war er als selbständiger Landespfleger und Chef-Pflanzenkartierer tätig. Heute lebt er in Bremen.Mehr über den Autor erfahren Sie unter: www.juergen-feder.dewww.facebook.com/Extrembotanikerwww.youtube.com/user/juergenfeder

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Leseprobe

Vorwort


«Wer eine dicke Nase hat, ist träge wie ein Ochse», postulierte Aristoteles in seiner Physiognomik. Sie diente mehr als zwei Jahrtausende später noch Johann Caspar Lavater als Anregung für seine Physiognomischen Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe, eine Mustersammlung von Physiognomien berühmter Männer, die sich in der Nasenfrage zu der Aufforderung versteigt: «Oh, Ihr Fürsten! wenn Ihr Eure Männer wählt, seht Euch vor allem ihre Nasen an.»

Seit biblischen Zeiten, Salomon 30,33 bezeugt es, galt die Nase als zentraler Bestandteil der Physiognomie, wenn es um die charakterliche Beurteilung ihres Trägers ging. Denn alles in seinem Gesicht vermochte der Mensch zu schönen: durch gleisnerisches Lächeln den bösen Mund, durch hoch ausgezupfte Augenbrauen den Dolchblick, durch Allongeperücke und Puder den syphilitischen Ausschlag, der nicht eben auf sittlichen Lebenswandel schließen ließ. Nur an der Nase, diesem Gefüge aus Knochen und Knorpel, scheiterten alle Versuche des Kaschierens – die dyseptische rote Knolle verriet den Trunkenbold, die Sattelnase den Casanova im fortgeschrittenen Stadium der Syphilis. «Der Auswuchs bestätigt die Wurzel», lehrte Sokrates, selbst Besitzer einer derart unförmigen Nase, dass er – Menschenfreund, der er war – beim Hochzeitsgott der Griechen altruistisch Fürbitte leistete: «Gütiger Hymenäus, bewahre alle jungen Männer vor einem solchen ‹Schnitzwerk im Gesicht›.»

Quer durch die Jahrtausende haben Dichter, Denker und Wissenschaftler zu ergründen versucht, welche Bewandtnis es mit dem äußerlichen Antlitz hat und ob man daraus auf bestimmte Tugenden und Charaktereigenschaften eines Menschen schließen könne. So behauptete zum Beispiel Dr. med. Friedrich Schiller, gelernter Militärarzt und mit einem Vogelkopf auf kränkelndem Leib geschlagen, dass «körperliche Schönheit Ausdruck einer inneren Schönheit» sei.

Doch erst Lavater begründete die Lehre von der Physiognomik, der zufolge sich Charakter und Wesen eines Menschen aus seinem Gesicht ablesen ließen: Eine Hakennase beispielsweise machte ihren Träger als Erpresser oder gar Spion verdächtig, «der in sprungbereiter Lauer durchs Leben geht». Buschige Augenbrauen, wie etwa die von Theo Waigel oder Leonid Breschnew, sprachen für «Verschlagenheit und Hinterlist», eine hohe Stirn, wie sie Wolfgang Amadeus Mozart, Immanuel Kant oder Willy Brandt eigen war, signalisierte laut dieser Lehre ein «geräumiges Gehirn», dicke Backen wie bei Winston Churchill oder Nikita Sergejewitsch Chruschtschow «meist einen wüsten Lebenswandel». Den Staatsfeind hingegen verrieten «die großen Ohren und ein düsterer Blick». Volkstümlich wurde das dann so interpretiert: Wer wie ein Esel aussah, wurde für dumm gehalten, wer einem Fuchs ähnelte, der wurde als schlau befunden. Und was in diesem Zusammenhang während des «Dritten Reichs» in Deutschland geschah, sollte hier auch nicht vergessen werden.

Nun denn, hier soll es ja nicht um Menschen gehen, sondern um Pflanzen, doch auch bei ihnen bemühte man sich seit dem Altertum eine Physiognomik zu erstellen, sie verbreitete sich unter der Bezeichnung «Signaturenlehre». Dabei versuchte man von den äußeren Merkmalen einer Pflanze Rückschlüsse auf ihre Qualitäten und Kräfte zu ziehen. Würde man die Pflanzen nur genau beobachten, so die gängige Meinung, dann würden sie zu einem sprechen und einem verraten, was sie so alles in petto haben. Bei der Betrachtung hatte man besonders Farbe, Struktur, Standort, Wachstum, Lebensdauer, Charakter – ja, auch den Charakter – im Blick, um die «Zeichensprache» der Pflanze zu verstehen. Es ging bei diesem Verständnis aber nicht darum, herauszufinden, wie Pflanzen miteinander kommunizieren – auf diese Idee kam man nicht, so wie man lange Zeit auch nicht glaubte, dass Tiere Emotionen haben könnten –, der Mensch war ja das Wesen, das über allem steht, Gottes Krönung. Dabei wurden Pflanzen schon am dritten Tag von ihm geschaffen, Adam und Eva dagegen erst am sechsten. Das musste ja eine Bedeutung haben.

Aber Pflanzen konnte man essen und, ganz wichtig, Pflanzen konnten heilen, es kam nur auf die richtige Wahrnehmung an (ähnlich der psychologischen Deutung menschlicher Physiognomien). Hervor tat sich hier Paracelsus, der Arzt aus dem europäischen Mittelalter, der systematisch vorging und seine intuitiv gemachten Beobachtungen schriftlich niederlegte. Paracelsus war derjenige, der grundlegend die Verbindung zwischen Farbe und Form von Blüten, Blättern, Rinden, Wurzeln und Früchten und ihren Ähnlichkeiten mit menschlichen Organen und Körpersäften herstellte. Bodenbeschaffenheit, Geruch, Geschmack und auch die Pflanzengestalt ergänzten die Lehre von der Zeichensprache der Natur. «Folgt nicht Galen, nicht Rhazes, folgt nicht eurer Geldgier, nicht eurem Machthunger», postulierte Paracelsus, «euer einziger Schulmeister ist die Natur! Lauscht der Natur, und ihr werdet erkennen, was die Krankheit und was das Heilmittel sei!»

Ein sehr anschauliches Beispiel für die Signaturenlehre bietet der Gewöhnliche Natternkopf. So glaubte man früher an die heilende Wirkung des Natternkopfs bei Schlangenbissen. Denn schaut man sich die Blüte aus der Nähe genauer an, so erinnert sie an den Kopf einer Natter und der gespaltene Griffel an die Natternzunge. Die leberartige Form der Blätter des Leberblümchens wiederum war entscheidend dafür, dass diese Pflanze einst bei Leberleiden ausprobiert wurde. Und bei der Form der Walnuss kam nur ein Organ in Frage, das man damit behandeln könne: das Gehirn, die Ähnlichkeit ist nun wirklich nicht von der Hand zu weisen.

Heute weiß man, dass es bei der damaligen Volksmedizin viele Misserfolge gab, allerdings nicht nur. Nach der Signaturenlehre soll die Zwiebel der giftigen Herbst-Zeitlose eine Ähnlichkeit mit einer gichtkranken Zehe aufweisen. Als Medikament wird sie bei akuten Gichtanfällen genutzt. Ein entsprechender Wirkungsmechanismus wurde von der Wissenschaft bestätigt. Eine weitere, von der modernen Wissenschaft anerkannte Heilpflanze ist der Augentrost mit seinen augenähnlichen Blüten. Bei Bindehautentzündungen und Lidrandentzündung wird er auch heute noch wirkungsvoll eingesetzt.

Gerade in der heutigen Volksmedizin, der Naturheilkunde und Homöopathie spielt die Signaturenlehre noch oder auch wieder eine gewisse Rolle. So steht hier etwa der Bärlauch für Vitalität, Macht und Expansionsstreben, die Brennnessel für Wehrkraft, Willenskraft und Reinigung, das Echte Labkraut für Rückbesinnung auf die eigene Identität, Integrationsfähigkeit sowie Regenerationsvermögen, der Frauenmantel für Umhüllung, Behütung, Hervorbringung.

Gut. Aber so weit will ich mich hier gar nicht aus dem Fenster lehnen, ich habe kein umfangreiches philosophisches oder medizinisches Wissen, um die Signaturenlehre auf andere Füße zu stellen. Doch spannend ist dieses Vorgehen, Analogien zu ziehen. Ich bin so viel unterwegs in der Natur, schaue mir tagelang Landschaften und ihre pflanzlichen (und auch mal tierischen, ja menschlichen) Bewohner an, dass sich mir einfach Bilder und Vergleiche aufgedrängt haben. Permanent begegnen sie mir, die Eiferer, Stalker, Streber, die Ab-, Be-, Ver- und Wegdrängler. Allein dadurch, dass ich sie in ihrem Wuchs, in ihrem Verhalten beobachte und mir ihr Vorgehen bildhaft abrufe, fällt es mir leichter, sie zu behalten, auch ihre Namen, ihre Wuchsorte. Und mit vielen hatte ich in den letzten Jahrzehnten sogar oft hautengen Kontakt, und das bestimmt nicht immer positiv!

Das wird Ihnen nicht anders ergehen, wenn Sie Pflanzen nach menschlichen Maßstäben einteilen, nicht um sie zu anthropomorphisieren, sondern indem Sie diese Strategie wie ein Gedächtnistraining ansehen, bei dem Bilder für Zahlen stehen, also beispielsweise die Kerze für eine Eins und der Schwan für eine Zwei, und wenn Sie sich dann Geheimzahlen und PIN-Codes merken wollen, werden die Bilder mit Geschichten verknüpft: Wie ein Schwan einmal einer Kerze begegnete …

Und so sah ich auf meinen Touren unterwegs Angeber, Borderliner, Rebellen, Fanatiker, Freaks, Gaukler, Marktschreier, aufmüpfige und unterwürfige Typen. Allein, zu dritt, in Formationen, Heeren, Kolonnen, Pulks, Scharen und Verbänden – mal ganz offensichtlich, mal kryptisch oder ganz undercover. Doch in meiner Pflanzenbilderwelt ging ich noch weiter. Ich fragte mich: Wie wirken sie, was können sie, was machen sie mit einem? Da draußen, in der Natur, so weiß ich inzwischen, geht es glorreich, harmonisch, nobel, wacker und würdevoll, aber auch mal brutal zu. Wie fühlen sie sich an, diese Charakterpflanzen, was sind ihre Maschen und Methoden? So begegnen einem auf Schritt und Tritt Autisten, Diven, Fleischfresser, Giftmischer, Guerilleros, Kleingeister, Nervensägen, Parasiten (halbe und ganze), Parfumliebhaberinnen, Protestler, Provokateure, Schrullen, Stinker, Tadellöser, Tänzer, Würger und Zankheinis.

Seit jeher habe ich Spaß daran, mich in Pflanzen hineinzuversetzen, sie zu deuten: in die Zwerge und Raketen, in die Elitären und Mondänen, die Gewitzten und Spitzfindigen, die Betriebsamen und Genügsamen, in die, die anzüglich daherkommen, geziert und überheblich. Vielleicht ist das doch eine Signaturenlehre, eine alternative und wunderbar subjektive, die die Phantasie befeuert und nicht das medizinische Wissen. Da existieren Lebewesen, die sind auffallend, ausgefallen, einträchtig, fabelhaft, fragil, frivol, glorreich, krawallig. Pure Schönheit ist nie die Seele der Natur, das kann ich Ihnen jetzt schon versichern, in ihr muss alles einen Sinn ergeben, denn...

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